"Es gibt Situationen, in denen Eltern einfach machtlos sind"

Moderation: Dieter Kassel |
Die Journalistin Claudia Hempel hat für ihr Buch "Wenn Kinder rechtsextrem werden" mit mehreren betroffenen Müttern und einem Vater gesprochen. "Es gibt nicht das Patent, wie so ein Kind da reinrutscht", sagte Hempel zu diesem gesellschaftlichen Problem.
Dieter Kassel: Zwei Rechtsextreme haben in Templin im nördlichen Brandenburg einen 55-jährigen Mann zu Tode getreten und geprügelt und versucht, ihn anzuzünden. Die beiden sind 18 und 21 Jahre alt. Ein 19-jähriger Neonazi schlug in Hessen mit einem Spaten auf ein schlafendes Mädchen ein, das Mädchen schwebt jetzt in Lebensgefahr. Zwei Meldungen alleine aus den letzten Tagen, wir kennen diese Meldungen und leider ja noch sehr viel mehr, die uns regelmäßig erreichen. Wer aber sind diese Jugendlichen und, vor allem, aus welchen Elternhäusern kommen sie? Was ist da abgelaufen? Die Journalistin Claudia Hempel hat für ihr Buch "Wenn Kinder rechtsextrem werden" mit mehreren Müttern und mit einem Vater gesprochen, deren Kind oder Kinder ins rechtsextreme Milieu abgedriftet sind. Sie sitzt jetzt für uns im Studio in Dresden. Schönen guten Tag, Frau Hempel!

Claudia Hempel: Ja, guten Tag!

Kassel: Nach diesen Gesprächen – können Sie jetzt besser verstehen, warum so etwas passieren kann oder warum es passieren kann, dass Kinder in den Rechtsextremismus abdriften?

Hempel: Das kann ich auf jeden Fall besser verstehen, und ein ganz wichtiger Punkt ist: Bevor ich anfing, diese ganzen Recherchen zu dem Buch zu machen, hatte ich selbst so ein Klischee im Kopf. Wer ein rechtsradikales Kind hat, der hat selbst irgendwelche Leichen im Keller liegen, sprich, da ist irgendwas in der Familie schief gelaufen, die haben ihr Kind vernachlässigt, sie haben sich nicht genug drum gekümmert, sie sind möglicherweise sogar selbst rechtsextrem, die Eltern. Und da bin ich durch diese Recherchen, durch diese Gespräche mit diesen Müttern und dem einen Vater, sehr schnell auch dahintergekommen, dass dem einfach nicht so ist. Es gibt Momente und es gibt Situationen, wo Eltern einfach machtlos sind, wo ihnen ihr Kind entgleitet, was jenseits von irgendwelchen Erziehungs- und Beziehungsmodellen liegt.

Kassel: Was ist denn – um bei denen zu bleiben, mit denen Sie geredet haben und wo Sie dieses Bild bekommen haben –, was ist denn dann aber passiert? Es gibt ja sogar Fälle, die da beschrieben werden, da hat eine Mutter ja auch mehrere Kinder, und nicht alle, sondern eins davon wird dann rechtsradikal. Was passiert denn da?

Hempel: Das ist einfach ganz unterschiedlich. Es gibt nicht das Patent, wie so ein Kind da reinrutscht. Das sind Mädchen, die sich teilweise in Neonazis verlieben, dann in dieser Beziehung völlig aufgehen, damit den Eltern entgleiten. Da sind Jugendliche, die werden regelmäßig auf dem Schulhof von ihren Mitschülern, Mitschülerinnen verprügelt, bis sie dann endlich irgendwann einknicken und einfach mitmachen, um ihre Ruhe zu haben. Oder da gibt es einfach Strukturen, Dorfstrukturen, wo einfach eine kulturelle Hegemonie der Rechten ist und der eine Vater hat mir das dann auch so beschrieb, es gab einfach keine anderen in diesem Dorf, und die Alternative für meinen Sohn wäre gewesen, ganz alleine irgendwas in seinem Zimmer zu machen, oder einfach mitzumachen. Und dann rutschen die da so ganz langsam rein. Das sind so ganz unterschiedliche Geschichten.

Kassel: Das heißt, um auf das einzugehen, was Sie zum Schluss gesagt haben, diese nationalbefreiten Räume, von denen gerne die Rede ist, die gibt es wirklich?

Hempel: Die gibt es in einigen Gegenden bestimmt, ja.

Kassel: Die Schulen haben Sie erwähnt, und ich habe schon zur Überschrift ja auch gesagt, dass dieser Hilferuf oft nicht erhört wurde. Das findet sich in vielen Berichten der Mütter und auch dem Vater, und vor allen Dingen oft gab es Fälle, wo die dann zum Rektor gegangen sind an eine Schule, wo es eindeutig dieses Problem gab – Sie haben, Frau Hempel, gerade sogar gesagt, das ist oft der Ort, wo die Kinder zum ersten Mal mit so etwas in Berührung kamen –, und die Rektoren haben dann gesagt: Das gibt es nicht an meiner Schule. Ist also wirklich die Schule da ein ganz problematischer Ort?

Hempel: Ich denke, nicht nur die Schule, die Schule auf jeden Fall, aber ich denke, die Gesellschaft insgesamt. Als ich diese Geschichten gehört habe, ist mir so eines bewusst geworden: Hier versagen eindeutig zivilgesellschaftliche Strukturen. Das sind einerseits die professionellen Beratungsangebote, das sind aber auch die Schulen, auf jeden Fall. Das sind aber auch die Jugendämter und es sind einfach auch die Nachbarn. Mir ist es nach wie vor völlig unklar, wie Jugendliche mit einer gezückten Reichskriegsflagge durch eine Eigenheimsiedlung laufen können, ohne von jemandem scheinbar gesehen oder belästigt zu werden. Dieser Punkt war: In den Schulen passiert nichts, zu Hause passiert nichts, in den Eigenheimsiedlungen oder sonst wo passiert nichts. Es wird also den Jugendlichen ganz wenig Widerstand entgegengebracht. Da kam nie irgendwo der Punkt, dass sie irgendwo angesprochen wurden, "So geht das nicht", oder "Ich habe ein Problem damit". Sie agieren eigentlich in einem relativ schweigenden Raum und sehen das natürlich als unheimliche Bestätigung.

Kassel: Ist das Ignoranz, Angst oder schweigende Sympathie?

Hempel: Ich denke, das ist fast eine Mischung aus allem, wobei das natürlich unterschiedlich gewichtet ist. Es ist auch für die Eltern erst mal ganz schwer gewesen, das überhaupt zu erkennen. Ich habe dieses medial transportierte Bild von Rechtsextremisten, das sind diese dumpfen, parolenbrüllenden Glatzköpfe mit Springerstiefeln und diesen kraftprotzenden Ausdrücken. Und dann habe ich da mein Kind, zart, sensibel, intelligent, feinfühlig. Und das erst mal irgendwo ein Stück zusammenzubringen, da passiert bei den Eltern erst mal ein unheimlicher Verdrängungsprozess, das kann alles nicht sein, und das wiederum gepaart mit einer großen Portion Unwissen. Weil wenn das Kind langsam anfängt, rechtsextrem zu werden – bis es die Eltern dann tatsächlich gemerkt haben, sind im Schnitt zwei bis drei Jahre vergangen. Das hat einfach damit zu tun, dass die Eltern diese ganzen Zeichen, Codes und Symbole – die die Rechtsextremisten sehr wohl benutzen, um sich einfach gegen die andere Gesellschaft draußen abzugrenzen beziehungsweise um sich selbst auch zu erkennen –, dass die natürlich sowohl die Eltern nicht kennen, ganz oft nicht, Lehrer und Lehrerinnen nicht kennen, Jugendämter nicht kennen. Also da existiert ein ganz großer Raum, wo einfach auch ganz viel Unwissenheit da ist.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit der Journalistin Claudia Hempel über ihr Buch "Wenn Kinder rechtsextrem werden – Mütter erzählen", dieser Untertitel "Mütter erzählen" ist, sagen wir mal, etwas ungenau, weil es ja einen Vater gibt in Ihrem Buch, aber eben einen. Woran liegt das, dass sie doch mit relativ vielen Müttern ins Gespräch kommen konnten und fast nicht mit Vätern?

Hempel: Ja, das war ein Punkt, über den habe ich mich auch sehr gewundert, denn ich bin ja nicht explizit losgegangen und habe gesagt, ich will mich nur mit Müttern unterhalten, sondern ich hatte von Anfang an den Fokus, ich möchte mich mit den Eltern unterhalten. Und seltsamerweise landete ich dann immer in den Küchen oder auf den Sofas der Mütter. Die Väter sind teilweise sogar da gewesen, saßen irgendwo im Nachbarzimmer, haben das der Frau überlassen, oder waren im Garten und haben dort gearbeitet. Und bei all diesen Gesprächen habe ich dann festgestellt, dass Männer so zwei Bewältigungsstrategien haben. Entweder, sie fressen ihren Kummer, den sie tatsächlich dann auch haben mit dem Kind, völlig in sich rein und sehen da überhaupt keinen Sinn darin, dass irgendwie nach außen zu tragen geschweige denn mit einer Journalistin darüber zu sprechen. Oder es gibt das zweite Phänomen, wo sie einfach das Problem an sich völlig bagatellisieren, so nach dem Motto, ach, ich war früher auch mal ein ganz wilder Kerl, ich habe da ganz wilde Dinge getrieben, das wächst sich schon aus – und wo die Mütter einfach viel feinfühliger sind und viel sensibler darauf reagieren und sagen, du, das ist was völlig anderes, das kannst du einfach nicht jetzt als pubertäres Problem abtun. Und das sind so die zwei Verhaltensmuster, die ich so für Männer gefunden habe, während Frauen sehr oft einfach damit nach außen gehen und endlich irgendwann mal darüber reden müssen, weil es scheinbar ja niemanden gibt, mit dem sie darüber reden können.

Kassel: Ist auch das Teil des Problems, Sie haben es ja schon gesagt und das kam mir beim Lesen auch sofort so vor . Das sind doch sehr unterschiedliche Fälle, die Sie da protokollieren, das sollte man vielleicht kurz erklären. Sie geben das in Ihrem Buch nicht als Gespräch wider, sondern nach einer kurzen Einführung gibt es eine Art Monolog dann der Mütter und dieses einen Vaters. Ist das auch Teil des Problems, dass doch oft in irgendeiner Form die Väter fehlen, in ein, zwei Fällen auch praktisch, da wohnen die einfach nicht mehr mit im Haushalt, in anderen Fällen tun sie es schon, aber die kommen immer nicht vor? Auch da, wo eine Mutter immerhin versucht, noch einzuwirken auf den Jungen, auf die Tochter, da kommt der Vater immer nicht vor.

Hempel: Ich glaube, das wäre zu einfach gegriffen, einfach, weil das genau der Ball ist, den die Mütter schon von den Jugendämtern zurückgespielt bekommen haben, als sie sich dort auf der Suche nach Hilfe an das Jugendamt gewandt haben, wo ihnen dann gesagt wurde: Ist ja kein Wunder, dass Ihr Sohn rechtsextrem ist, wenn Sie geschieden sind. Und das ist erstens unfair diesen Müttern gegenüber, und zweitens einfach zu einfach gedacht, weil das würde bedeuten, dass jedes Kind, was ohne Vater irgendwo aufwächst, wird automatisch rechtsextrem. Und dass es nicht so ist, das wissen wir ja.

Kassel: Hat es bei den Kindern und manchmal auch bei den Eltern was mit mangelndem Wissen zu tun? Ich meine, wir haben viel darüber jetzt gehört, dass in Bayern nun die Geschichtsstunden, was die Behandlung des Nationalsozialismus angeht, zusammengestrichen wurden. Wir haben – das ist etwas anderes, aber auch da fehlt ja was – über die Untersuchung gehört, dass das Wissen über die DDR so gering ist, auch in den Ost-Bundesländern. Hat es sowohl bei den Kindern als auch manchmal bei den Eltern was damit zu tun, dass die trotz der teilweise ja massiven Berichterstattung doch nicht so viel wissen über die NS-Zeit?

Hempel: Ich denke, das Problem liegt darin: Sie wissen sehr, sehr viel und sehr viele Details. Das ist auch oft bei den Eltern der erste Moment, wo sie so hellhörig werden, wenn plötzlich ihr Sohn oder die Tochter mit 12 oder 13 anfängt, winzigste Details aus der jüngeren Geschichte von 44, von 43 zu erzählen, das war doch nicht so, da war der und der, wo sie dann plötzlich hellhörig werden. Das ist auch die ganze Argumentationsstruktur, das ist nicht mein Kind, das kann es ja auch nicht aus der Schule mitbekommen haben. Und das war dann meist so ein Moment, wo es eigentlich schon fast zu spät war. Da war das Kind einfach schon ein paar Jahre dabei, dann haben es die Eltern erst gemerkt, weil sich plötzlich was verändert hat. Ich denke, mit Nicht-Wissen hat es wenig zu tun. Nicht-Wissen auf jeden Fall vonseiten der Eltern, was eben diese Symbole und Codes angeht, weil viele Eltern wissen einfach nicht, was ist denn nun eine Seekrone, was ist denn eine Wolfsangel, was bedeuten denn die ganzen Zahlencodes, was bedeutet es denn, wenn mein Sohn die und die Klamotten trägt? Und das ist einfach so ein Punkt, da sind viele Eltern erst viel zu spät aufgewacht.

Kassel: Gibt es denn überhaupt etwas, was sie tun können? In Ihrem Buch kommen ja alle drei Fälle vor, die, wo die Eltern einwirken und es nützt was, die, wo das Kind Nazi ist, auch zu diesem Moment jetzt, und die, wo es aus irgendwelchen anderen Gründen nicht mehr zur Szene gehört. Gibt es überhaupt ein Rezept, was Eltern tun können?

Hempel: Ich denke, es gibt so ein kleines Rezept. Jeder Fall ist natürlich verschieden, aber es gibt so eine Grundtendenz. Auf jeden Fall sollten Eltern schon ganz klar machen: Mit dem, was du denkst und was du tust, bin ich nicht einverstanden, und da gibt es auch nichts dran zu rütteln, und da werden wir uns auch nie auf irgendein Agreement einigen, aber du bist und bleibst mein Kind und du kannst jederzeit von mir Hilfe erwarten. Das Falscheste in dem Moment wäre, das Kind tatsächlich irgendwie rauszuschmeißen, was viele Eltern natürlich in ihrem ersten Reflex immer auf jeden Fall denken und wollen. Das haben mir ganz viele erzählt, ich wollte mein Kind ins Heim geben, ich wollte nicht mehr mit ihm reden, ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten, weil denn genau diese Reaktion würden den Rechten unheimlich in die Hände spielen. Die bauen sich nämlich ganz gern als Ersatzfamilie auf und würden dann in dem Moment danach auftreten, siehst du, selbst deine Eltern haben dich verstoßen, aber wir sind für dich da. Hier bei uns findest du Geborgenheit. Und das wird dann natürlich bei den Jugendlichen einfach dieses Gruppengefühl, was ja natürlich irgendwo so ganz doll da auch im Vordergrund steht, noch mal massiv verstärken, und es würde es noch viel, viel stärker machen. Und die Beispiele, wo die Jugendlichen wieder rausgekommen sind aus der Szene, zeigen auch, dass das Beispiele waren, wo die Eltern nie den Kontakt zum Kind abgebrochen haben, auch wenn das Kind dann ausgezogen ist, es war immer noch ein Kontakt da.

Kassel: Dankeschön. Die Journalistin Claudia Hempel war das, Ihr Buch heißt "Wenn Kinder rechtsextrem werden – Mütter erzählen", es ist im Zu Klampen Verlag erschienen und kostet 12,80 Euro. Frau Hempel, vielen Dank.

Hempel: Ich danke Ihnen auch.