"Es ist eine säkulare Religion"

Dietrich Schulze-Marmeling im Gespräch mit Frank Meyer · 18.12.2009
Der Autor Dietrich Schulze-Marmeling blickt auf die Vereinsgründung von Borussia Dortmund vor 100 Jahren zurück. "Der Fußball war eine Möglichkeit, auch soziale, politische Erfolge zu erlangen", sagte Schulze-Marmeling.
Frank Meyer: Borussia Dortmund: Der Verein war oft ganz oben im deutschen Fußball, oft ist er aber auch grausam abgestürzt. Was dem Verein aber offenbar keiner nehmen kann, das ist die große Liebe der Fans.

Bei fast jedem Spiel sind 75.000 bis 80.000 Zuschauer im Westfalenstadion, das macht kein anderer Bundesligaverein Borussia Dortmund so leicht nach. Morgen wird dieser Verein 100 Jahre alt, und im Studio ist jetzt der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling. Er hat zusammen mit Gerd Kolbe den Prachtband "100 Jahre Borussia Dortmund" geschrieben.

Herr Schulze-Marmeling, lassen Sie uns mal gleich auf den Anfang dieses Vereins schauen. Der ist ja in einer Zeit entstanden, eben 1909, als Massen von Leuten in das Ruhrgebiet geströmt sind und dort neue Wurzeln schlagen mussten. Welche Rolle hat der Fußball damals gespielt bei dieser Suche nach einer neuen Heimat?

Dietrich Schulze-Marmeling: Ja, man kann das mal an Zahlen festmachen: Die Stadt Dortmund hat 1850 so unter 12.000 Einwohner gezählt, und im Jahr der Gründung von Borussia Dortmund, 1909, sind es dann schon 200.000. Und Borussia Dortmund ist ja entstanden im Umfeld des Hoesch-Werkes, des 1871 gegründeten Stahlwerkes Hoesch, und ich denke, der Fußball war eine Möglichkeit, für diese Neuankömmlinge in die hiesige Gesellschaft hineinzufinden, für sich eine eigene Identität zu entwickeln, war sicherlich auch Kompensation für die Härten des Arbeitsalltages, entweder im Stahlwerk oder unter Tage.

Also viele der Borussen haben ja auch unter Tage gearbeitet, also hat von da aus einfach eine ganz, ganz wichtige auch soziale, kulturelle Funktion erfüllt für diese Neuankömmlinge, so wie der Fußball es auch in vielen anderen Orten in Europa im Übrigen getan hat und auch heute noch tut.

Meyer: Borussia Dortmund wurde ja vor 100 Jahren aus einer katholischen Gemeinde heraus gegründet. Was hatten denn Fußball und Kirche damals miteinander zu tun?

Schulze-Marmeling: Ja, wobei die Geschichte von Borussia Dortmund in diesem Zusammenhang etwas aus der Reihe fällt, weil die Kirche hat damals vielerorts – in England besonders, aber auch in Deutschland – den Fußball zunächst gefördert, auch als sozialpolitische Maßnahme, um die Leute von der Straße zu holen, um sie abzuhalten von politisch-radikalen Ideen, um den Alkoholismus zu bekämpfen et cetera.

Und im Falle von Dortmund, Borussia Dortmund, ist das aber ziemlich anders verlaufen. Es ist so gewesen, dass für diese Neuankömmlinge aus Ost- und Westpreußen, aus Masuren, aus Schlesien, aus der Provinz Posen 1901 in der Hoesch-Stadt, also im Dortmunder Norden, eine neue Kirche gebaut wurde, eben die Dreifaltigkeitskirche.

Und es gab, 1901 wurde dann eine Jugendsolidarität gegründet, die auch ein außerkirchliches Angebot hatte, bestehend aus Theater, aus Musik und aus Sport, wobei man sich im Sport zunächst den braveren Disziplinen, so will ich es mal nennen, dem Turnen und der Leichtathletik gewidmet hat. Aber gut, man konnte sich der Konjunktur des Fußballs nichts entgegenstemmen.

Und diese Fußballgruppe ist immer mit dem zuständigen Kaplan, dem Kaplan Rupert Dewald aneinandergeraten. Da ging es zum einen darum, dass die Fußballspiele der Jugendlichen kollidierten mit der Gottesdienstordnung, es ging dem Dewald meines Erachtens aber auch darum, was nach diesem Fußballspiel passierte. Da traf man sich nämlich im Wirtshaus "Zum Wildschütz" in der Nähe des Borsigplatzes in der Nordstadt, und dann ging es in die dritte Halbzeit. Und gut, jeder Fußballer weiß, was die dritte Halbzeit bedeutet und …

Meyer: Erklären Sie es mal für Nichtfußballer ganz kurz.

Schulze-Marmeling: Na ja, da wird ein bisschen eben halt getrunken, und das ist, ja, eine ganz eigene kulturelle Zeremonie, so will ich es mal nennen.

Meyer: Und nicht so direkt religiös vertieft?

Schulze-Marmeling: Nein, nicht besonders religiös, ein bisschen wild, das mochte dieser Kaplan Dewald überhaupt nicht, und er konstruierte eben einen Zusammenhang zwischen diesem rohen Spiel Fußball – also im Kontrast auch zu Turnen und Leichtathletik in geordnetere Disziplinen – und dem, was sich dann im "Wildschütz" nach dem Spiel abspielte.

Und man hat sich dann schließlich am 19.12.1909 im Wirtshaus "Wildschütz" versammelt, um zu überlegen, was kann man weiter tun – sich von der Kirche eben abzukoppeln, einen eigenen Verein zu gründen. Es haben seinerzeit 50 Leute an dieser, ungefähr 50 Leute an dieser Versammlung teilgenommen. Der Dewald ist aufgetaucht, hat versucht, Zutritt zu dieser Versammlung zu bekommen, aber der Zutritt wurde ihm handgreiflich, also unter Anwendung körperlicher Gewalt könnte man sagen, verwehrt. Was einigen zu weit ging, die verließen dann diesen Versammlungsort, und 18 Leute blieben schließlich übrig und gründeten diesen Verein, Borussia Dortmund.

Meyer: Das war die Geburtsstunde, die morgen gefeiert werden kann, also 100 Jahre Borussia Dortmund, vom 19. Dezember 1909 ausgehend, und wie Sie es gerade beschrieben haben eben, eben als Akt der Abkopplung, der Emanzipation von der Kirche. Wenn man sich aber Ihr Buch jetzt anschaut, da sieht man auf dem Einband einen sonnengelben Strahlenkranz auf schwarzem Grund mit "BVB 09" im Zentrum.

Ein katholischer Kollege von mir sagte gleich: Aha, da ist ja das Allerheiligste, die Monstranz mit der Hostie, also dem Leib Jesu Christi in der Mitte. Man hat so den Eindruck, auch gerade durch Ihr Buch, Fußball in Dortmund ist eine Ersatzreligion, heute zumindest?

Schulze-Marmeling: Ja, das könnte man sagen. Also es ist eine säkulare Religion, so könnte man es nennen. Wenn man auf die Geschichte zugreift, es ist, letztendlich kann man diese ganze Szenerie so beschreiben, dass der Fußball seinerzeit, dass eine andere Form von Religion die herkömmliche Religion geschlagen hat, so nach dem Motto: Bei uns sind nicht nur unterm Rasen alle gleich, sondern auch auf dem Rasen, und das Glück, das können wir auch schon im Diesseits organisieren.

Das ist, glaube ich, was ganz Wichtiges, wenn man über die religiöse Funktion von Fußball redet und überlegt, worin besteht die Überlegenheit von Fußball gegenüber der Religion. Das ist genau dies, dass im Diesseits schon, speziell jetzt, was die Arbeiterschaft damals anbetraf, Glück, Zufriedenheit, Erfolg organisiert werden konnten, dass im Fußball reale Wunder passierten.

Und ganz wichtig fürs Ruhrgebiet: Der Fußball war eine Möglichkeit für die sogenannten Arbeitervereine, auch soziale, politische Erfolge zu erlangen.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden über 100 Jahre Borussia Dortmund. Am 19. Dezember 1909 wurde der Verein gegründet. Der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling hat ein Buch über diesen Verein veröffentlicht.

Sie waren gerade beim Thema Arbeiterverein, Herr Schulze-Marmeling, wie ist das denn heute? Heute ist Borussia Dortmund eine Aktiengesellschaft, also da wird Big Business gemacht. Ist denn von dieser Geschichte als Arbeiterverein da überhaupt noch was lebendig?

Schulze-Marmeling: Ja, wobei man auch die Geschichte betreffend immer einschränkend sagen muss, auch die BVB-Gründer betreffend, den klassischen Arbeiterverein gab es eigentlich nicht. Wenn man sich anschaut, was sind die Berufe dieser BVB-Gründer, die sind zwar fast samt und sonders Hoeschianer, aber sie sind im Angestelltenstatus. Heute ist es so, die hohe Zeit des Arbeitervereins im Ruhrgebiet sind eigentlich die Nachkriegsjahre, also wo auch die Masse der Zuschauer Arbeiter sind.

Bloß fällt die klassische Arbeiterschaft als Träger des professionellen Fußballs heute aus, weil es die in der Form ja gar nicht mehr gibt. Es gibt ihre Institutionen auch nicht mehr in der alten Form, es gibt ihre Strukturen nicht mehr in der alten Form, ergo musste sich der Fußball auch in solchen Regionen wie dem Ruhrgebiet nach neuen sozialen Trägern umschauen.

Und auch die Stadt Dortmund hat sich ja gewandelt, wobei diese Stadt Dortmund immer von der Stadt Gelsenkirchen auch unterschieden hat, dass sie nur Arbeiterstadt war. Das ist heute eine Dienstleistungsmetropole, das ist also eine sozial völlig diversifizierte Stadt, und entsprechend ist auch das Publikum von Borussia Dortmund. Also der alte Arbeiterverein, den gibt es nicht mehr, aber der Ethos des Arbeitervereins, den spürt man noch heute. Das ist eigentlich das Faszinierende auch an Dortmund, dass …

Meyer: Worin besteht der, dieser Ethos?

Schulze-Marmeling: Na, es ist so, was verlangt man von den Spielern? Also in Dortmund bleibt heute nach wie vor ganz wichtig, also auch für den Studenten, auch für den Angestellten, den im Dienstleistungssektor Tätigen, dass die Mannschaft kämpft. Also was man dort überhaupt nicht haben kann, ist so dieses Gefühl, die lassen dich da hängen oder die wirken etwas überheblich, die spielen ihren Streifen dort nur so runter – da reagiert man sehr empfindlich drauf.

Und das hat sich so auch in den Familien Dortmunds vererbt. Also wenn der sagen wir der Großvater noch unter Tage gearbeitet hat und der Enkel, der arbeitet heute irgendwie bei eine Versicherung, dann wird er diesen Ethos trotzdem noch weiter pflegen.

Meyer: Wenn wir jetzt in der Gegenwart ankommen, im Moment steht Borussia Dortmund ich glaube auf dem sechsten Platz. Borussia Dortmund war sechsmal Deutscher Meister, oft aber auch ganz nach unten durchgereicht. Was meinen Sie denn, wann steht Borussia Dortmund mal wieder ganz oben?

Schulze-Marmeling: Ach, das ist schwierig zu sagen. Als Anhänger von Borussia Dortmund freue ich mich erst mal darüber, dass ich, Jahrgang 1956, bewusst, bewusst immerhin drei deutsche Meisterschaften mit ihnen in der Bundesliga miterlebt habe. Da geht es unserem Nachbarn westlich von uns, in Gelsenkirchen, ja schlechter.

Da liegt es ja nun schon sehr lange her, dass man einen Meistertitel gewonnen hat. Ich denke aber auch, diese 80.000, die sich heute dort einfinden, die hängen natürlich auch mit den Erfolgen in den 90er-Jahren ganz stark zusammen, auch wenn die mit einem hohen Schuldenberg bezahlt werden mussten.

Ich glaube – also ich bin sehr zufrieden mit dem momentanen Status. Wir haben einen tollen Trainer, der zu dieser Stadt passt, der ein unheimliches Standing in der Mannschaft und bei den Fans hat. Für mich ist dieser sechste Platz eigentlich über den Erwartungen dieser Saison.

Ich habe damit gerechnet, dass man eher ein bisschen schlechter abschneiden wird als letztes Jahr, weil man letztes Jahr vielleicht ein bisschen über seine Verhältnisse auch gespielt hat. Aber wir liegen, wenn ich richtig rechne, im Augenblick nur fünf Punkte hinter dem Ersten, und das ist etwas, was man gerade auch nach dem etwas verkorksten Saisonstart eigentlich erwarten konnte.

Gut, Sie haben die Frage gestellt: Wann werden wir wieder Meister? Ich weiß es nicht. Im Fußball ist alles möglich, aber Dortmund hat sicherlich noch ein bisschen mit seinen Erblasten, eben diesem Schuldenberg, zu kämpfen, und man, na ja, ich denke, wir werden noch paar Jährchen warten müssen.

Meyer: Aber Optimismus ist offenbar noch da, habe ich rausgehört?

Schulze-Marmeling: Ist ganz wichtig.

Meyer: Morgen wird der Fußballverein Borussia Dortmund 100 Jahre alt. Der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling hat zusammen mit Gerd Kolbe das Buch "100 Jahre Borussia Dortmund" geschrieben. Das ist ein großformatiger Prachtband mit vielen Bildern, 460 Seiten, erschienen im Verlag Die Werkstatt zum Preis von 44,90 Euro. Herr Schulze-Marmeling, vielen Dank für das Gespräch!

Schulze-Marmeling: Bitteschön!