"Es ist die Nabelschau eines bedeutenden alten Mannes"

Tilman Jens im Gespräch mit Susanne Führer |
Der Artikel des Pädagogen Hartmut von Hentig in der "Zeit" sei "ein Egotext", mit dem von Hentig versuche, sich aus der Geschichte herauszuwinden, sagt der Publizist und Ex-Schüler der Odenwaldschule, Tilman Jens, vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals an dem hessischen Internat.
Susanne Führer: Seit 1998 ist bekannt, dass Lehrer der Odenwaldschule ihre Schüler missbraucht hatten. Zu einem großen medialen Thema ist es aber erst in diesen Wochen geworden. Im Mittelpunkt der Berichterstattung steht Gerold Becker, der sich während seiner Zeit als Schulleiter von 1972 bis 1985 an seinen Schülern vergangen haben soll. Gerold Becker ist der Lebensgefährte, der Freund des renommierten Pädagogen Hartmut von Hentig. Mehrere Journalisten spekulierten, dass von Hentig gewusst haben müsse, was sich in der Odenwaldschule abspielte, schließlich habe er seinen Freund Becker dort häufig besucht. Immer wieder wurde von Hentig, da Gerold Becker selbst nämlich schwer krank ist, also immer wieder wurde von Hentig zu einer Stellungnahme aufgefordert. Und die hat er nun abgegeben. Gestern erschien sie in der "Zeit" unter dem Titel "Was habe ich damit zu tun?". Diese Überschrift stammt wahrscheinlich nicht von ihm, er selbst aber stellt die Frage mehrfach in dem Text und schreibt, er habe von den Übergriffen Beckers nichts gewusst. Der Publizist Tilman Jens ist ein ehemaliger Schüler des Odenwaldinternats und uns jetzt aus Frankfurt am Main zugeschaltet. Guten Tag, Herr Jens!

Tilman Jens: Guten Tag!

Führer: Wie haben Sie den Text von Hentigs gelesen?

Jens: Zwiespältig. Ich verstehe den Mitteilungsdrang, auch zu sagen, ich habe damit nichts zu tun, ich habe es nicht gewusst, weist es mir nach, wenn es anders ist. Denn in der Tat, das, was jetzt so an Gerüchten hochbrodelt – es wird immer mehr, immer grausamer, es werden Hochrechnungen bizarrster Art angestellt –, dass er sich dagegen verwahrt, kann ich verstehen. Auf der anderen Seite, so ein langes Stück, was er da schreibt …

Führer: Eine ganze Seite.

Jens: Eine ganze Seite … da ist nichts sozusagen von dem Entsetzen – ich meine, er kennt die Odenwaldschule, er war da, in welcher Funktion auch immer. Er äußert sich eigentlich nicht. Er sagt, ja gut, ich bin gegen Verhältnisse von Zöglingen und Erziehern. Aber dann kommen da so Sachen durch, also Becker habe gesagt, er hätte seine Schüler mit freundlichen Berührungen geweckt. Also dass er dem das, seinem alten Freund, Kumpan, Lebensgefährten nicht um die Ohren haut – bei aller Solidarität –, ich finde hinten diesen letzten Satz sehr gut, er "bleibt mein Freund", völlig richtig. Also er ist nicht irgendwie jetzt das Monster, zu dem man ihn versucht zu machen. Aber ein bisschen genauere Fragen hätte ich mir schon gewünscht.

Führer: Man hätte sich ja vielleicht auch ein freundliches Wort für die Opfer erhofft, oder?

Jens: Eben. Es ist ein Egotext, es ist ein völlig ichbezogener, es ist der Versuch, sich aus der Geschichte rauszuziehen. Kann ich auf der einen Seite verstehen, auf der anderen Seite, ein klärendes Wort auch von ihm statt einem Lavieren. Es bleibt, an den entscheidenden Stellen bleibt der Text ungenau.

Führer: Na ja sein Thema ist ja vor allen Dingen, dass, ich zitiere "Tribunal der Medien, das über ihn abgehalten wird". Also von Hentig beklagt eine Sippenhaft, in die er für seinen Freund genommen wird.

Jens: Na ja, ich meine, er hat dazu zumindest Einiges beigetragen, denn er hat nie gesagt, dass der in der "Süddeutschen Zeitung" etwa falsch zitiert worden ist, als es hieß, wenn da etwas gewesen wäre, dann – so hat Hartmut von Hentig gesagt – sei Becker der Verführte, also die Opfer wären die Täter. Dass sich da massiver Widerspruch geregt hat, das finde ich völlig richtig.

Führer: Wo Sie diese Stelle zitieren, Herr Jens, es geht ja noch ein bisschen weiter. Ich zitiere mal zwei Sätze. Er schreibt: "Ich meine, in keinem Fall sollte es zu sexuellen Handlungen zwischen Erziehern und Zöglingen kommen. Passiert es, fragt sich der Freund verzweifelt, wie es dazu hat kommen können, und denkt sich etwas aus."

Jens: Ja, ist feuilletonistisch geschrieben, er laviert, er macht Girlanden. Er sagt auch …

Führer: Das bezog sich ja offenbar darauf, dass er sich dann ausgedacht hatte, die Schüler hätten seinen Freund verführt.

Jens: Ja gut, aber wie kommt er dazu? Also ich meine, das ist eine sehr merkwürdige Fantasie. Dass er auf der einen Seite sagt, natürlich, ich bin gegen diese Verhältnisse, gegen diese Beziehungen, aber ich habe natürlich dann meinem alten Freund geglaubt. Man muss sagen, das hat er gesagt. 1999 waren die Vorwürfe gegen Gerold Becker zum ersten Mal zeitungsöffentlich, presseöffentlich geworden.

Führer: In der "Frankfurter Rundschau", genau.

Jens: In der "Frankfurter Rundschau". Er hätte zehn Jahre, elf Jahre Zeit gehabt, der Sache etwas nachzugehen. Gerold Becker hat all seine Funktionen niedergelegt, kam dann so langsam wieder als Herausgeber, als pädagogischer Kenner, der er ja auch ist, aber auch ganz stark unter der Protektion von Hartmut von Hentig, nach oben etwa bei der neuen Sammlung. Also das ist alles in Ordnung, dass er etwas für seinen Freund tut, nur diejenigen, denen ja Leid geschehen ist, sonst hätte sich Gerold Becker ja auch nicht entschuldigt, das geht vorbei. Also es ist schon eine Nabelschau eines bedeutenden alten Mannes.

Führer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Tilman Jens über den sexuellen Missbrauch an der Odenwaldschule und auch die mediale Berichterstattung darüber. Herr Jens, Sie haben es gerade eingeflochten: 1999 wurde das zum ersten Mal bekannt, da stand ein Artikel in der "Frankfurter Rundschau", und niemand hat reagiert, also wir alle nicht muss man mal sagen, auch die Medien nicht.

Jens: Schon, ich meine, die "Frankfurter Rundschau", er musste zurücktreten, man hat gesagt, na ja gut, er ist ja weg, und man wollte Gerold Becker, wir wollten Gerold Becker nicht weiter beschädigen. Da war auch bei uns als Schülern bei den allermeisten eine Bereitschaft wegzugucken, weil Gerold Becker schon ein einmaliger Pädagoge – ich habe bei ihm Abitur gemacht in Pädagogikspsychologie, ich war auch empört, dass diese Altschüler nun dieses Denkmal partout stürzen wollen. Also weil ich verdanke ihm eine glückliche Schulzeit. Tübingen, Uhland-Gymnasium war der Horror, ein verstaubtes humanistisches Gymnasium, und auf einmal saßen wir da und lasen philosophische Texte, erhitzten uns über Faschismustheorien, saßen endlos so zusammen – so entsteht natürlich auch Nähe.

Führer: Als Sie auf der Schule waren, haben Sie jetzt Anfang der Woche in einem "Spiegel"-Artikel geschrieben, da wussten Sie auch davon, was dort los war. Sie schreiben, "auch ich wusste um dessen" (also Beckers) "Duschorgien mit seinen ihm anvertrauten Kindern", und fragen da auch immer wieder, warum hat eigentlich damals niemand etwas gesagt, als Sie auf der Schule waren. Wie lautet Ihre Antwort heute?

Jens: Wir waren so mit uns selbst beschäftigt, wir feierten ein Stück Revolte, ein Stück Freiheit. Wir hatten die Sensibilität nicht, wir sahen das als Teil eines großen Experiments. Also ich meine, hätten wir gewusst, was etwa – ich denke, das war das eigentliche Schwein, dieser Musiklehrer, der wirklich dann mit den Knaben da in Urlaub gefahren ist und diese Knaben dann auch an irgendwelche Freunde weitergereicht hat –, also wenn wir das gewusst hätten, wären wir, glaube ich, schon nach vorne gegangen. Aber wir wollten unsere Augen auch nicht aufmachen, dazu war es zu schön da. Man kann nicht sagen, das war ein Sündenpfuhl. Ich meine, jetzt geht es ja beinahe so weit, dass man sagt, diese Schule war ein einziger Puff, das ist natürlich absurd. Es war ein explosives Gemisch von Nähe, Aufbruch, von Arbeiten – es wurde ja unglaublich viel gearbeitet da – und von gemeinsamem Feiern dann auch. Und es war ein anderer Lehrertypus. Der Lehrer war nicht der Schulmeister, der Züchtiger, in Tübingen saß ich Stunden im Rektorat und habe Rektoratsarrest abgebrummt, nein, der Lehrer war der Freund. Da verwischten dann die Grenzen. Ich denke, auch so mancher Lehrer hat nicht gewusst, was er damals getan hat, und ich denke, mancher schaut da nicht sehr gerne zurück.

Führer: Was hat sich geändert? Damals haben alle geschwiegen und heute sprechen alle.

Jens: Es gibt eine größere Sensibilisierung für das Thema Missbrauch, auch über die Spätfolgen wissen wir heute mehr, also dass es wirklich traumatisierte Leute gibt. Also wenn Sie in der "Frankfurter Rundschau" Adrian Koerfer lesen, dann wird einem schon anders. Er sagt, ich kann keine Nähe mehr zulassen – sagt dieser Mann, den ich aus der Schulzeit ganz gut kenne. Da ist Einiges an Sensibilisierung. Aber natürlich stecken hinter dieser Debatte bei allem Aufklärungswillen auch noch andere Mechanismen. Also zum einen denke ich, die katholische Kirche ist schwer in die Schlagzeilen gekommen, die evangelische auch, aber die katholische nun noch stärker, für die ist das natürlich etwas sehr "Befreiendes" in Anführungsstrichen …

Führer: Andere haben es auch gemacht.

Jens: Dass sie sagen, na bitte, die Liberalen doch auch. Es ist ein gesellschaftliches Problem, nach Möglichkeit noch Folge von 68, wie der eine oder andere Bischof sagt, also kann man von sich selber den eigenen systematischen Schandtaten irgendwo ablenken.

Führer: Aber diese doch teilweise auch ein bisschen unseriöse Berichterstattung – ich meine, Hartmut von Hentig hat ja an einigen Stellen, wo er beschreibt, wie er falsch zitiert worden ist, wenn man ihm das erst mal glaubt, ja doch recht, und man hat auch den Eindruck, er verteidigt sozusagen verzweifelt auch sein Lebenswerk. Man kann auch den Eindruck gewinnen, dass hier vielleicht auch ein bisschen ein ganz anderer Streit noch ausgetragen wird. Sie haben gerade die katholische Kirche erwähnt, aber mal abgesehen von der Kirche kann man ja auch feststellen, der Zeitgeist hat sich ja auch verdammt gewandelt. Heute heißen die Erziehungsratgeber "Kinder brauchen Grenzen", vom "Lob der Disziplin" und so weiter.

Jens: Na klar.

Führer: Das heißt, manche tragen hier die Reformpädagogik vielleicht auch ganz gern gleich komplett mit zu Grabe?

Jens: Da stimme ich Ihnen sehr zu. Das ist für viele ein sehr gelegener Anlass. Also in der Tat, heute heißen die Bestseller nicht mehr "Summerhill" oder "Das kleine rote Schülerbuch" – ich entsinne mich daran, das war wie so eine Bibel für uns –, sondern Bernhard Bueb, der ja auch mal Lehrer auf der Odenwaldschule war, dessen Disziplinplädoyer eisern, der ist stolz darauf, Deutschlands strengster Lehrer zu sein. Also, es tut dieser Gruppierung, glaube ich, ganz wohl, dass die sagen, na ja gut, hier ist das Sündenpfuhl, Odenwald weltabgeschieden, es ist ein gefährliches Idyll. Und da werden dann Pädagogen, die gefehlt haben, die Unverantwortliches getan haben, zu Monstern aufgeblasen, und dagegen muss man sich verwahren. Und diesem Satz von Hartmut von Hentig, dem stimme ich zu, ich finde, der ist der einzige Satz, der auch wirklich mutig ist, wenn er am Schluss sagt: Ein Letztes: "Mein Freund bleibt mein Freund". Gerold Becker hat auch Verdienste. Und ich wünsche mir natürlich, dass es irgendeine Möglichkeit gäbe, und sei es, über ein Schaltgespräch noch einmal ins Gespräch zu kommen, einen Diskurs zwischen Zeugen, zwischen Beteiligten, Opfern und Tätern, wenn man sie so nennen will – man muss sie wohl so nennen – herbeizuführen. Ich finde, das ist besser, als mit verzweifelten Aktionen etwa Hausverbot, die jetzt irgendwie acht Pädagogen haben, die Sache lösen zu wollen. Das führt uns nicht weiter.

Führer: Die ohnehin 80 sind und wahrscheinlich …

Jens: 70- bis 80-jährige Leute, also es ist …

Führer: … gar nicht mehr so häufig in die Schule kommen.

Jens: Es ist gaga. Man will ein Exempel statuieren, um auch natürlich nach außen zu zeigen, wir greifen jetzt durch. Das wäre ein Jammer, wenn die Odenwaldschule wegen dieser Geschichte eine Schule ohne Nähe würde. Ich finde, man muss ganz klare Grenzen setzen, es muss diesen Ehrenkodex geben: Ein Lehrer hat an den Geschlechtsteilen seiner Schüler partout nichts zu suchen. Nähe muss es geben, und Nähe muss man auch zulassen, auch das Knistern – natürlich knistert das, wenn da ein 30-jähriger Lehrer und eine 17-jährige Schülerin ganz intensiv diskutieren, nur: Es muss eine Grenze geben, klar. Aber der Freiraum muss bleiben.

Führer: Der Publizist und ehemalige Schüler des Odenwaldinternats, Tilman Jens, im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Ich danke Ihnen herzlich, Herr Jens!

Jens: Danke Ihnen!
Mehr zum Thema