Autor und Arzt Harro Jenss

Erinnerung an eine dunkle Zeit

35:00 Minuten
Der Dachgibel vom Jüdischen Krankenhaus in Berlin Wedding.
Erinnert wird auf der Seite „Gegen das Vergessen“ auch an Hermann Strauß. Er leitete bis 1942 die Abteilung für Innere Medizin am Jüdischen Krankenhaus in Berlin. © imago / Joko
Moderation: Tim Wiese · 31.05.2022
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Neben seiner Arbeit als Internist schreibt Harro Jenss über jüdische Ärztinnen und Ärzte, die nach 1933 von den Nazis entrechtet und verfolgt wurden. Um an sie zu erinnern, hat der Mediziner das Projekt „Gegen das Vergessen“ initiiert.
Es begann mit einer Namensliste, die zufällig vor einigen Jahren gefunden wurde. Etliche Einträge waren markiert, erzählt Harro Jenss. Der Mediziner erklärt, was er 2013 in den Händen hielt: „die Mitgliederliste unserer Fachgesellschaft, der Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten von 1932/33.“ Die Namen der jüdischen Mitglieder waren rot ausgestrichen. „Das heißt, man hatte sie ausgeschlossen.“
Porträt von Harro Jenss.
"Nicht nur vergessene Namen wiedergeben": Harro Jenss.© DGVS
Der Internist hat recherchiert, dass viele von ihnen später verfolgt, zur Flucht gezwungen oder in Konzentrationslager deportiert wurden.

Gegen das Vergessen

Seither hat es sich Jenss zur Aufgabe gemacht, an diese Ärzt:innen und deren Lebensleistungen zu erinnern. Er betreut ein offenen Gedenkort im Internet. „Gegen das Vergessen“ heißt die Seite, die in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) betrieben wird.
Ursprünglich wollte der Mediziner ein Buch schreiben, doch „dann haben wir gesagt, es ist viel besser, eine interaktive Plattform zu schaffen. Diese Erinnerung soll ja nicht nur vergessene Namen wiedergeben, sondern eine lebendige und kontinuierliche Erinnerung sein. Das heißt, wir können jederzeit neue Erkenntnisse, neue Rechercheergebnisse einfügen.“

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Erinnert wird auf der Seite zum Beispiel an Hermann Strauß. Er leitete bis 1942 die Abteilung für Innere Medizin am Jüdischen Krankenhaus in Berlin.
Indirekt hatte jeder schon einmal mit ihm beziehungsweise seiner Erfindung zu tun, nämlich bei der Blutentnahme. Habe man vor 1890 noch die Venen „aufritzen“ müssen, entwickelte Strauß eine angeschliffene Kanüle. „Das war der Beginn für die massenhafte Blutentnahme, die heute für uns selbstverständlich ist“, sagt Harro Jenss.

Brauchen wir 60.000 Medikamente?

Hermann Strauß ist nur einer der vielen Mediziner, an die auf „Gegen das Vergessen“ erinnert wird. „Es gab ein Beschweigen und Verschweigen nach 1945. Und daran hat unsere Fachgesellschaft natürlich auch ihren Anteil“, erklärt Jenss den Grund, warum erst vor wenigen Jahren mit dem Projekt begonnen wurde.
Vor seinem Ruhestand war Jenns Leiter der Medizinischen Uniklinik in Tübingen und Chefarzt der Abteilung für Innere Medizin am Spital Waldshut/Südbaden. Der Internist machte sich bereits als Student Ende der 1960er-Jahre Gedanken über die Entwicklung der Medizin und das Verhältnis von Ärzt:innen und Patient:innen und schloss sich dem Arbeitskreis „Kritische Mediziner“ an.
„Da wurde viel hinterfragt. Wie gut ist die Medizin wissenschaftlich aufgestellt? Muss es sein, dass wir 60.000 verschiedene Medikamente haben? Gleichzeitig haben wir versucht, die Kliniken aus der Perspektive der Betroffenen zu betrachten“, sagt Jenss.

Nur gemeinsam mit den Patient:innen

Später wurde Jenss zu einem der Spezialisten für chronische Darmerkrankungen, wie etwa Morbus Crohn. Bis heute sei die Ursache dieses Leidens noch immer nicht geklärt, berichtet er.
Ein erstes Buch über die Krankheit schrieb der Mediziner selbst. Eine möglichst verständliche Sprache sei ihm dabei wichtig gewesen, betont er, denn das Buch habe sich in erster Linie an die Patient:innen selbst gerichtet.
Auch die erste deutsche Selbsthilfegruppe für Morbus Crohn betreute Jenss in den 1980er-Jahren, zusammen mit einer Betroffenen. „Ich habe sehr schnell begriffen, dass wir nur gemeinsam mit dieser Krankheit fertig werden können.“
(ful)
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