Es geht um Demokratie - und die Presse geht nicht hin

Von Mely Kiyak · 25.07.2012
Der NSU-Ausschuss versucht derzeit, die Pannen aufzuklären, die bei den Ermittlungen zu den Morden der rechtsradikalen Gruppe passiert sind. Die Publizistin Mely Kiyak ist als Zuschauerin regelmäßig dabei und schockiert, dass so wenig Kollegen mit ihr auf der Tribüne sitzen.
Stell Dir vor, es ist Demokratie, und sie geschieht unter Ausschluss der Öffentlichkeit! Diesen Januar beschloss der Bundestag die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Er soll ein Gesamtbild zur Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund", ihren Mitgliedern, Taten, Umfeld und Unterstützern verschaffen. Seitdem trifft er sich im vierzehntägigen Rhythmus der Sitzungswochen. Kurz vor den Parlamentsferien tagte er sogar zweimal wöchentlich.

Die Parlamentarier sind hervorragend vorbereitet – kompetent, diszipliniert und fleißig. Sie zeigen, dass unser Parlament sehr wohl mächtig ist. Nach und nach beleuchten elf Mitglieder aus fünf im Bundestag vertretenen Parteien die dunklen Ecken unseres Rechtsstaates.

Es geht um die Frage, wie es möglich war, dass sich der Rechtsterrorismus in Deutschland ausbreiten konnte. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt wird klar, der viel gerühmte Rechtsstaat mit seinen Ermittlungs- und Sicherheitsbehörden ist in einem beschämenden Zustand. Das trifft leider auch auf unsere Medien zu.

Selten ist die Besuchertribüne voll. Zuletzt war sie es, als die Präsidenten des Bundeskriminalamtes und des Bundesamts für Verfassungsschutz geladen waren. Doch die Medienvertreter verließen bereits nach wenigen Stunden die Ränge wieder. Dass danach weitere Zeugen vernommen wurden und was sie sagten, blieb an diesen wie anderen Tagen nahezu unbekannt. Wem sonst als der Öffentlichkeit dient denn ein Untersuchungsausschuss?

Es vergingen Wochen, in denen nirgends über den konkreten Inhalt der Zeugenvernehmungen berichtet wurde. Wenn eine Zeitung keine Reporter hinschickt, ist sie auf Agenturjournalismus angewiesen. Deshalb sind Hunderte Medienartikel wortgleich: "Fromm räumt schwere Pannen ein". "Ziercke räumt schweres Versagen ein". Dahinter steckt eine Agentur.

Dutzende überregionale Qualitätsmedien bedienen sich dieser Methode der Instant-Berichterstattung, die darin besteht, dass Schreibtischredakteure Fremdbotschaften wie Agenturmeldungen oder Pressemitteilungen des Parlaments zu Leitartikeln, Kommentaren und Analysen umschreiben.

Dass einige Politiker manche Medienvertreter gezielt mit Informationen füttern, ist ein Thema, das an anderer Stelle dringend erörtert werden müsste, doch auch ohne das Zustecken von Geheiminformation gäbe es im Untersuchungsausschuss genug zu hören und zu berichten.

Erinnert sich noch jemand an die Stuttgart-21-Schlichtung? Die Sitzungen wurden öffentlich ausgetragen und fanden ein enormes Interesse. Es ging um den Bau eines Bahnhofs. Ein Projekt, das verhältnismäßig wenige Menschen in diesem Land betrifft. Der Untersuchungsausschuss beschäftigt sich mit gewaltbereiten Rechtsextremisten und den Arbeitsweisen unserer Sicherheitsbehörden – das betrifft jeden einzelnen Staatsbürger dieses Landes. Ist das wirklich so unerheblich und unwichtig?

Was außer einigen Schredderskandalen ist zum Thema NSU-Ausschuss in den Medien bekannt geworden? Am Ausschuss liegt es gewiss nicht. Die Parlamentarier erledigen gewissenhaft ihre Arbeit.

Und wann und wie positioniert sich eigentlich die Kanzlerin? Das letzte Mal tat sie es am 23. Februar diesen Jahres bei der Gedenkveranstaltung für die Angehörigen der NSU Opfer. Das waren ihre Worte: "Gleichgültigkeit. Sie hat eine schleichende aber verheerende Wirkung! Gleichgültigkeit - sie treibt Risse mitten durch unsere Gesellschaft". Treffende Worte für den Zustand unserer Politik und Medien, wenn es um rechte Gewalt geht.

Es treten vor dem Untersuchungsausschuss die Sicherheitseliten unserer Republik auf und geben ein armseliges Bild ab. Ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Rechtsextremismus hinterlässt den einen Schock. Den anderen Schock aber verursachen die leeren Zuschauerränge. Stell Dir vor, es geht um Demokratie, Freiheit und Sicherheit – und die Journalisten ziehen es vor, nicht hinzugehen!

Mely Kiyak Publizistin, geboren 1976, lebt als Publizistin in Berlin. Ihre Texte erscheinen in der "ZEIT", "WELT" und "taz". Sie ist politische Kolumnistin der "Frankfurter Rundschau" und der "Berliner Zeitung". Mely Kiyak ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, hat in zahlreichen Anthologien veröffentlicht und Sachbücher zum Thema Integration und Migration geschrieben. Zuletzt erschienen: "10 für Deutschland. Gespräche mit türkeistämmigen Abgeordneten" (Edition Körber-Stiftung 2007) und "Ein Garten liegt verschwiegen. Von Nonnen und Beeten, Natur und Klausur" (Hoffmann und Campe, Hamburg 2011).

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