„Es gibt keine definitive Übersetzung des Koran“

Stefan Weidner im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Das Schwierige an einer Übersetzung des Korans sei, die Kontexte mit zu übertragen, sagt der Islamwissenschaftler, Publizist und Übersetzer Stefan Weidner, der derzeit an einer Übertragung ins Deutsche arbeitet. Dies sei „eine poetische, eine dichterische Aufgabe“.
Liane von Billerbeck: Es gibt den Roman, das Gedicht, das Drama – allesamt literarische Genres. Stefan Weidner fügt ein weiteres hinzu: die Übersetzung. Der Kölner Nachdichter und Übersetzer aus dem Arabischen hat als nunmehr Dritter die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der FU Berlin inne. Sinn der Professur ist es, ja klar, das Genre der Übersetzung zu erforschen. Stefan Weidner sitzt auch an einer neuen Übertragung des Koran ins Deutsche, und wie schwierig das ist, auch das wollen wir jetzt von ihm erfahren. Herr Weidner, erst mal herzlich willkommen!

Stefan Weidner: Guten Morgen!

von Billerbeck: Wir haben uns umgeschaut, Sie haben ein Seminar, und das heißt, nicht zu verwundern: Übersetzung als literarisches Genre. Wir fanden ja immer, dass die Übersetzer ein Buch quasi neu schreiben, aber ein eigenes Genre, wie geht das?

Weidner: Das Seminar heißt „Exotisches Übersetzen“, und Übersetzen ist natürlich ein eigenes literarisches Genre insofern, als viele Übersetzungen tatsächlich den Status von Originalen bekommen haben. Und was mich interessiert – normalerweise wird Übersetzung so als Dienstleistung begriffen, das heißt, ich übersetze aus einer Sprache, dann ist das die Übersetzung und die lese ich –, was mich interessiert, ist der Moment, wo eine Übersetzung zu einem Original wird und wo es vielleicht sogar passieren kann, dass das Original in Vergessenheit gerät. Und es gibt solche Momente in der Geschichte, also die mittelalterlichen Verse eben zum Beispiel, da kann man, wenn sie vom Französischen ins Deutsche übersetzt wurden oder nachgedichtet wurden, kann man eigentlich nicht mehr sagen, ist das eine Übersetzung oder ist das eine Nachdichtung. Es gibt viele Fälle, gerade in der orientalischen Literatur, was mein Gebiet ist, wo tatsächlich große Werke wir nur in der Übersetzung kennen. Ein Beispiel dafür ist „1001 Nacht“, das immer schon übersetzt wurde, ursprünglich ein indisches Werk wohl war, dann persisch, dann ins Arabische übersetzt wurde und schließlich ins Französische, und eigentlich erst durch diese Übersetzung überhaupt die Popularität erlangte, mit dem witzigen Resultat, dass es Geschichten von „1001 Nacht“ gibt, die selbst die Araber nur in einer Übersetzung aus dem Französischen lesen, weil der französische Orientalist, der dieses Werk zusammengestellt hat, zusammengestoppelt hat aus verschiedenen Quellen, teilweise einen mündlichen Erzähler hatte, der ihm das erzählt hat. Und deswegen gibt es also sehr viele Momente, wo die Übersetzung tatsächlich ein Original wird.

von Billerbeck: Sie sind nun Übersetzer aus dem Arabischen, was ist daran die besondere Schwierigkeit?

Weidner: Ja, Sie haben einmal die kulturelle Differenz natürlich, also die ganzen Kontexte sind uns oder sind denjenigen, die mit der arabischen Welt nicht vertraut sind, erst mal fremd. Und das Ganze wird umso fremder, je weiter sie zurückgehen in die Geschichte. Die moderne arabische Literatur können Sie fast so übersetzen heutzutage wie englische oder lateinamerikanische Literatur, zumal die Prosa. Wie gesagt, mich interessieren eher die schwierigen Fälle, also sagen wir die Lyrik. Auch die moderne Lyrik hat einen so großen Vorlauf, hat eine so große Tradition, die sie mitschleppt. Und selbst wenn sie sich von dieser Tradition abgrenzt, ist zum Beispiel die Frage – sagen wir, ein moderner arabischer Dichter benutzt einen Reim, diesen Reim benutzt er aber so frei, dass es im Vergleich zur Tradition fast schon ein Tabubruch ist. Wenn ich den ins Deutsche mit Reimen übersetze, klingt das für uns schon wieder klassisch. Das heißt, was mache ich mit so einem Fall, wie übertrage ich diesen Kontext?

von Billerbeck: Sie lassen den Reim weg.

Weidner: Ich benutze freie Rhythmen oder benutze etwas wildere Reime oder Binnenreime oder ich muss mir etwas anderes ausdenken. Und das sind die spannenden Fragen.

von Billerbeck: Nun ist ja die Arbeit des Übersetzers eine unglaublich einsame Tätigkeit. Sie wirken aber überhaupt nicht so, als ob Sie da zu Hause einsam vor sich hin werkeln, sondern sehr temperamentvoll. Wie kriegen Sie das zusammen?

Weidner: Ja, das denken Sie, dass das eine einsame Tätigkeit ist. Also der Übersetzer, also natürlich, wenn ich einen 1000-Seiten-Roman übersetze, ist das in der Tat in der Regel eine einsame Tätigkeit, es sei denn, ich treffe mich öfter mit dem Autor. Aber das mache ich ja nicht, ich übersetze zum Beispiel Lyrik, und ein großer Aufgabenbereich des Übersetzers ist eben auch die Auswahl dessen, was er übersetzen soll. Der Übersetzer ist ja immer auch Literaturvermittler. Und ich habe sozusagen die arabische Welt kennengelernt, indem ich arabische Lyrik gesammelt habe, arabische Lyriker getroffen habe, und das war sozusagen für mich ich würde sagen ein Großteil dieser Arbeit, das Auswählen, das Treffen dieser Menschen, das Sichschenken-Lassen oder -geben-Lassen der Bücher, denn vieles kann man gar nicht kaufen. Das ist eine Tätigkeit mit intensivem menschlichem Austausch.

von Billerbeck: Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, die finanziert derzeit ein Langzeitprojekt, und zwar über die Entstehungsgeschichte des Koran. Und man hörte, dass dieses Projekt etwas so Revolutionäres sei, dass es, Zitat „FAZ“, „Herrscher stürzen und Reiche wenden könne“. Sie sind nun dabei, den Koran neu zu übersetzen. Haben wir da ein ähnlich revolutionäres Werk zu erwarten?

Weidner: Na ja, das ist, glaube ich, ein Satz von Frank Schirrmacher, der das Ganze etwas überinterpretiert, weil es sich gut anhört.

von Billerbeck: Das macht er ja gern.

Weidner: Ich würde das nicht ganz so revolutionär betrachten. Die Sache ist die: Wie viele heilige Texte, wie auch die jüdische und die hebräische Bibel, ist der Koran ein sehr kryptischer Text, das heißt, wir wissen nicht genau, auf welcher Textgrundlage wir uns bewegen. Die Muslime glauben zwar, sie wissen, was der definitive Koran ist, die Islamwissenschaftler zweifeln, insofern kommt da die Spannung rein und eventuell das Welt umstürzende Moment. Und dann ist die Übersetzung natürlich vor große Herausforderungen gestellt. Sie müssen sich vorstellen, der Koran erschließt sich nur teilweise durch die Übersetzung. Ein Beispiel wäre, nehmen Sie eine Oper: Wenn Sie da den Text übersetzen, aber nichts von der Musik wissen, nichts von den Intonationen, vielleicht auch nichts von dem Kontext, wie es gespielt wird, dann haben Sie ein relativ dürftiges Resultat. Und wenn Sie den Koran übersetzen, dann ist das Resultat etwa so, wie wenn Sie einen mittelmäßigen Operntext übersetzen, ohne Schauspiel und ohne Musik. Und das ist die Schwierigkeit: Wie kann man sozusagen das Fehlende, was für uns da drin ist, weil wir diesen Korantext nicht hören, weil wir den Kontext nicht haben, in dem der Korantext sozusagen präsentiert wird, gesungen wird, vorgetragen wird, wie kann man diesen Kontext eventuell noch einmal in die Übersetzung hineinfügen? Und das ist tatsächlich eine poetische, eine dichterische Aufgabe. Und das ist das, was mich daran besonders interessiert. Die meisten Koranübersetzungen sind eher sachlich, also sie übertragen diesen Operntext sozusagen wörtlich, allenfalls nehmen sie noch die Reime mit in diesem Operntext …

von Billerbeck: Aber sie vergessen die Musik.

Weidner: Ganz genau. Alles, was sozusagen noch da ist. Und das müssen Sie als Übersetzer sozusagen nachschaffen, wenn das gelingt. Man kann das aber teilweise machen, ja.

von Billerbeck: Der Koran ist ja nun, Sie haben es schon erwähnt, für Muslime ein heiliger Text. Nun sind Sie Islamwissenschaftler und schon in dem Wort kommen ja Wissenschaft und Religion zusammen. So eine Übersetzungsarbeit ist ja sprachlich künstlerisch, wissenschaftlich, historisch, religiös und was noch immer. Hängt da die Hürde nicht unglaublich hoch?

Weidner: Ja, das stimmt. Also man muss sich in gewisser Hinsicht frei machen, sonst arbeitet man unter Zwängen. Es gibt diese ganzen Zwänge, die Sie genannt haben, und wenn ich mich nach diesen Zwängen richten will, hätte ich keine poetische Freiheit mehr. Man muss die Dreistigkeit aufbringen, und ich kann das ja, weil ich kein, ich bin nicht an der Uni als Islamwissenschaftler. Ich habe diese Freiheit, eventuell Dinge tatsächlich so zu gestalten, wie ich es für richtig halte, auch wenn es der Gläubige und auch der Islamwissenschaftler nicht für richtig hält. Ich muss das begründen können, ich muss sagen können, warum ich das mache, das Resultat muss überzeugen. Aber das ist die Freiheit, die ich mir nehme, und aus dieser Freiheit heraus entsteht im Grunde die Kreativität. Und das, was ich in dem Ankündigungstext für mein Seminar auch genannt habe, sozusagen je exotischer der Text ist, den Sie übersetzen, nicht nur desto schwieriger wird es, sondern desto mehr Freiheiten haben Sie im Grunde auch.

von Billerbeck: Das heißt, es gibt keine „korrekte“, in Anführungszeichen, Übersetzung des Koran?

Weidner: Es gibt keine sozusagen institutionell abgesegnete, keine definitive Übersetzung des Koran, wie man das vielleicht im christlichen Bereich in Deutschland mit der Einheitsbibel oder so was sagen könnte. Also es gibt nicht die zitierfähige Koranausgabe. Die kann es nicht geben, weil der Koran zu schwierig ist, weil die Interpretationen zu vielfältig sind. Wenn Sie korrekt zitieren wollen, müssen Sie das Original zitieren.

von Billerbeck: Was ist der Reiz daran, der Koran jetzt wieder ins Deutsche zu übersetzen? Braucht jede Zeit eine neue Übersetzung?

Weidner: Einerseits bräuchte jede Zeit eine neue Übersetzung, andererseits haben wir zurzeit noch keine wirklich empfehlenswerte Koranübersetzung. Es gibt jetzt neuerdings zwei Bücher, die in diesem Herbst erschienen sind beziehungsweise noch erscheinen werden, die da vielleicht etwas ändern werden, aber auch das sind Bücher, die einerseits aus dem akademischen Bereich kommen, andererseits aus dem Bereich der Gläubigen, also jemand, ein gläubiger Muslim übersetzt. Der hat seine eigene Agenda, seine eigenen Zwänge und der Islamwissenschaftler ebenso. Und ich möchte mich einmal von diesen Zwängen lösen und schauen, was sozusagen an poetischem Potenzial in diesem Text drin steckt. Und ich glaube, das ist ungeheuerlich, wenn man sich wirklich drauf einlässt.

von Billerbeck: Wie lange wird das dauern oder können Sie das gar nicht sagen, wie viel Hürden sich da noch auftürmen werden?

Weidner: Ja, das ist für mich ein working progress, ich tu ja noch viele andere Sachen, als nur den Koran zu übersetzen. Zum Beispiel Radiosendungen, Radiointerviews geben oder Antrittsvorlesungen halten und so weiter und so weiter. Ich gebe mir damit Zeit, man braucht die Zeit. Ich würde mal sagen, wenn das im nächsten Jahrzehnt erscheint, dann bin ich froh.

von Billerbeck: Stefan Weidner war das, Islamwissenschaftler, der an der Freien Universität zu Berlin eine Gastprofessur zur Poetik der Übersetzung innehat. Erst mal herzlichen Dank für Ihr Kommen. Und an alle Hörer, die jetzt neugierig geworden sind, hier der Termin seiner Antrittsvorlesung: Die ist nämlich am 30. Oktober in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen in Berlin – allerdings nur, wenn bis dahin die Koalitionsvereinbarungen beendet sind, die finden dort nämlich auch statt.