"Es gibt Menschen, die Monströses machen"

15.08.2010
Baran bo Odars Romanverfilmung "Das letzte Schweigen" war gerade beim Filmfestival in Locarno zu sehen. Ein düsterer, verstörender Krimi, schreiben die Feuilletonisten, dem Sujet des pädophilen Kindsmordes entsprechend.
bo Odar: Ja, also einerseits hat mich natürlich dieser Plot interessiert, dass über so eine lange Zeit erneut ein Verbrechen passiert, aber am meisten hat mich interessiert, wie Menschen mit so einem Verlust umgehen und vor allem, wie Menschen sich verändern über 23 Jahre hinweg, wie es ja zum Beispiel Katrin Saß, die die Mutter von der damals umgebrachten Tochter spielt, wie sie damit umgeht. Das hat mich einfach zutiefst berührt im Roman, und daher wollte ich unbedingt daraus einen Film machen.

Karkowsky: Viele der handelnden Personen sind im Inneren beschädigt, jeder trägt seine eigene Macke meist deutlich sichtbar an der Oberfläche mit sich herum, und zwischendurch geistert es in Ihrem Film ja sogar ein bisschen wie in Christian Petzolds "Yella", da sieht man dann tote Mädchen. Wie genau konnten Sie sich denn da an die Romanvorlage halten? Sie sagen, das war es, was Sie begeistert hat, aber mussten Sie das, konnten Sie das eins zu eins umsetzen oder mussten Sie da noch dran arbeiten?

bo Odar: Also ich musste ein paar Sachen ändern, ich habe ja auch den Schluss geändert zum Roman – das war die einzige Bedingung, die ich dem Romanautor gestellt habe oder beziehungsweise drum gebeten habe, dass ich das ändern darf. Aber im Roman wird alles eigentlich angerissen, was es auch im Film gibt. Aber bewusst sage ich angerissen, weil zum Beispiel Katrin Saß' Rolle taucht dreimal auf im Roman, und ich wollte mehr von ihr erfahren, und daher hatte ich auch zu ihm gesagt, ich will unbedingt einen Ensemblefilm draus machen, und musste natürlich dann ein paar neue Szenen hinzufügen. Aber so den Grundkern, das lag schon alles vor im Roman.

Karkowsky: Und Ihnen ist die Psychologie und Physiologie der Figuren offenbar sehr wichtig. Wir sehen in langen Einstellungen, wie die Menschen leiden, man sieht an den Gesichtern, was dort passiert, und es ist relativ deutlich auch zu sehen – wie haben Sie das gemacht?

bo Odar: Das war von vornherein Konzept bei mir und dem Kameramann auch, also in einer Einstellung auf Dinge zu drehen, damit man tatsächlich, wahrhaftig diesen Moment erlebt von den Figuren, wie sie quasi mit ihrem Schmerz umgehen oder auch mit ihrer Wut.

Karkowsky: Wer im Film ist denn eigentlich glücklich? Doch eigentlich nur die naiven Frauen, oder? Eine schwangere Kommissarin und die Frau des Architekten, die keine Ahnung hat von seinem Nebenleben.

bo Odar: Ja, also so kann man das schon sehen, wobei ich nicht sagen würde, das sind die naiven Frauen, aber es sind – also ich bin ja ein Mann und ich habe einen Film auch über Männer gemacht, aber auch über Frauen, und bei mir sind eher die Männer fast die Opfer und die gebrochenen Figuren in dem Film als die Frauen an sich. Und ich würde sie wie gesagt nicht naiv bezeichnen, sondern sie glauben noch an das Gute. Aber auch bei ihnen wird das gebrochen und zerstört, eben durch das, was die Männer machen, weil die meisten Taten oder so etwas werden leider dann doch von Männern begangen.

Karkowsky: Die Männer als die Handelnden, ob Täter oder Opfer, es sind immer Männer in Aktion, die Frauen als Teilnahmslose, als Abwartende, als diejenigen, die quasi nur diejenigen sind, die auch nicht mal richtig reagieren auf die Taten ihrer Männer, sondern die einfach nur dastehen. Wie kommt dieses Männer-Frauen-Bild zustande?

bo Odar: Ich finde ja, sie handeln quasi, wenn der Film aus ist – so sehe ich die Frauenfiguren in meinem Film. Sie kehren quasi die Scherben auf, die am Boden liegen, weil die Männer in dem Film Dinge tun, die entweder Katastrophen hervorrufen oder Dinge kaputtmachen, und dadurch sind sie vielleicht nicht unbedingt Täter im Film, aber sie sind Heilerinnen.

Karkowsky: Gilt das, was Sie sagen, dass die Männer Opfer sind, denn auch für die Pädophilen?

bo Odar: Ja, also ich werde da oft drüber gefragt auch. Natürlich, bei so einem Thema muss ich ja auch eine Haltung haben als Regisseur und die habe ich auch, und deswegen gibt es ja auch dieses Ende, was der Zuschauer ja selber noch anschauen soll. Für mich sind die Täter auch Opfer, und ich glaube immer sehr stark an den Satz, den zitiere ich auch immer öfters, dass ich nicht glaube, dass es Monster gibt, aber es gibt Menschen, die Monströses machen. Und ich glaube, es ist sehr, sehr wichtig zu verstehen in der Gesellschaft, dass eben Menschen, die Kindsmord betreiben, was etwas ganz, ganz Schreckliches ist, das sind immer Menschen, die so etwas tun, das sind keine Monster. Das sind Menschen, und das muss man begreifen. Und genauso musste man begreifen, ist vielleicht etwas weit hergeholt, aber dass der Nationalsozialismus auch und die Gräueltaten auch von Menschen begangen wurden und eben nicht von irgendwelchen Monstern. Und – ja.

Karkowsky: Sie wissen schon, dass wir da eine ähnliche Diskussion auslösen, wie es sie um "Der freie Wille" gab, wo dann halt erstmals auch der Vergewaltiger als Opfer dargestellt wurde?

bo Odar: Ja, total. Ich finde, deswegen gibt es ja auch, finde ich diesen Titel auch so treffen vom Roman, also aber auch vom Film, "Das letzte Schweigen". Ich denke, dass das Hauptproblem vor allem im Schweigen liegt, also sowohl auf Opferseite, aber genauso auf Täterseite, das nicht das Problem lösen wird, dass man anfängt zu reden, aber es ist der erste Schritt, der zu tun ist einfach auch, von einer Gesellschaft her gesehen.

Karkowsky: Sie haben auch diesen Film wieder in Cinemascope gedreht wie bereits Ihren ersten Langfilm "Unter der Sonne". Die Wahl der Bilder fand ich sehr gelungen, besonders natürlich der Schwenk über die Fertigbetongaragen und ihre gepflasterten Vorhöfe, aus einer Zeit, in der alles, was wuchs, irgendwie mit Steinen und Beton erdrückt werden musste, es ist die Zeit Ihrer Kindheit, und Symbole der Kleinstadt. Ist das Inszenieren der Bilder Ihrer eigenen Vergangenheit Therapie oder freudiges Erinnern?

bo Odar: Wahrscheinlich beides. Es ist sicher beides. Also ich habe eine ganz normale Kindheit erlebt in einer Kleinstadt hier in Deutschland, habe ganz normale Dinge getan, aber habe auch so Dinge wie Langeweile, Frustration auch verspürt. Und das kann man so sehen, dass es einerseits natürlich Therapiemittel ist, da drüber zu sprechen, davon zu erzählen, aber ich freue mich auch jedes Mal. Wir haben auch an Drehorten gedreht, wo ich als Kind auch immer selber war, und es ist einfach wunderschön, einfach so viele Jahre später wieder an diesen Ort zurückzukehren mit einem ganz anderen Hintergrund und das dann in einem Film einzufangen.

Karkowsky: Und gebrochen wird die ja doch melancholische und bedrückende Geschichte, die dort erzählt wird, immer wieder von Bildern, wo dann die Kamera über Baumwipfel, über wiegende Kornfelder fliegt, von Natur einfach, und da musste ich manchmal drauf warten, dass nun endlich das Bier-Logo eingeblendet wird mit dem Spruch: Die Perle der Natur. Sie kennen die Werbung – war das so ein bisschen auch beabsichtigt oder ist Ihnen das erst aufgefallen, als Sie die Bilder gesichtet haben?

bo Odar: Nee, das ist so beabsichtigt. Also wir hatten von vornherein, der Kameramann und ich, Nikolaus Summerer heißt er, gesprochen, wie werden wir diesen Film visuell umsetzen. Und es ist ja letztlich vom Genre her ein Thriller, aber wir wollten bewusst keine düsteren, dunklen, klassischen Thriller-Genrebilder erzählen, sondern wir wollten schöne, warme Sommerbilder erzählen. Und der Kontext, den es dann quasi gibt im Bild, der sollte eben das Düstere sein. Und somit hatten wir auch von vornherein gesagt, wir wollen diese Flugaufnahmen haben über die schöne Natur, weil das auch ein Thema ja in meinem Film ist, der Mensch in der Natur, weil die Natur selber an sich ist etwas Wunderschönes, und deswegen haben wir sie auch so dargestellt, aber der kleine Mensch quasi, deswegen gibt es auch oft diese Vogelperspektiven-Einstellungen von ganz, ganz oben, der ist es eben, der Monströses tut dann.

Karkowsky: Wie hart mussten Sie denn als Nachwuchsregisseur eigentlich kämpfen, um dieses hochklassige Team – also Klaußner, der nun durch "Das weiße Band" international bekannt wurde, Ulrich Thomsen, man könnte sagen, Dänemarks bekanntester Schauspieler, dazu der großartige Wotan Wilke Möhring, in etlichen Filmen gespielt – war das schwer, die alle zu kriegen?

bo Odar: Nein, war es eigentlich nicht, also das hat mich selber etwas überrascht. Ich hatte anfangs erst gar nicht dran geglaubt, dass das wirklich alles klappen wird, aber am Ende hatten wir sogar eher das Luxusproblem, aussuchen zu können aus so einem tollen Ensemble – ja, ich hatte es am Ende sogar eher schwer. Aber es sind auch viele dabei, wo ich von Anfang an wusste, ich muss unbedingt mit dieser Person eines Tages mal arbeiten, zum Beispiel eben Ulrich Thomsen – ich habe "Das Fest" damals geliebt, als es rauskam – ist auch einer der Gründe.

Karkowsky: Dazu ein Wort natürlich, in "Das Fest" spielt Ulrich Thomsen ja den Sohn, der sozusagen die Pädophilie seines Vaters anklagt vor versammelter Mannschaft, und hier das Gegenteil, er spielt den Pädophilen. Hatte das genau den Grund?

bo Odar: Nein, also es hatte eher den Grund, dass ich seine schauspielerische Qualität einfach so hoch schätze, und "Das Fest" war einfach ein Film, das ist einer der Gründe, warum ich an die Filmhochschule damals wollte, aber ich habe da ehrlich gesagt nie so drüber nachgedacht. Natürlich gibt es da einen Zusammenhang und es gibt ja jetzt auch "Das Fest II" als Theaterstück in Wien, wo ja auch die Rolle des, ich glaube Matthias heißt er, komplett umgedreht wird, wo er jetzt plötzlich zum Täter wird. Und es ist ja leider auch oft so, dass gerade Opfer oft zu Tätern dann später werden.

Karkowsky: Wie war denn das Zusammenarbeiten mit diesem hochklassigen Team? Sie sind – nun, ich darf das sagen – noch ein relativer Nobody, das wird sich nach diesem Film ändern, aber hatten schon diese ganzen hochklassigen Schauspieler, die jeder kennt wirklich. Wie war das für Sie?

bo Odar: Klar, am Anfang hatte ich großen Respekt, auch vor dem ersten Drehtag hatte ich natürlich auch etwas Angst und habe mir dann aber irgendwann mal innerlich gesagt: Entweder du gehst mit einer Angst hinein und drehst mit diesem hochkarätigen Ensemble diesen Film oder du gehst einfach rein und machst dein Ding. Und Burghart Klaußner selber zum Beispiel hat gesagt, dass er überrascht ist, mit was für einer Lockerheit ich das alles angegangen bin, was sicher auch ein Schutz war von mir, aber letztendlich haben alle Schauspieler es auch so empfunden. Wenn man eine Vision hat als Regisseur, ist es völlig egal, wie viel Filme man vorher gemacht hat. Solange man weiß, was man will und was man transportieren will und es auch quasi formulieren kann, ist das, glaube ich, völlig egal, weil letztendlich sind wir alle nur Menschen.

Karkowsky: Gibt es schon ein neues Projekt?

bo Odar: Es gibt ein paar Projekte, die noch nicht so spruchreif sind, aber ich kann so viel verraten: Es spielt nicht in einer Kleinstadt und es ist nicht im Sommer, es wird regnen ohne Ende.