"Es gibt Tausende, die ihren Müller haben"

Moderation: Vladimir Balzer · 30.12.2005
Anlässlich des 10. Todestages von Heiner Müller wird am Berliner Ensemble Moritz von Uslars Stück "100 Fragen an Heiner Müller" uraufgeführt. Dafür habe er Menschen getroffen, die stellvertretend für Müller antworteten, sagte von Uslar. Insgesamt stünden sieben Personen auf der Bühne, die den Dramatiker verkörperten.
Balzer: Sie hörten Heiner Müller aus seinem Stück " Wolokolamsker Chaussee". Ein typischer Müller, wie es scheint. Viel Geschichte, viel Leid, glühende Sprache. Vor zehn Jahren starb der Dichter. Er war gerade 66, und da hätte noch einiges kommen können, aber der Krebs hatte ihn besiegt. Am 30. Dezember 1995, vor zehn Jahren also, starb er, der Lyriker, Dramatiker, Witzeerzähler, Interviewgeber, Zigarrenraucher und Whiskeytrinker - und einer der auch im Ausland am meisten wahrgenommenen deutschen Theaterautoren nach dem Zweiten Weltkrieg. Zehn Jahre nach seinem Tod muss man aber konstatieren: Müller wird kaum mehr gespielt - oder doch? Moritz von Uslar, der Interviewer, der bekannt geworden ist mit seinen "100 Fragen" an Prominente im Magazin der "Süddeutschen". Der Kolumnist, Reporter und Theaterautor hat ein Stück geschrieben, in dem es nur um Heiner Müller geht. Heute Abend, an Müllers Todestag, wird es uraufgeführt an Müllers altem Theater, am Berliner Ensemble. Und Moritz von Uslar ist heute Morgen hier bei uns im Studio. Herzlich willkommen!

Uslar: Guten Morgen!

Balzer: Herr von Uslar, Ihre Interviews mit 100 zum Teil fiesen und meist irritierenden Fragen, die die Stars auch mal aus dem Konzept bringen, das sind Interviews mit lebenden Prominenten. Was ist eigentlich schwerer: 100 Fragen an einen Toten oder 100 Fragen an einen Lebenden?

Uslar: Ich finde tot gar nicht so schlecht, weil dadurch sozusagen ein Hauptmerkmal der "100 Fragen" noch mal deutlicher gemacht ist: Man kann mit diesen Leuten, die ich interviewt habe, eigentlich keine Gespräche mehr führen. Bisher, weil sie schon so viel gequatscht haben und so viel vorkommen in der Öffentlichkeit, dass eigentlich schon alles gesagt ist. Wenn ich jetzt einen Toten interviewt habe, dann haben wir gar nicht so andere Bedingungen. Im Grunde genommen sind es noch mal, ja, auf die Spitze getrieben, die Bedingungen, ja?

Balzer: Aber Sie sind jedenfalls mitverantwortlich für die Antworten - bei den Toten?

Uslar: Insofern, als dass Heiner Müller eben selber nicht mehr antworten konnte und wir uns überlegt haben: Wenn er das also nicht mehr kann, wer kann das dann tun? Und eine Auswahl getroffen haben von Leuten, die ihn kannten, und mit denen gesprochen haben. Sie antworten also für ihn, teils als Heiner Müller in der ersten Person, teils in der dritten Person, was ganz reizvoll ist. Also es springt während der Antworten ganz bunt und irre hin und her. Und es ist eine Auswahl von Leuten, die eben mit ihm gearbeitet haben, aber zum Teil eben auch einfach von klugen Leuten, die was über Heiner Müller sagen können. Das ...

Balzer: Was sind das für kluge Leute?

Uslar: Ja, ich nenne mal einfach welche: zum Beispiel die kluge und tolle Schriftstellerin Katja Lange-Müller oder der kluge und gute Verleger Helge Malchow oder …, ja, der Regisseur Stephan Suschke.

Balzer: … der auch mit Heiner Müller am Berliner Ensemble zusammengearbeitet hat.

Uslar: Genau. Wir haben uns irgendwie den Spaß erlaubt - und ich finde es eben wirklich einen guten Spaß -, die ganz Naheliegenden - Martin Wuttke, Ulrich Mühe - nicht zu fragen. Weiß ich nicht, ja ...

Balzer: Weil die ihn zu sehr mochten, oder?

Uslar: Nee, das ist gar nicht das Problem, zu sehr mögen oder nicht mögen, sondern es ist einfach der Fall, dass ich finde, dass diese zwei Herren an so viel Stellen so viel Kluges und Wunderbares schon gesagt haben, dass es erfrischend ist, zu sagen: Die schweigen jetzt mal.

Balzer: Also ich habe Ihr Stück gelesen. Da sind sieben verschiedene Menschen, die da auftauchen, alle - zumindest in der Regieanweisung - sehen aus wie Heiner Müller. Es kann sogar mehr als sieben sein. Sieben Mal Heiner Müller, ist das nicht eigentlich ein bisschen viel?

Uslar: Ich finde sieben Mal Heiner Müller, gemessen an dem, wie oft und in wie viel verschiedenen Varianten er durch die Gegend geistert, noch überschaubar. Man muss dazu oder man kann dazu mal sagen: Heiner Müller hat ja mit jedem geredet - das ist zumindest die Überlieferung. Man kann vielleicht sagen, dass er wirklich so einer der unarrogantesten Großkünstler überhaupt war. Also der Mythos ist ja: Man kommt zu ihm hin, geht ihm auf die Schulter tippen und sagen: Ich hätte da zwei, drei interessante Sachen, die ich Sie fragen möchte, wie schaut's denn aus heute Nachmittag, und er hätte - wenn die Sympathie da ist - gesagt: Ja, das kriegen wir vielleicht hin. Und jeder war ja bester Freund von ihm. Also jeder konnte sagen: Ich habe aber eine ganz persönliche Sache mit ihm erlebt oder ein ganz besonderes Geständnis von ihm gehört. Insofern gab es, also wenn nicht sogar sieben Müllers, eben zumindest Tausende - oder gibt es heute -, die ihren Müller hatten.

Balzer: Haben Sie ihn getroffen?

Uslar: Ich habe ihn nie getroffen. Nee, das ist vielleicht sogar gar nicht so eine schlechte Voraussetzung, um das zu schreiben, was geschrieben wurde.

Balzer: Was haben Sie denn am 30. Dezember 1995 gemacht, als Heiner Müller starb - da waren Sie 25?

Uslar: "Where were you when Müller died?"

Balzer: Genau.

Uslar: 25: Da saß ich ahnungslos in München und habe wahrscheinlich ein Bier getrunken.

Balzer: Also, es hat Sie nicht groß berührt, als Sie erfuhren, Heiner Müller ist tot? Damals.

Uslar: Ich würde sagen, das hat mich nicht berührt, weil ich einfach von meiner Biografie her der bin, der sich diesen Menschen erarbeiten muss. Und wenn er das nicht tut, dann berührt es ihn auch nicht. Das heißt: Ich bin mit einer durchschnittlichen Westbiografie erst mal weit weg von ihm, wenn ich nicht ein Germanist oder ein passionierter Theatergänger bin oder jemand, der aufmerksam irgendwie die Debatten verfolgt hat in den letzten 30 Jahren. Also, wie gesagt, im Todesjahr Müllers war ich 25 und in München und hatte neben einem Deutsch-Leistungskurs, in dem er kurz vorkam, und einer Idee, wie der Mensch aussieht, und der Information, dass er irgendwie ein grauer, unterhaltsamer, kluger, böser Mann mit einer Whiskeyflasche in der Hand ist, keine Ahnung von ihm.

Balzer: Das klingt auch so ein bisschen danach, dass Heiner Müller auch als Person irgendwie Kult war. Man hat so den Eindruck - da ja die Stücke im Moment kaum gespielt werden -, dass seine Person sehr viel mehr Kult ist als seine Stücke?

Uslar: Na, das ist das gängige Lamento der Müller-Freunde: Er ist ja furchtbarerweise Kult und wir würden so gerne seine klugen, aber natürlich anstrengenden Stücke lieber sehen. Ich kann das nachvollziehen, aber ich bin natürlich nicht dafür zuständig - auch mit diesem Stück nicht, was wir jetzt über ihn geschrieben haben -, dass Heiner Müller als Dichter wieder in den Mittelpunkt rückt. Ich finde diesen ganzen Kult um ihn - so langweilig Kulte sind - sehr nachvollziehbar, weil er eben einer ist, mit dem man reden wollte. Und er wird in dieser Hinsicht vermisst. Also ganz simpel. Von ihm gibt es so einen von 100.000 tollen Sätzen, so weit ich ihn im Kopf habe, geht er etwa so: Das Leben ist für ihn ein Material und für ihn ist der Sozialismus - Zitat - "so interessant wie ein Gespräch in der Straßenbahn". Und jemand, der das so distanziert und gleichzeitig so aufmerksam betrachtet, mit dem will man natürlich reden und den vermisst man. Und daraus entsteht dann auch so ein Kult. Jemand, der eben wirklich noch einmal die große Übersicht wagt, der noch einmal die wirkliche Betrachtung von einer Distanz - man kann ja, glaube ich, sagen über ihn: Toll ist an ihm, dass er dieses Experiment - wie soll man es sagen, pathetisch? - Sozialismus mitgelebt hat und gleichzeitig eine Distanz gewahrt hat, das heißt diese Augurenposition gehalten hat des Betrachters. Das heißt, er musste sozusagen, er war sozusagen dazu verurteilt, nicht sich wohl zu fühlen in diesem Experiment.

Balzer: Aber warum interessiert das die Theater heute nicht mehr?

Uslar: Ich glaube, das hat so ganz, wie so biologische Ursachen. Ich glaube, nach dem Tod eines Autors - egal wie groß und wichtig er einmal war - braucht es eine Zeit, wo Leute auch einfach unbewusst oder bewusst sagen: Der jetzt nicht. Warten wir einfach mal. Also ich würde sagen, geben wir den Stücken - das klingt jetzt schon sehr so groß kulturpolitikerartig, aber ich sage den Satz jetzt trotzdem: Geben wir den Stücken doch ein wenig Zeit, warten wir doch, ob in 20 Jahren nicht ein "Philoktet" oder ein "Auftrag" gespielt wird, weil in diesen Stücken einfach was Grundsätzliches thematisiert wird - der Verrat in der Revolution und so weiter -, was über die Zeit hinaus von Interesse ist.

Balzer: Kann man denn bei Heiner Müller irgendetwas lernen, zum Beispiel über den modernen Kapitalismus, von dem ja viele sagen, er sei ein nomadisierender Kapitalismus mit explodierenden Renditevorstellungen. Jetzt wird irgendwie geredet in vielen Firmen von 15, 20 Prozent Rendite. Viele Leute werden entlassen. Das sind eigentlich schlechte Bilanzen, die dieses Jahr auch irgendwie gebracht hat. Kann man eigentlich bei Heiner Müller irgendetwas lernen, um diesen modernen Kapitalismus, wie wir ihn jetzt erleben, zu verstehen?

Uslar: Ja, ich glaube, das Lernen ist ein bisschen so zu eng gefasst. Da hätte er sich, glaube ich, auch schlapp gelacht und die Beine übereinander geschlagen und gelächelt und gesagt: Was wollen Sie denn lernen überhaupt? Also ich würde diese Frage jetzt im engeren Sinne mit Nein beantworten und sagen: Das ist ja das Wunderbare. Aber man kann eben selber irgendwie, man kann sicherlich vieles verstehen und besser begreifen selber. Also ich würde unbedingt sagen: Natürlich, ja. Das ist einer, der eben nicht - er hat zeitbezogene Stücke geschrieben, aber er hat eben gleichzeitig auch die großen Themen angesprochen, und die haben auch was mit dem Kapitalismus heute zu tun: Wie geht einer ... Einer will das Gute und baut Mist, ja? Das ist sozusagen, ganz platt gesagt, das Thema. Was doch Herr Ackermann auch immer ruft: Ich will das Gute, ich will das Gute, uns geht es doch wunderbar. Und man sagt: Nee, du bist ein böser Menschenentlasser, ein Hinrichter, eine Heuschrecke. Und er versteht ja, glaube ich, wirklich nicht, was er da tut. Und bei Heiner Müller hätte er etwas von der Tragik dieses armen Menschen selber lesen können, glaube ich schon, ja.

Balzer: Moritz von Uslar, ich habe zwar nicht geschafft, 100 Fragen an Sie zu stellen, aber ich glaube, ich ...

Uslar: Wie viele waren's?

Balzer: Ich habe gar nicht gezählt. Zehn vielleicht? Zwölf oder so?

Uslar: Gut. Bravo.

Balzer: Trotzdem, danke, dass Sie da waren, denn wir haben ja auch nicht ewig Zeit und Sie haben ja auch nicht ewig Zeit. Sie müssen jetzt, glaube ich, noch ins Theater, oder? Ins Berliner Ensemble, aufpassen, dass die Inszenierung richtig klappt?

Uslar: Nee, das tue ich gar nicht. Ich passe natürlich nicht auf. Ganz im Gegenteil, ich fahre jetzt zu meiner zauberhaften Freundin und meinem Kind zurück.

Balzer: Moritz von Uslar, danke, dass Sie bei uns waren! Heute Abend also Premiere seines Stücks über Heiner Müller, "100 Fragen an Heiner Müller", in der Regie von Philip Tiedemann, heute Abend im Berliner Ensemble. Und natürlich wird es auch eine Kritik bei uns geben zum Stück, direkt nachdem der Vorhang fällt, live ab 23 Uhr in unserer Sendung "Fazit".

Service:

Das Stück "100 Fragen an Heiner Müller" von Thomas Oberender und Moritz von Uslar hat am 30.12.2006 am Berliner Ensemble Premiere. Weitere Aufführungen finden am 7. und 19. Januar 2006 statt.
Mehr zum Thema