"Es gibt sicherlich noch erhebliche Einsparpotenziale"

Michael Imhof im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 20.05.2009
In der Debatte um eine Priorisierung in der Patientenversorgung unterstützt der Medizingutachter und Chirurg Michael Imhof den Vorschlag von Ärztepräsident Hoppe. Imhof betonte zugleich, die Einführung einer Rangliste in der Versorgung von Kranken dürfe nicht dazu führen, dass alte Menschen kein neues Hüftgelenk mehr bekämen.
Matthias Hanselmann: Gestern hat in Mainz der Deutsche Ärztetag begonnen, die jährliche Hauptversammlung der Bundesärztekammer. Bis übermorgen wird dort über den Zustand der Gesundheitsversorgung in unserem Land diskutiert, zum Beispiel: Müssen die Praxisgebühren erhöht werden? Werden wir eine Zusatzversicherung brauchen, um im Krankenhaus aus Zeitmangel nicht vorzeitig entlassen zu werden? Gehen wir wirklich zu oft zum Arzt? Warum bekommen Ärzte für Patientengespräche so gut wie kein Geld? Fragen über Fragen, die vor allem eines deutlich machen: Sie reicht offenbar in der heutigen Form nicht aus – die Versorgung der deutschen Patienten. Wir haben eine hoch entwickelte Apparatemedizin auf der einen und zu wenig Zeit für die Patienten auf der anderen Seite. Wir sprechen mit Michael Imhof. Er ist Medizingutachter, Chirurg mit Praxis in Würzburg und Autor des Buches "Operation Gesundheit. Über Risiken und Nebenwirkungen der modernen Medizin". Guten Tag, Herr Imhof!

Michael Imhof: Guten Tag!

Hanselmann: Herr Imhof, es wird immer wieder beklagt, dass der Patient mehr und mehr zum Objekt wird, zur Sache. Es ist zu wenig Zeit für ihn da, er wird sozusagen gescannt, behandelt so gut es geht und dann viel zu oft zu schnell wieder entlassen. Das heißt, noch nicht wieder gesund und schon rausgesetzt. Die Zahl soll enorm sein. 85 Prozent der Kollegen in den Krankenhäusern, so Rudolf Henke von der Gewerkschaft Marburger Bund, sagen, die Zeit für die Patienten reiche hinten und vorne nicht mehr aus. Warum ist das so und wo könnte eine Alternative liegen?

Imhof: Es sind ja mittlerweile in den Krankenhäusern diese diagnosebezogenen Fallpauschalen eingeführt worden. Das bedeutet, dass die Krankenhäuser in der entsprechenden Zeit, im gleichen Zeitraum möglichst viele Patienten durchschleusen müssen. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass immer weniger Zeit für die Patienten zur Verfügung steht, weil ja hinter allem die Kostenfrage steht. Wir haben in Deutschland große Effizienzanstrengungen unternommen, und wenn ich vergleiche, dass in den 70er-Jahren etwa die stationäre Behandlungsdauer 18 Tage betragen hat und dass wir mittlerweile auf acht Tage heruntergekommen sind, dann sind das ganz gewaltige Steigerungen der Effizienz, die unser System erbracht hat. Dass das ganz ohne Belastungen der Patienten ausgehen sollte, das liegt natürlich auf der Hand. Und hier ist das Stichwort der "blutigen Entlassung", was wir immer öfter beobachten müssen, dass Patienten vorschnell entlassen werden, ohne dass der Heilverlauf gesichert ist, das nach häufig komplizierten Operationen. Und diese Patienten müssen dann wieder aufgenommen werden und neu behandelt werden.

Hanselmann: Weniger Arztbesuche werden jetzt gefordert, aktuell auch auf dem Ärztetag. Die Deutschen sind nicht öfter krank als Menschen in anderen vergleichbaren Ländern, aber sie gehen öfter zum Arzt. Liegt hier eine Einsparmöglichkeit?

Imhof: Möglicherweise. Ich möchte den Deutschen nicht den Arztbesuch nehmen, um Gottes Willen. Nach meinem Dafürhalten ist es auch ein typisch deutsches Mentalitätsproblem. Der Deutsche liebt eben die Sicherheit. Es gibt sicherlich noch erhebliche Einsparpotenziale, wenn ich daran denke, die überflüssigen Röntgenuntersuchungen. Deutschland ist ein Land mit einer sehr hohen Dichte an technischen Apparaten, Computertomografen, Kernspintomografen. Wir machen die meisten Herzkatheteruntersuchungen, ganz zu schweigen von, wie ich meine, überflüssigen Operationen im Bereich der Gelenke. Da gibt es Studien. Da sind sicherlich noch Einsparpotenziale da, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite gilt es aber zu bedenken, dass der technische Fortschritt so rasant voranschreitet, dass er eben nicht zum Nulltarif zu haben ist. Und auf dem jüngsten Chirurgenkongress, der vor drei Wochen abgehalten wurde, hat der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, ein sehr verdienstvoller Mann, Professor Bauer, ausgesagt, dass ja schon eine implizite Rationierung vorliegt. Zum Beispiel ist die Zeit rationiert, die Zeit, die Ärzte und das Pflegepersonal für Patienten haben. Mit das Wichtigste, was es im Arzt-Patienten-Verhältnis überhaupt gibt. Also es gibt schon implizierte Rationierungen. Oder zum Beispiel, dass Patienten abgelehnt werden, die vom Hausarzt oder von niedergelassenen Ärzten den Krankenhäusern avisiert werden, dies mit dem Argument, dass die Intensivstationen voll sind. Und, und, und. Also es gibt implizite Rationierungen auf jeden Fall. Auf der anderen Seite ist jetzt das Stichwort der Priorisierung in die Diskussion gebracht worden …

Hanselmann: Wollte ich gerade danach fragen.

Imhof: … und nach meinem Dafürhalten sollte man in der gehörigen Art und Weise darüber reden, aber ohne die Leute …

Hanselmann: Wir sollten das kurz erklären, Herr Imhof. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Deutschen Bundesärztekammer, hat die Idee einer Prioritätenliste zur Diskussion gestellt, kurz gesagt: Menschen mit schweren Krankheiten sollen sofort behandelt werden, andere warten.

Imhof: Ja, Professor Hoppe ist nach meinem Dafürhalten ein untadeliger Mann. Und was diesen Mann umtreibt, ist die Sorge, dass die Schere zwischen dem, was technisch möglich ist an Gütern, die uns die moderne Medizin bieten kann, und dem, was auf der anderen Seite solidarisch finanziert werden kann, immer weiter auseinanderklafft. Das Gesundheitswesen vergleiche ich immer mit einem Tischtuch, an dem verschiedene Partner sitzen und an diesem Tischtuch reißen. Und heute besteht die Gefahr, dass dieses Tischtuch vielleicht zerreißen könnte, das wollen wir alle nicht. Und aus diesem Grunde gilt es zu bedenken, ob es vielleicht im Rahmen der Priorisierung Einsparpotenziale gäbe. Und das stellt man sich vor: Auf der einen Seite gibt es ja die akut lebenswichtigen Operationen und Behandlungen, wie zum Beispiel Tumoroperationen, Tumorbehandlungen, die absolut notwendig sind. Auf der anderen Seite bietet die Medizin natürlich Verfahrensweisen bei Erkrankungen, wo man noch nicht mal genau weiß, ob das Krankheiten im engeren Sinn sind. Stichwort zum Beispiel: bestimmte Krampfadern, Besenreiservarizen. Oder zum Beispiel, warum muss die Entfernung einer Tätowierung von der Krankenkasse bezahlt werden? Dann, wenn sie Komplikationen macht. Solche Punkte gilt es vorsichtig und mit der gebotenen Sensibilität voneinander abzuwägen. Und ich würde mich gegen alle Bestrebungen wenden, dass Patienten, die 80, 85 Jahre sind, eine schwere Arthrose haben im Hüft- und Kniegelenk, dass die kein Kunstgelenk mehr bekommen. Das darf Priorisierung natürlich nicht bedeuten.

Hanselmann: Vielleicht noch einmal zu dem Problem der Zeit, die die Ärzte eben nicht oder zu wenig für die Patienten haben. Es könnte doch sein, dass die Menschen in Deutschland deshalb öfter zum Arzt gehen, weil er jeweils nur extrem wenig Zeit für sie hat?

Imhof: Das glaube ich nicht. Ich glaube schon, dass es ein spezifisch deutsches Problem ist, was mit der Mentalität der Deutschen zusammenhängt. Die Deutschen sind ja auch sehr darauf bedacht, ihre Lebensrisiken möglichst abzusichern. Und aus diesem Grunde gehen die Deutschen nach meinem Dafürhalten öfter zum Arzt als andere. Es wäre schon an der Zeit, vielleicht in diesem Punkt die Menschen aufzuklären, dass man mit Kreuzschmerzen nicht jeden Monat zum Facharzt für Orthopädie gehen muss und nicht jeden Monat oder zweimal im Jahr eine kernspintomografische Untersuchung machen muss, um zu beobachten, ob ein Bandscheibenvorfall, der seit Jahren bekannt ist, möglicherweise etwas größer geworden ist.

Hanselmann: Und wie bekommen wir es letztlich hin, dass die Ärzte sich mal mehr Zeit nehmen können für ihre Patienten? Sollten sie dafür besser bezahlt werden?

Imhof: Krankenhausärzte, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen, sind weiß Gott nicht gut bezahlt. Aber die Sache der Ärzte ist eigentlich nie das Honorar gewesen. Die Ärzte greifen da auf eine Historie zurück, die bis auf Hippokrates reicht, und die ärztliche Behandlung ist mehr als Geld, ist mehr als Shareholder Value, ist mehr als Ökonomie, sondern ärztliches Handeln ist eine Kunst, die letzten Endes im zwischenmenschlichen Bereich spielt und die auch gar nicht zu bezahlen ist, weil ihre Grundlage die Humanität ist. Und Humanität muss nicht in Zeiten eines modernen Gesundheitswesens nicht mehr möglich sein, ganz im Gegenteil. Was Humanität ist, hat Cicero einmal sehr schön definiert, nämlich das ist die Menschenfreundlichkeit, das Menschen-Zugewandte. Und warum sollte das auch in der modernen Medizin nicht möglich sein?

Hanselmann: Das ist eine Forderung, die ich natürlich verstehen kann, die in den Bereich der ärztlichen Ethik gehört, aber wo bleibt sie denn, wo hat sie denn noch Platz heutzutage, wo hat sie denn noch Raum, die Humanität? Wie empfinden Sie das in Ihrem Kollegenkreis?

Imhof: Es gibt sie immer noch. Viele niedergelassene Ärzte draußen stehen nachts auf, um nach ihren Patienten zu schauen, und das wird ihnen nicht bezahlt. Humanes Handeln ist heutzutage, gerade unter den ökonomischen Diskussionen, denen wir momentan ausgesetzt sind, eben nicht unter die Räder gekommen. Humanes Handeln ist eben nicht abgewrackt worden. Auf der anderen Seite sehe ich natürlich die Gefahr, das liegt ja auf der Hand, dass unter zunehmenden ökonomischen Zwängen auf der einen Seite, zunehmenden administrativen Zugriffsmöglichkeiten auf den Arzt auf der anderen Seite natürlich die Humanität auf der Strecke bleiben kann. Das ist meine Befürchtung.

Hanselmann: Bis übermorgen läuft der diesjährige Deutsche Ärztetag in Mainz. Über Risiken und Nebenwirkungen der modernen Medizin haben wir gesprochen mit Dr. Michael Imhof, Mediziner und Buchautor in Würzburg. Vielen Dank!

Imhof: Vielen Dank!
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