"Es gibt eine relativ breite Anarchistenszene in Griechenland"
Der Soziologe Gerassimos Kouzelis vermutet junge griechische Anarchisten hinter der jüngsten Serie von Anschlagsversuchen mit Paketbomben. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern habe das Phänomen einer breiten Anarchistenszene in Griechenland ganz andere Dimensionen erreicht, sagte Kouzelis.
Britta Bürger: Griechenland befindet sich in einem anhaltenden Ausnahmezustand: die katastrophale Finanzkrise, steigende Arbeitslosigkeit, ein desolates Bildungssystem, massive Probleme mit illegalen Einwanderern, und nun auch noch die vielen Paketbomben, die linksradikale Terroristen an verschiedene Botschaften in Athen sowie an mehrere europäische Regierungschefs verschickt haben, darunter auch an die deutsche Bundeskanzlerin.
Ist diese neue Form der Gewalt die Folge einer allgemein vorhandenen Wut und Politikverdrossenheit, oder handelt es sich um radikale Einzelgänger mit übersteigertem Geltungsdrang? Darüber möchte ich mit Gerassimos Kouzelis sprechen, er ist Soziologe und Wissenschaftsphilosoph an der Universität Athen. Schönen guten Morgen, Herr Kouzelis!
Gerassimos Kouzelis: Guten Morgen!
Bürger: In Griechenland hat es in den vergangenen drei Jahren ja eine ganze Kette von Anschlägen gegeben, bei denen Menschen auch getötet worden sind, ausgeübt von jungen Leuten, die verschiedenen linksradikalen Splittergruppen zugerechnet werden, und davon gibt es wohl eine ganze Menge. Neu ist, dass der Sprengstoff nun auch in andere Länder geschickt wird. Herr Kouzelis, weiß man was über die Täter? Was sind das für Leute, die bereit sind, zu töten?
Kouzelis: Viel weiß man nicht. Man ist wohl dabei, also die Personen zu identifizieren, die Vermittlungen gehen weiter. Konkretes weiß man nicht, man kann einiges vermuten, hat ein Bild von dem, was bisher geschehen ist. Man weiß zum Beispiel, dass die Gruppe, die jetzt gesucht wird, aus wirklich jungen Leuten besteht, soweit man das beurteilen kann, handelt es sich tatsächlich um Anarchisten, und das ist ein Phänomen, was verglichen mit anderen europäischen Ländern wirklich andere Dimensionen hat.
Es gibt eine relativ breite Anarchistenszene in Griechenland, und das ist zum Teil auch eine Folge dieser extremen Enttäuschung, aus der Wut, die Sie genannt haben. Diese extreme Enttäuschung geht zurück auf die Versuche der Redemokratisierung nach der (…) in den Sechzigern, Siebzigern. Also in dem Sinne ist es zum Teil ein Phänomen, was tatsächlich mit der Krise, die eine andere Erscheinung ähnlicher Vorgänge ist, verbunden ist.
Bürger: Als 2008 nach dem Tod eines Schülers durch eine Polizeikugel weite Teile der Gesellschaft auf die Straße gegangen sind und dann eben massive Anschläge Athen erschütterten, da sah das ja noch so aus, als handele es sich um ein paar Linksradikale, die zu jeder Gewalt bereit sind, die man als politische Gruppe, als Organisation nicht besonders ernst nehmen kann. Ist das heute anders? Gibt es hinter diesen einzelnen Tätern neue Netzwerke?
Kouzelis: Ich glaube zuerst, dass die ursprüngliche These nicht ganz korrekt ist: Man dachte und man sagte tatsächlich, dass es eine sehr kleine Gruppe ist. Ich glaube, die ist zwar klein, aber sie ist nicht so klein. Es ist eine Gruppe, die tatsächlich zum Teil Leute, Studenten, vor allem Schüler – das ist das Interessante – mobilisiert hat und scheinbar mobilisieren kann, und ich denke, das hängt tatsächlich mit dieser Enttäuschung zusammen.
Es ist ein Phänomen, was wirklich sehr wichtig ist und sehr entscheidend für die Vorgänge in Griechenland. Man weiß zwar nicht mehr, denn man hat es leider nicht untersucht, als es nötig war, es ist aber eine Entwicklung, die tatsächlich seitdem so weitergeht, obwohl man sich damit kaum beschäftigt.
Bürger: Heißt das generell, dass diese Anschläge von Linksradikalen, die ja vor allen Dingen in Athen und Thessaloniki stattgefunden haben in den vergangenen drei Jahren, bei denen es viele Tote gab, dass diese Verbrechen insgesamt nicht ausreichend aufgeklärt und bestraft werden?
Kouzelis: Die wurden sozusagen kaum aufgeklärt, vor allem die Gewalterscheinungen, die es damals gab, wurden kaum verfolgt im Grunde. Man weiß auch sozial sehr wenig über diese Gruppen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie im eigentlichen Sinne Linksradikale sind. Die Anarchistenszene hat eigene Merkmale. Und was wirklich interessant ist, ist, dass diese Leute - obwohl vermutlich auch eine kleine Gruppe - tatsächlich Möglichkeiten hat, Leute zu mobilisieren.
Bürger: Was meinen Sie mit eigenen Merkmalen?
Kouzelis: Eigene Merkmale, ich meine eben, das ist keine politische Gruppe, wie wir sie kannten, scheinbar arbeiten die und fungieren sie auf Art und Weisen, die wir nicht kennen als Politikwissenschaftler, und in dem Sinne meine ich, das Phänomen an sich, auch diese Verbindung, die positive Verbindung, die sie mit der Wut haben der Bevölkerung und weiteren Teile der ehemaligen Linken, diese Sachen wurden kaum untersucht.
Bürger: Deutet eigentlich irgendetwas darauf hin, dass es von diesen neuen Radikalen in irgendeiner Weise Verbindungslinien gibt zu Leuten der früheren Terrorgruppe 17. November?
Kouzelis: Aus polizeilicher Sicht kann ich es nicht sagen. Ich vermute eher nicht, allerdings ist es sicher, dass diese jüngere Generation mit einer verrückten Romantik im Grunde auf diese alten Gruppen zurückschaut, in dem Sinne, als ideologisches Vorfeld, auf jeden Fall, obwohl die politischen Thesen dieser zwei Gruppen total unterschiedlich sind im Grunde.
Bürger: Die Methoden sind aber ähnlich: Bomben auf Banken, ...
Kouzelis: Die Methoden sind ähnlich, ja.
Bürger: ... auf Ministerien, ...
Kouzelis: Die Methoden sind ähnlich, mit einem, glaube ich, entscheidenden Unterschied: dass diese jüngere Gruppe tatsächlich blind Terrorakte organisiert, das heißt, blind auch in Hinsicht auf die möglichen Folgen auf das Leben von Bürgern, was nicht der Fall war früher. Deswegen auch die relative Akzeptanz der politischen Thesen der ehemaligen Linksextremisten.
Bürger: Was sind das für Thesen, die Sie meinen?
Kouzelis: Das sind die Thesen zum Beispiel, die mit der radikalen Demokratisierung Griechenlands zu tun hatten, dass die Demokratisierung nach der Diktatur nicht weit genug gegangen ist und so weiter. Diese Seite der Forderungen war eher eine allgemeinere Position von anderen Gruppen auch. Deswegen hatte die alte Extremistengruppe tatsächlich eine Verbindung mit der Linken. Ich glaube, diese jüngere Anarchistenszene hat kaum eine solche Verbindung, soweit ich das beurteilen kann.
Bürger: Joschka Fischer, der ehemalige deutsche Außenminister, hat vor Kurzem bemerkt auch, dass der linksextreme Terrorismus eben vor allem jene Gesellschaften in die Zerreißprobe geführt habe, die zuvor rechtsextreme Diktaturen zu erleiden hatten. Sie haben das jetzt auch angedeutet, man konnte das gerade auch in der "Süddeutschen Zeitung" nachlesen. Was halten Sie also wirklich von dieser These, dass der Linksterrorismus auch in Griechenland so lange überlebt hat, weil sich das Land erst 1974 von den faschistischen Obristen befreit hat?
Kouzelis: Ich glaube, das kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, denn die, sozusagen die fast normale Entwicklung eines Landes in die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg ist massiv unterbrochen worden in Griechenland, wenigstens zwei Mal, das letzte war diese Diktatur. Das heißt, alle Vorstellungen von dem, was eine parlamentarische Demokratie mit ihren Problemen normalerweise ist und wie man darunter funktioniert als Bürger und als politisch Interessierter, die sind in Griechenland zum Teil nicht gelegt worden. Und daher gibt es ganze Generationen, die mit so einem Defizit aufgewachsen sind, zumal in Griechenland seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich so etwas wie ein soziales Defizit existiert. Das soziale Bewusstsein, das heißt, die Akzeptanz der Grundregel einer parlamentarischen Demokratie, sind erstaunlicherweise noch nicht so selbstverständlich, auch die Solidarität. Das heißt, die Grundlagen einer modernen Demokratie wurden in Griechenland sehr langsam aufgebaut, und entsprechend langsam wurde die Bevölkerung dazu sozialisiert. Und diese Klammer, so wie wir das nennen, diese Zeit der Diktatur, die das total verhindert hat, hat auch Folgen auf das Demokratieverständnis und die Gewaltbereitschaft tatsächlich noch hinterlassen.
Bürger: Griechenland befindet sich im Ausnahmezustand, das Land ist überschuldet, es wird von linksradikalen Anschlägen erschüttert und hat massive Probleme mit illegalen Einwanderern. Als Erstes europäisches Land hat Griechenland in der vergangenen Woche die EU um Hilfe gebeten beim Schutz der Außengrenzen des Landes.
Es sind die großen Themen, die die Regional- und Kommunalwahlen, die am kommenden Sonntag stattfinden, überschatten, und darüber sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit dem griechischen Wissenschaftsphilosophen Gerassimos Kouzelis. Das Stadtbild in Athen, Herr Kouzelis, das hat sich in den vergangenen Monaten rapide verändert. Viele Geschäfte haben geschlossen, die illegalen Einwanderer, die sind nicht mehr zu übersehen, es sind Hunderttausende, und es gibt an jeder Ecke Bettler mit massiven körperlichen Gebrechen, die anscheinend auch von Hintermännern organisiert in die Stadt gebracht werden. All das schafft ja sozialen Sprengstoff. Ist die griechische Regierung auf allen Ebenen überfordert?
Kouzelis: Man kann glaube ich dazu nur ein eindeutiges, eindeutiges ja sagen. Die Regierung ist überfordert, die Gesellschaft ist überfordert, die ist das nicht gewohnt, die kennt das nicht, aber die Regierung scheint total überfordert zu sein. Das Bild tatsächlich, vor allem in Athen, ist ein Bild einer Destruktion, einer Destruktion, die auch soziale Netze, soziale Bindungen betrifft, aber vor allem Armut und Phänomene, die man nicht kennt.
Bürger: Griechenlands Ansehen hat in Europa in den vergangenen Monaten sehr gelitten, die Probleme, Sie sagen es selbst, scheinen nicht bewältigbar zu sein. Was braucht das Land Ihrer Ansicht nach?
Kouzelis: Das ist schwer zu sagen. Man bräuchte fast eine massive Reorganisation des Staates und Ansätze einer anderen sozialen Politik beziehungsweise eines anderen sozialen Bewusstseins. Es ist nicht leicht zu sagen, also ich kann mir kaum vorstellen, wie man aus der Krise rauskommt. Es wird nicht möglich sein, denke ich, ohne massive Unterstützung, finanzielle Unterstützung seitens der Europäer oder der internationalen Gesellschaft. Es wird schwierig, und die Krise wird sehr lange noch dauern.
Bürger: Griechenland im Ausnahmezustand, betrachtet von dem Soziologen und Wissenschaftsphilosophen Gerassimos Kouzelis von der Universität Athen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kouzelis!
Kouzelis: Vielen Dank auch!
Ist diese neue Form der Gewalt die Folge einer allgemein vorhandenen Wut und Politikverdrossenheit, oder handelt es sich um radikale Einzelgänger mit übersteigertem Geltungsdrang? Darüber möchte ich mit Gerassimos Kouzelis sprechen, er ist Soziologe und Wissenschaftsphilosoph an der Universität Athen. Schönen guten Morgen, Herr Kouzelis!
Gerassimos Kouzelis: Guten Morgen!
Bürger: In Griechenland hat es in den vergangenen drei Jahren ja eine ganze Kette von Anschlägen gegeben, bei denen Menschen auch getötet worden sind, ausgeübt von jungen Leuten, die verschiedenen linksradikalen Splittergruppen zugerechnet werden, und davon gibt es wohl eine ganze Menge. Neu ist, dass der Sprengstoff nun auch in andere Länder geschickt wird. Herr Kouzelis, weiß man was über die Täter? Was sind das für Leute, die bereit sind, zu töten?
Kouzelis: Viel weiß man nicht. Man ist wohl dabei, also die Personen zu identifizieren, die Vermittlungen gehen weiter. Konkretes weiß man nicht, man kann einiges vermuten, hat ein Bild von dem, was bisher geschehen ist. Man weiß zum Beispiel, dass die Gruppe, die jetzt gesucht wird, aus wirklich jungen Leuten besteht, soweit man das beurteilen kann, handelt es sich tatsächlich um Anarchisten, und das ist ein Phänomen, was verglichen mit anderen europäischen Ländern wirklich andere Dimensionen hat.
Es gibt eine relativ breite Anarchistenszene in Griechenland, und das ist zum Teil auch eine Folge dieser extremen Enttäuschung, aus der Wut, die Sie genannt haben. Diese extreme Enttäuschung geht zurück auf die Versuche der Redemokratisierung nach der (…) in den Sechzigern, Siebzigern. Also in dem Sinne ist es zum Teil ein Phänomen, was tatsächlich mit der Krise, die eine andere Erscheinung ähnlicher Vorgänge ist, verbunden ist.
Bürger: Als 2008 nach dem Tod eines Schülers durch eine Polizeikugel weite Teile der Gesellschaft auf die Straße gegangen sind und dann eben massive Anschläge Athen erschütterten, da sah das ja noch so aus, als handele es sich um ein paar Linksradikale, die zu jeder Gewalt bereit sind, die man als politische Gruppe, als Organisation nicht besonders ernst nehmen kann. Ist das heute anders? Gibt es hinter diesen einzelnen Tätern neue Netzwerke?
Kouzelis: Ich glaube zuerst, dass die ursprüngliche These nicht ganz korrekt ist: Man dachte und man sagte tatsächlich, dass es eine sehr kleine Gruppe ist. Ich glaube, die ist zwar klein, aber sie ist nicht so klein. Es ist eine Gruppe, die tatsächlich zum Teil Leute, Studenten, vor allem Schüler – das ist das Interessante – mobilisiert hat und scheinbar mobilisieren kann, und ich denke, das hängt tatsächlich mit dieser Enttäuschung zusammen.
Es ist ein Phänomen, was wirklich sehr wichtig ist und sehr entscheidend für die Vorgänge in Griechenland. Man weiß zwar nicht mehr, denn man hat es leider nicht untersucht, als es nötig war, es ist aber eine Entwicklung, die tatsächlich seitdem so weitergeht, obwohl man sich damit kaum beschäftigt.
Bürger: Heißt das generell, dass diese Anschläge von Linksradikalen, die ja vor allen Dingen in Athen und Thessaloniki stattgefunden haben in den vergangenen drei Jahren, bei denen es viele Tote gab, dass diese Verbrechen insgesamt nicht ausreichend aufgeklärt und bestraft werden?
Kouzelis: Die wurden sozusagen kaum aufgeklärt, vor allem die Gewalterscheinungen, die es damals gab, wurden kaum verfolgt im Grunde. Man weiß auch sozial sehr wenig über diese Gruppen. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie im eigentlichen Sinne Linksradikale sind. Die Anarchistenszene hat eigene Merkmale. Und was wirklich interessant ist, ist, dass diese Leute - obwohl vermutlich auch eine kleine Gruppe - tatsächlich Möglichkeiten hat, Leute zu mobilisieren.
Bürger: Was meinen Sie mit eigenen Merkmalen?
Kouzelis: Eigene Merkmale, ich meine eben, das ist keine politische Gruppe, wie wir sie kannten, scheinbar arbeiten die und fungieren sie auf Art und Weisen, die wir nicht kennen als Politikwissenschaftler, und in dem Sinne meine ich, das Phänomen an sich, auch diese Verbindung, die positive Verbindung, die sie mit der Wut haben der Bevölkerung und weiteren Teile der ehemaligen Linken, diese Sachen wurden kaum untersucht.
Bürger: Deutet eigentlich irgendetwas darauf hin, dass es von diesen neuen Radikalen in irgendeiner Weise Verbindungslinien gibt zu Leuten der früheren Terrorgruppe 17. November?
Kouzelis: Aus polizeilicher Sicht kann ich es nicht sagen. Ich vermute eher nicht, allerdings ist es sicher, dass diese jüngere Generation mit einer verrückten Romantik im Grunde auf diese alten Gruppen zurückschaut, in dem Sinne, als ideologisches Vorfeld, auf jeden Fall, obwohl die politischen Thesen dieser zwei Gruppen total unterschiedlich sind im Grunde.
Bürger: Die Methoden sind aber ähnlich: Bomben auf Banken, ...
Kouzelis: Die Methoden sind ähnlich, ja.
Bürger: ... auf Ministerien, ...
Kouzelis: Die Methoden sind ähnlich, mit einem, glaube ich, entscheidenden Unterschied: dass diese jüngere Gruppe tatsächlich blind Terrorakte organisiert, das heißt, blind auch in Hinsicht auf die möglichen Folgen auf das Leben von Bürgern, was nicht der Fall war früher. Deswegen auch die relative Akzeptanz der politischen Thesen der ehemaligen Linksextremisten.
Bürger: Was sind das für Thesen, die Sie meinen?
Kouzelis: Das sind die Thesen zum Beispiel, die mit der radikalen Demokratisierung Griechenlands zu tun hatten, dass die Demokratisierung nach der Diktatur nicht weit genug gegangen ist und so weiter. Diese Seite der Forderungen war eher eine allgemeinere Position von anderen Gruppen auch. Deswegen hatte die alte Extremistengruppe tatsächlich eine Verbindung mit der Linken. Ich glaube, diese jüngere Anarchistenszene hat kaum eine solche Verbindung, soweit ich das beurteilen kann.
Bürger: Joschka Fischer, der ehemalige deutsche Außenminister, hat vor Kurzem bemerkt auch, dass der linksextreme Terrorismus eben vor allem jene Gesellschaften in die Zerreißprobe geführt habe, die zuvor rechtsextreme Diktaturen zu erleiden hatten. Sie haben das jetzt auch angedeutet, man konnte das gerade auch in der "Süddeutschen Zeitung" nachlesen. Was halten Sie also wirklich von dieser These, dass der Linksterrorismus auch in Griechenland so lange überlebt hat, weil sich das Land erst 1974 von den faschistischen Obristen befreit hat?
Kouzelis: Ich glaube, das kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen, denn die, sozusagen die fast normale Entwicklung eines Landes in die Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg ist massiv unterbrochen worden in Griechenland, wenigstens zwei Mal, das letzte war diese Diktatur. Das heißt, alle Vorstellungen von dem, was eine parlamentarische Demokratie mit ihren Problemen normalerweise ist und wie man darunter funktioniert als Bürger und als politisch Interessierter, die sind in Griechenland zum Teil nicht gelegt worden. Und daher gibt es ganze Generationen, die mit so einem Defizit aufgewachsen sind, zumal in Griechenland seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich so etwas wie ein soziales Defizit existiert. Das soziale Bewusstsein, das heißt, die Akzeptanz der Grundregel einer parlamentarischen Demokratie, sind erstaunlicherweise noch nicht so selbstverständlich, auch die Solidarität. Das heißt, die Grundlagen einer modernen Demokratie wurden in Griechenland sehr langsam aufgebaut, und entsprechend langsam wurde die Bevölkerung dazu sozialisiert. Und diese Klammer, so wie wir das nennen, diese Zeit der Diktatur, die das total verhindert hat, hat auch Folgen auf das Demokratieverständnis und die Gewaltbereitschaft tatsächlich noch hinterlassen.
Bürger: Griechenland befindet sich im Ausnahmezustand, das Land ist überschuldet, es wird von linksradikalen Anschlägen erschüttert und hat massive Probleme mit illegalen Einwanderern. Als Erstes europäisches Land hat Griechenland in der vergangenen Woche die EU um Hilfe gebeten beim Schutz der Außengrenzen des Landes.
Es sind die großen Themen, die die Regional- und Kommunalwahlen, die am kommenden Sonntag stattfinden, überschatten, und darüber sprechen wir hier im Deutschlandradio Kultur mit dem griechischen Wissenschaftsphilosophen Gerassimos Kouzelis. Das Stadtbild in Athen, Herr Kouzelis, das hat sich in den vergangenen Monaten rapide verändert. Viele Geschäfte haben geschlossen, die illegalen Einwanderer, die sind nicht mehr zu übersehen, es sind Hunderttausende, und es gibt an jeder Ecke Bettler mit massiven körperlichen Gebrechen, die anscheinend auch von Hintermännern organisiert in die Stadt gebracht werden. All das schafft ja sozialen Sprengstoff. Ist die griechische Regierung auf allen Ebenen überfordert?
Kouzelis: Man kann glaube ich dazu nur ein eindeutiges, eindeutiges ja sagen. Die Regierung ist überfordert, die Gesellschaft ist überfordert, die ist das nicht gewohnt, die kennt das nicht, aber die Regierung scheint total überfordert zu sein. Das Bild tatsächlich, vor allem in Athen, ist ein Bild einer Destruktion, einer Destruktion, die auch soziale Netze, soziale Bindungen betrifft, aber vor allem Armut und Phänomene, die man nicht kennt.
Bürger: Griechenlands Ansehen hat in Europa in den vergangenen Monaten sehr gelitten, die Probleme, Sie sagen es selbst, scheinen nicht bewältigbar zu sein. Was braucht das Land Ihrer Ansicht nach?
Kouzelis: Das ist schwer zu sagen. Man bräuchte fast eine massive Reorganisation des Staates und Ansätze einer anderen sozialen Politik beziehungsweise eines anderen sozialen Bewusstseins. Es ist nicht leicht zu sagen, also ich kann mir kaum vorstellen, wie man aus der Krise rauskommt. Es wird nicht möglich sein, denke ich, ohne massive Unterstützung, finanzielle Unterstützung seitens der Europäer oder der internationalen Gesellschaft. Es wird schwierig, und die Krise wird sehr lange noch dauern.
Bürger: Griechenland im Ausnahmezustand, betrachtet von dem Soziologen und Wissenschaftsphilosophen Gerassimos Kouzelis von der Universität Athen. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Kouzelis!
Kouzelis: Vielen Dank auch!