Es geht darum, "noch an das Wissen dieser alten Menschen heranzukommen"

Thomas Weber im Gespräch mit Ulrike Timm · 19.03.2012
In Deutschland leben nach Berechnungen des Historikers Thomas Weber noch Zehntausende, die bei der Aufklärung von NS-Gräueltaten helfen können. Weber schlägt Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung vor. Prozesse, wie gegen Demjanjuk, taugten nicht, die Vergangenheit aufzuarbeiten.
Ulrike Timm: Am Wochenende starb John Demjanjuk mit 91 Jahren in einem Pflegeheim. Im vergangenen Mai wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt wegen Beihilfe zum tausendfachen Mord an Juden, das Urteil ist nicht mehr rechtskräftig geworden.

Zwei Fragen bestimmten den langjährigen, zähen Prozess gegen John Demjanjuk: Zum einen, wie viel Verantwortung hat ein Scherge in Dienst? - John Demjanjuk hatte in Sobibor als ukrainischer Wachmann gemordet, der von den Nazis verpflichtet worden war, und war ein kleines Rädchen im Getriebe. Zum anderen: Wie sinnvoll ist es, einen fast 90-Jährigen, der beharrlich schweigt, 70 Jahre nach Kriegsende anzuklagen?

Mord verjährt nicht und für viele Angehörige von Opfern ist es wichtig, dass die Schuld festgestellt wird, auch wenn die Taten Jahrzehnte zurückliegen. Aber es gab eben auch Berichte vom uralten Greis, den man, kaum prozessfähig, noch sinnlos vor Gericht gezerrt hatte.

Jetzt also ist Demjanjuk gestorben. Für uns Anlass, mit dem Historiker Thomas Weber zu sprechen über den Sinn solch später Prozesse und eventueller Alternativen. Thomas Weber lehrt an der University of Aberdeen, schönen guten Tag, Herr Weber!

Thomas Weber: Guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Weber, wie haben Sie denn damals diesen Prozess gegen den 90-jährigen, damals fast 90-jährigen Kriegsverbrecher erlebt?

Weber: Ich habe eigentlich die öffentliche Berichterstattung über das Verfahren mit Erschrecken wahrgenommen. Denn irgendwie schien es nur noch darum zu gehen, dass dort ein alter Mann vor Gericht steht. Und dass fast die Gefahr bestand, dass sich die Öffentlichkeit fragte: Na ja, soll dieser arme, alte Mann noch vor Gericht? Dass es gar nicht mehr um die Verbrechen ging, die Demjanjuk höchstwahrscheinlich begangen hat.

Timm: Dieser Mann war ein schuldiger Mann und Sie schlagen vor, für solche späten Prozesse eine Art Wahrheitskommission einzurichten, damit solch ein Eindruck vermieden werden könnte. Warum meinen Sie, eine Wahrheitskommission könne eine Lösung sein, und wie soll die aussehen?

Weber: Ich glaube, Wahrheitskommissionen wären eine gute Lösung, weil dadurch die Aufmerksamkeit wieder auf die Taten gelenkt werden würde und nicht auf den Gesundheitszustand von Schuldigen. Außerdem, weil sich im Fall Demjanjuk und anderen Fällen in letzter Zeit gezeigt hat, dass normale Gerichtsverfahren nicht mehr dazu taugen, noch NS-Kriegsverbrecher zu verurteilen, und auch nicht dazu taugen, die Vergangenheit aufzubauen und das Holocaust-Gedenken wachzuhalten, wenn der öffentliche Eindruck ist, dass es nur noch darum geht, alte Menschen vor Gericht zu stellen.

Timm: Und wie soll so eine Wahrheitskommission konkret aussehen, wer soll da was verhandeln?

Weber: Das müsste man natürlich genau verhandeln, mit verschiedenen Interessensgruppen und der Politik und so weiter. Aber letztlich sollten in solchen Wahrheitskommissionen meines Erachtens nach Juristen, Historiker, Opfergruppen und so weiter sitzen und es würde so aussehen, dass Beschuldigte vor die Wahl gestellt würden, ob sie ein normales Gerichtsverfahren wollen oder ob sie eine solche Verhandlung vor einer Wahrheitskommission haben möchten. Und es würde Gelegenheit geben, um über die Verbrechen, an denen sie vielleicht beteiligt gewesen sind oder die sie vielleicht auch nur als Zeuge gesehen haben, zu sprechen. So würde, glaube ich, noch sehr viele ... So könnten wir noch sehr viel Neues lernen über viele Verbrechen der Nazis, über die wir eigentlich recht wenig wissen.

Timm: Aber was genau könnte denn eine Wahrheitskommission Ihrer Meinung nach leisten, was eine Gerichtsverhandlung nicht leisten kann?

Weber: Ich glaube, die Gefahr bei Gerichtsverhandlungen ist halt einfach, dass die Beschuldigten natürlich Sorge haben, noch kurz vor ihrem Tod in Haft zu kommen. Von daher gibt es dann auf einmal verfahrenstechnische Erinnerungslücken, die Leute werden kränker, als sie sowieso schon sind. Und von daher glaube ich schon, dass es zumindest die Hoffnung gibt, dass Beschuldigte offener reden werden, wenn sie nicht die Sorge haben müssen, noch die letzten Monate ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen.

Es geht mir jetzt gar nicht darum, na ja, die armen, alten Männer sollen nicht mehr ins Gefängnis, sondern um wirklich noch an das Wissen dieser alten Menschen heranzukommen. Außerdem, was man auch dazu sagen muss, ist: Es geht ja nicht nur unbedingt um die Sorge von alten Menschen, dass sie selbst ins Gefängnis müssen, sondern dass sie vielleicht auch ihre ehemaligen Kameraden beschuldigen und dadurch ins Gefängnis bringen. Von daher glaube ich eigentlich auch, dass vielleicht viele, die selbst gar nicht direkt beteiligt gewesen sind, vor Wahrheitskommissionen viel offener aussagen würden als vor einem Gericht.

Timm: Nun sprechen Sie selbst von einer Hoffnung. Es ist ja überhaupt nicht gewiss, dass Täter dort reden würden. Einer langjährigen Strafe kann ja ein 90-Jähriger zudem auch relativ gelassen entgegensehen, es war auch ziemlich klar, dass Demjanjuk die nicht würde absitzen müssen.

Aber vielen Angehörigen von Opfern ist es ja trotzdem wichtig, dass die Schuld juristisch festgestellt und auch verurteilt wird, obwohl sie wissen, dass die Strafe nicht mehr vollzogen werden kann. Trägt denn so eine Wahrheitskommission diesem Bedürfnis genügend Rechnung?

Weber: Ich denke, schon. Weil, man muss sich die Alternative ja auch überlegen. Wenn die ... Wenn es tatsächlich noch viele Verhandlungen geben würde und diese Verhandlungen auch abgeschlossen würden, dann wäre das ja von mir aus noch alles ganz okay und auch nicht so wichtig, ob denn hinterher die Verurteilten wirklich ins Gefängnis kommen.

Aber die Gefahr ist doch die, dass es überhaupt zu keinen Verurteilungen mehr kommt, weil schon wegen des Gesundheitszustandes und so weiter während der Verhandlung die Verhandlung abgebrochen wird oder, wie im Fall Demjanjuk, die Beschuldigten sterben, bevor es überhaupt ein rechtskräftiges Gerichtsurteil gibt. Natürlich ist es richtig, dass die Gefahr ist, dass viele Leute nicht offen sprechen werden. Vielleicht hätte auch John Demjanjuk nicht offen gesprochen, das ist gut möglich. Nur, wir sprechen ja noch von einer relativ großen Anzahl von potenziellen Leuten, die vor diesen Wahrheitskommissionen aussagen könnten.

Timm: Wie viel sehen Sie da, die man da noch einbinden könnte, wie viel alte Nazi-Täter wären da noch?

Weber: Man kann natürlich keine konkreten Zahlen sagen, aber beruhend auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes leben noch etwa zwei Millionen Deutsche, die 1945 mindestens 18 waren. Ich meine, gut, davon sind etwa drei Viertel der Frauen, die natürlich an manchen NS-Verbrechen auch beteiligt gewesen sind. Aber selbst, wenn wir uns jetzt nur auf die Männer beziehen und auch noch in Betracht ziehen, dass viele der jüngsten Gruppe natürlich nicht unbedingt an diesen Verbrechen beteiligt gewesen sind, so bleiben immer noch einige Zehntausend, vielleicht sogar einige Hunderttausende übrig, die in den deutschen Streitkräften, in der SS und so weiter gedient haben.

Und das heißt nicht, dass alle schuldig sind, aber dass schon man erwarten kann, dass Tausende bis Zehntausende Informationen über NS-Verbrechen haben, die ganz wichtig sind, die ganz wichtig fürs Holocaustgedenken sind, die ganz wichtig sind für die Aufarbeitung des Dritten Reiches und die uns verloren gehen, wenn wir uns nicht schleunigst an die Sache setzen.

Timm: Wir sprechen im "Radiofeuilleton" mit dem Historiker Thomas Weber, der Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen vorschlägt. Als Vorbild solcher Wahrheitskommissionen nennen Sie Südafrika. Kann man das wirklich übertragen? In Südafrika ist die Erinnerung an die Apartheid noch ganz frisch, der Holocaust liegt Jahrzehnte zurück und ist wohl als Verbrechen einzigartig. Kann man das wirklich vergleichen?

Weber: Es geht gar nicht darum, um die Verbrechen des Dritten Reiches mit den Verbrechen der Apartheid gleichzusetzen. Man sollte übrigens auch noch dazu sagen, dass es natürlich nicht nur um die Verbrechen des Holocaust in der Aufarbeitung des Dritten Reiches geht, sondern um auch all die anderen vielen Kriegsverbrechen des Dritten Reiches. Dennoch kann man das natürlich nicht eins und eins gleichsetzen. Man muss auch daran denken, dass die Wahrheitskommission, die es ja nicht nur in Südafrika, sondern auch in Lateinamerika und weiter gegeben hat, dass es dabei häufig nicht nur um die Wahrheit geht, sondern auch um die Versöhnung.

Wo der Kontext ist, dass zwei Bevölkerungsgruppen zusammenleben, die gegeneinander Verbrechen verübt haben und die aber trotzdem miteinander leben müssen. Das ist natürlich ein Moment, der hier weniger eine Rolle spielt. Das spielt vielleicht noch mehr eine Rolle, wenn es auch gerade um Verbrechen zwischen Deutschen und Russen, Deutschen und Polen, Polen und Russen und so weiter geht, weniger für den Holocaust.

Aber ich glaube, wenn es um die Wahrheitsfindung geht, kann man die Erfahrung aus Südafrika, Lateinamerika und Ruanda und so weiter sehr wohl auf den europäischen Kontext anwenden. Und da kann, glaube ich, sowohl Deutschland als auch Europa sehr viel von Afrika und Lateinamerika lernen.

Timm: Ich komme mit einem Gedanken noch nicht ganz zurecht, Herr Weber: Es gibt den Rechtsgrundsatz "Mord verjährt nicht" und der hat ja auch gute Gründe. Wie bringt man denn so ein Vorgehen, wie Sie es vorschlagen, in Einklang damit, Mord verjährt nicht und muss bestraft werden?

Weber: Das ist ein sehr wichtiger Punkt, den Sie da ansprechen, und das ist auch eine Sache, die mir selbst immer wieder durch den Kopf geht. Aber Opfergruppen sagen halt immer wieder, dass es in erster Linie nicht darum geht, den abstrakten Satz "Mord verjährt nicht" aufrechtzuerhalten, sondern es ihnen darum geht, Licht auf unbekannte Verbrechen zu werfen und das Holocaustgedenken wachzuhalten. Und ich glaube einfach, dass das eher mit Wahrheitskommissionen machbar ist. Aber ich glaube auch nicht, dass Wahrheitskommission unbedingt das Prinzip, dass Mord nicht verjährt, außer Kraft setzt.

Denn es ist ja nicht so, dass man einfach sagt, war ja alles nicht so schlimm, sondern es würden ja anstatt dieser normalen Gerichtsverhandlung diese Wahrheitskommissionssitzungen, die ja auch justiziabel sind, stattfinden. Und ich glaube auch wieder, dass dort Deutschland und Europa viel aus Lateinamerika und Afrika lernen kann.

Denn es ist vollkommen richtig: Der Holocaust ist natürlich nicht vergleichbar mit irgendwelchen Verbrechen in Lateinamerika. Aber Mord ist natürlich ein individuelles Verbrechen. Und Morde hat es auch zuhauf gegeben in Ländern, in denen es Wahrheitskommissionen gegeben hat. Und dort hat man trotzdem gute Erfahrungen damit gemacht.

Timm: Der Historiker Thomas Weber meint, dass in Einzelfällen Wahrheitskommissionen sinnvoller sein könnten als späte Anklagen uralter Nazi-Täter vor Gericht. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Weber!

Weber: Herzlichen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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