"Es fehlt die Praxis der Zivilcourage in Ungarn"

Sie ist Philosophin, Holocaust-Überlebende und hat schon in vielen Ländern auf der Welt gelebt. Mittlerweile ist Agnes Heller wieder in ihr Heimatland Ungarn zurückgekehrt. Die Entwicklungen dort betrachtet sie mit Sorge. Das Land leide unter unbewältigten Traumata aus dem Zweiten Weltkrieg, meint sie.
Deutschlandradio Kultur: Gesprächspartnerin heute ist Agnes Heller. Sie ist ungarische Philosophin, Holocaust-Überlebende, vielleicht auch Weltbürgerin mittlerweile. Frau Heller, schön, dass Sie sich Zeit genommen haben und wir das Gespräch in deutscher Sprache führen können. Denn vor wenigen Jahren haben Sie im Europäischen Parlament gesagt, Sie hätten Deutsch nie gelernt, Sie hätten Deutsch nur vergessen. – Ist das die Sprache der Täter, die Ihnen nach wie vor Schwierigkeiten macht?

Agnes Heller: Nein. Das ist ganz einfach. Das war empirisch gemeint. Mein Vater ist in Wien geboren. Und bis zu meinem neunten Geburtstag war ich jeden Sommer in Österreich. Ich habe meine Sommerferien in Österreich verbracht, weil meine Familie in Österreich wohnte. Da sprach ich deutsch wie ungarisch, habe auch deutsch gelesen wie ungarisch gelesen. Aber dann kam es zum Anschluss 1938. Nach 38 konnten wir nie mehr nach Österreich fahren. Da habe ich angefangen deutsch zu vergessen. Kinderdeutsch kann ich noch heute gut sprechen.

Deutschlandradio Kultur: Mittlerweile leben Sie wieder in Budapest. Sie waren in Australien. Sie waren in Amerika, haben dort gelehrt. Bevor wir über die Entwicklungen in Ihrem Heimatland reden, wollen wir ganz kurz Ihren Lebenslauf vorstellen.

Agnes Heller wurde 1929 als Tochter jüdischer Eltern in Budapest geboren. Während ihr Vater und viele Verwandte Opfer der Judenverfolgung wurden, gelang es ihr und ihrer Mutter mit viel Glück, dem Holocaust zu entkommen.

Nach 1945 studierte die heute 84-Jährige Philosophie bei dem marxistischen Philosophen Georg Lukács und trat in die kommunistische Partei ein. Doch ihre Hoffnungen auf eine Neubegründung des Sozialismus zerschlugen sich nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes im Jahre 1956.

Wegen ihrer kritischen Äußerungen wurde sie von der Partei ausgeschlossen, verlor ihre Stelle an der Universität und unterrichtete anschließend fünf Jahre an einem Mädchengymnasium.
Als der so genannte Prager Frühling im August 1968 gewaltsam niedergeschlagen wird, unterschreibt sie eine scharfe Resolution gegen den sowjetischen Einmarsch. In der Folge verliert sie ihre Anstellung am Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften. Selbst innerhalb des sozialistischen Blocks darf sie keine Vorträge mehr halten.

1976 emigriert sie mit ihrer Familie nach Australien und lehrt Philosophie an der La Trobe Universität in Melbourne. 1986 wird sie Hannah Arendts Nachfolgerin auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges lehrt sie bis zu ihrer Emeritierung zudem wieder in ihrer Heimatstadt Budapest.

Agnes Heller wurde mehrfach für ihre Lebensleistung ausgezeichnet. Für ihre "Furchtlosigkeit, mit der sie unter wechselnden Regimen ihren eigenen Überzeugungen gefolgt ist", wie es in der Begründung heißt, erhielt sie 2011 den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg.

Die heute 84-Jährige gilt als eine der prominentesten Kritikerinnen der nationalkonservativen ungarischen Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán.


Deutschlandradio Kultur: Frau Heller, von Altkanzler Helmut Schmidt gibt es den Satz: "Das Schneckentempo ist das normale Tempo jeder Demokratie." Gilt das auch für Ungarn?

Agnes Heller: Schneckentempo ist ein gutes Tempo für eine Demokratie. In Ungarn gibt es kein Schneckentempo. Jeden Tag, jede Woche werden mehrere Gesetze im Parlament verabschiedet. Das ist so leicht, weil es keine Gegenstimmen gibt. Wenn es keine Gegenstimmen gibt, dann kann man sehr schnell vorgehen. Ich präferiere das Schneckentempo gegenüber diesem großen Tempo, denn das ist doch nicht demokratisch.

Deutschlandradio Kultur: Ungarn war das Hoffnungsland nach dem Fall des Eisernen Vorhanges. Mittlerweile haben wir das Gefühl, dass sich dort eine Hochburg des Rechtsextremismus entwickelt, also gar nichts in Richtung Demokratie, sondern genau das Gegenteil.

Agnes Heller: Nach der Systemwende hat man in Ungarn wirklich gute demokratische Institutionen eingeführt. Nur der Geist fehlte. Wegen der geschichtlichen Tradition gab es keine Möglichkeit, in Ungarn demokratische Gefühle und demokratische Ideen und Praktiken zu entwickeln.

Deutschlandradio Kultur: Was meinen Sie da konkret?

Agnes Heller: Da meine ich konkret, dass sich die Menschen überhaupt keine Gedanken über die Freiheit machten. Sie wussten nicht, was Freiheit ist, haben keine Freiheit praktiziert. Es fehlt auch die Praxis der Zivilcourage in Ungarn.

Das heißt, Ungarn sind das so gewöhnt: Wenn ihnen jemand einen Befehl gibt, gehorchen sie. Das heißt, sie bekommen einen Befehl und gehorchen dem Befehl. Das ist die ungarische Tradition. Neinsagen ist keine ungarische Tradition.

Deutschlandradio Kultur: Es gab aber auch Menschen, die in den letzten Monaten gegen das Regime Orbán auf die Straße gegangen sind, Sie auch. Es gibt eben auch eine demokratische Mehrheit im Land, die sich gegen diese Entwicklung wehrt.

Agnes Heller: Es gibt eine Demokratische Minderheit im Land, die sich gegen die nichtdemokratische Mehrheit wehrt. Natürlich hoffe ich, dass diese Minderheit sehr schnell eine Mehrheit sein wird. Aber bis zum heutigen Tag können wir nur über eine demokratische Minderheit reden.

Deutschlandradio Kultur: Warum hat sich Ungarn nach der Wende doch so anders entwickelt als beispielsweise Länder wie Tschechien und die Slowakei, aber auch Polen? Gibt es da andere Traditionen, die Ungarn fehlen?

Agnes Heller: Es gibt ganz verschiedene Traditionen, wenn Sie Ungarn mit diesen anderen Ländern vergleichen. Zum Beispiel, die Tschechei hat eine demokratische Tradition, was in Ungarn immer fehlte. Polen war das erste Land, das gegen Hitler kämpfte. Und in Polen waren die Leute nie Nazis gewesen, weil sie sich im Krieg gegen Nazideutschland wehrten.

Deutschlandradio Kultur: Anders als in Ungarn.

Agnes Heller: Natürlich. Das heißt, das ist nicht demokratisch. Die demokratische Tradition ist eine Tradition, die dem letzten Verbündeten von Hitler, Ungarn fehlte.

Deutschlandradio Kultur: Da gibt ein Traumata in Ungarn, das nicht richtig aufgearbeitet wurde, keine demokratische Kontinuität.

Agnes Heller: Es gibt nicht nur ein Trauma, sondern mehrere, die in Ungarn nicht verarbeitet waren. Es gibt das Trianon-Trauma, das ein speziell ungarisches Trauma war. Und es war auch das Holocaust-Trauma. Das ist auch ein Trauma, mit dem sich die Menschen überhaupt nicht auseinandersetzen wollen. So ist eine unbewältigte Vergangenheit in Ungarn.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt einen interessanten Satz von Premier Orbán, der aufhorchen lässt. Er soll vor einiger Zeit gesagt haben: Brüssel sei das neue Moskau. – Also, ein Bedrohungsszenario, das für uns aus dem Westen äußerst unverständlich ist. Passt das auch in dieses Schemata, das Sie besprochen haben?

Agnes Heller: Das ist eine interessante Logik. Die Logik ist folgende: Wir Ungarn sind die Besten. Wir sind die beste Nation. Wir haben immer Recht. Wir sind die Größten. Wir sind die Blume von ganz Europa. Aber wir sind immer missverstanden worden. Wir sind immer unterschätzt worden. Niemand will es wirklich wahrnehmen, wie gut wir sind. – Das ist die Rhetorik der Fidesz, der Führung der ungarischen regierenden Partei, also eine fundamentalistisch-nationalistische Rhetorik.

Das heißt: Statt Moskau haben wir jetzt die Banken und Amerika und Europa, die uns missverstehen oder die uns Befehle geben, die uns keine Freiheit lassen, uns die Freiheit wegnehmen. Wir wollen frei sein, über unsere eigene Zukunft selbst entscheiden. Und wenn sie sagen, dass unsere Institution nicht demokratisch ist, wenn sie uns kritisieren, dann verstehen sie uns nicht. Außerdem mischen sie sich in unsere Angelegenheiten.

Deutschlandradio Kultur: Aber gleichzeitig sind Sie und wollten Mitglied der Europäischen Union werden. Sie sind Nato-Mitglied. Insofern ist da ein Widerspruch. Einerseits möchte man Europa haben und andererseits möchte man es überhaupt nicht haben.

Agnes Heller: Natürlich ist das ein Widerspruch. In einer Rhetorik kann man doch Widersprüche aussprechen, ohne dass diese Leute es merken, dass da Widersprüche sind.

Deutschlandradio Kultur: Könnte man das auch so zusammenfassen: Ungarn schwankt im Moment immer zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen und kommt aus dieser Falle nicht raus?

Agnes Heller: Ja. Sie sind identisch miteinander.

Deutschlandradio Kultur: Wie könnte man denn diesem Land helfen? Wie kann Europa das Land in diese europäische Gemeinschaft wieder verstärkt einbinden?

Agnes Heller: Es gibt solche Kräfte in Ungarn, die das das wollen. Es gibt eine Partei, die jetzt schon zehn Prozent für 2014 zusammen hat. Diese Partei ist sehr europäisch und sehr in einer demokratischen Zukunft engagiert. Es ist auch eine neue kleine konservative Partei, die auch in einer demokratischen europäischen Zukunft engagiert ist.

Ich wiederhole: Sie sind jetzt in der Minderheit, aber ich hoffe, dass sie doch in der Zukunft die Mehrheit haben werden.

Deutschlandradio Kultur: Aber es gibt auch neofaschistische Tendenzen. Die rechtsextreme Jobbik-Partei beispielsweise, die sehr stark auch gegen Juden, gegen alles, was fremd ist, Stimmung macht, auch an den Universitäten. Diese Proteste sind nicht an den Rändern, sondern es geht rein in die Universitäten.

Sie selbst haben Ungarn über Jahre ja immer beobachtet, leben auch dort wieder. Wie erklären Sie sich, dass dieses Ventil genau da stattfindet?

Agnes Heller: Jobbik ist eine rassistische Partei. Das heißt, das ist ihre Spezialität, dass sie rassistisch sind. Sie haben keine andere Spezialität. Sie haben kein Programm. Sie haben keine Konzeption. Das ist ihre einzige Idee. Sie spielen auf diese Idee an. Sie glauben, dass diese Idee Stimmen für sie gewinnen wird. - Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Denn heutzutage sieht es so aus, dass sie Stimmen verlieren wahrscheinlich, aus gutem Grunde.

Aber Jobbik war doch eine heterogene Partei. Sie sprechen immer eine rassistische Sprache. Sehr viele Leute haben für sie gestimmt, weil sie sehr arm sind und weil Jobbik radikal ist. Das stimmt auch für die Jugend. Junge Leute sind radikal. Junge Leute lieben die Väter nicht. Sie lieben Establishment nicht. Fidesz wie auch die sozialistische Partei waren doch Establishment. Die jungen Leute wollten etwas anderes.

Sehr viele junge Leute sind überhaupt nicht rassistisch. Sie revoltieren nur gegen die Väter. Und weil in Ungarn überhaupt keine radikale linke Partei existiert, stimmen sie für die radikale Rechte.

Deutschlandradio Kultur: Frau Heller, was kann Europa, was kann Brüssel – weil es ja nicht Moskau ist, wie Orbán das mal behauptet hat, sondern Brüssel, das sich auch um alle einzelnen europäische Länder kümmern möchte -, was kann Europa tun, um Ungarn wieder sozusagen auf den Pfad der Tugend zu bringen?

Agnes Heller: Europa soll seine eigenen Normen ernst nehmen. Das heißt: Europa soll immer sagen, wenn Ungarn diesen Normen nicht entspricht. In sehr vieler Weise entspricht Ungarn, die heutige ungarische Regierung diesen Normen nicht.

Auf der anderen Seite sollten sie Beobachter zu den ungarischen Wahlen schicken. Selbst falls die Opposition stark ist, ist es ganz und gar nicht garantiert, dass die Endresultate der Wahlen stimmen werden. Das heißt, wir brauchen die Beobachter von Europa.

Deutschlandradio Kultur: Sie sprechen von den Wahlen, die 2014 stattfinden werden.

Agnes Heller: Wir brauchen 2014 für Wahlen europäische Beobachter.

Deutschlandradio Kultur: Und Sie haben die Befürchtung, dass aufgrund dieser Zweidrittelmehrheit und der Verfassungsänderungen, die ständig stattgefunden haben, möglicherweise ein Machtwechsel gar nicht stattfinden könnte?

Agnes Heller: Sie haben doch den Spielraum der Opposition sehr verengt sowieso. Sie können doch die Wahlerfolge verfälschen. Deswegen brauchen wir doch die europäischen Beobachter.

Deutschlandradio Kultur: EU-Justizkommissarin Reding hat jetzt gesagt, "eine Verfassung sei kein Spielzeug und die Ungarn sollten sich an diese Verträge, die innerhalb der EU gelten, auch halten". Nur die Frage: Bewegt es irgendjemanden in der ungarischen Regierung, wenn diese Kritik aus Brüssel kommt? Oder stärkt die das gerade noch in ihrer Haltung, wir sind sowieso gegen das, was aus Brüssel kommt?

Agnes Heller: Sie können einige oberflächliche Konzessionen machen. Aber wesentlich stören sie diese Meinungen nicht. Aber die Meinungen haben doch Einfluss auf die kritische Bevölkerung. Zum Beispiel, dass das Konstitut kein Spiel ist, das kommt doch von d er ungarische Studentenbewegung. Eine ungarische Studentenbewegung hat sich entwickelt mit der Losung: "Das Konstitut ist kein Spielzeug." Das hat ihre Presse nur übernommen. Das heißt, es war eine Erfindung der ungarischen Jugend gewesen.

Deutschlandradio Kultur: Frau Heller, Sie haben den Faschismus überlebt und unter dem Stalinismus gelitten. Irgendwann haben Sie einen Satz gesagt, ich zitiere ihn mal: "Alle totalitären Regierungen waren und sind im Wesentlichen antiliberal. Deshalb bin ich sehr stolz, eine Liberale zu sein." – Große Gesellschaftsentwürfe, wie wir sie vielleicht in den 50er Jahren hatten…

Agnes Heller: Das habe ich schon mehrmals erörtert. Wenn man sagt, wir sind Demokraten, sagen alle, wir sind Demokraten. Sie können sich erinnern. Stalin sagte, unser Land ist die wirkliche Demokratie. Auch Kadar sagte das, wir sind die wirkliche Demokratie. Im Westen gibt es nur formale Demokratie." Das heißt, das Wort "Demokratie" haben sie alle angenommen und auf ihr eigenes System angewendet. Aber Liberalismus ist in Ungarn und auch für alle totalitären Bewegungen, auch für den Kommunismus, auch für den Nazismus, auch für Faschismus der größte Feind, weil er für Freiheit der einzelnen Menschen steht. – Freiheit für die Individuen, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, diese Arten von Freiheiten sind liberale Freiheiten.

Sie hassen eben dieses. Die sind die Feinde. Und wenn man über Juden spricht in Ungarn, spricht man über Liberale. Das heißt, sie sind miteinander in dieser Weise identisch. Wenn man Liberalismus sagt, meint man auch die Juden.

Deutschlandradio Kultur: Die Freiheit des Individuums, das ist das, was im Mittelpunkt auch Ihrer Philosophie steht - mit all den Erfahrungen, die Sie gesammelt haben in totalitären Regimen. Ist das das Zentrum, was bei Ihnen ihn Ihrer Gedankenwelt im Mittelpunkt steht?

Agnes Heller: Nicht nur Freiheit des Individuums. Die Freiheit des Individuums ist eine kollektive Freiheit. Alle Ichs sind ein Wir. Das heißt, wenn ich bin, bin ich auch wir. Ich bin auch im Plural. Das heißt, die Frage der Meinungsfreiheit des Individuums ist die Meinungsfreiheit für alle Individuen. Das heißt, das ist nicht für mich, das ist für uns alle. Das gilt auch für die Pressefreiheit.

Deutschlandradio Kultur: Also, wir sprechen dann von einem Verfassungsliberalismus oder von einer liberalen Verfassungsform, die die notwendige Voraussetzung für das gedeihliche Miteinander ist?

Agnes Heller: Ich glaube, dass er notwendige Voraussetzung ist. Ohne diese Freiheiten oder Freiheitsrechte zu respektieren, gibt es keine wirkliche moderne Demokratie.

Deutschlandradio Kultur: Und die wirkliche moderne Demokratie ist immer nur innerhalb des Kapitalismus denkbar – auch mit all den Widersprüchen? Oder ist der Kapitalismus auch eine Zeiterscheinung?

Agnes Heller: Na, ich glaube, Kapitalismus, alles ist eine Zeiterscheinung. Wir sind in einer Geschichte und wissen nicht, wie lange etwas dauert. Was ist die Zeiterscheinung? Demokratie ist auch eine Zeiterscheinung. Nazismus war auch eine Zeiterscheinung gewesen. Aber ich möchte nur sagen heutzutage: In dieser Zeit kann man sich doch ohne Marktgesellschaft keine Demokratie vorstellen.

Kapitalismus ist ein Wort, aber ich glaube, die moderne Gesellschaft ist Kapitalismus und Sozialismus zusammen. Die Verteilung der Menschen, der Arbeit, der Güter, das passiert am Markt, aber die Wiederverteilung, das passiert durch den Staat. Das heißt, die Wiederverteilung ist sozialistisch. Die Verteilung ist kapitalistisch. Diese beiden gehen zusammen. In Zeiten, wo wenig Wiederverteilung stattfindet, kann es zu einer gesellschaftlichen Krise kommen.

Deutschlandradio Kultur: Ich will mal Beispiel nennen: Diese Gefahren von Jugendarbeitslosigkeit in Spanien oder die wirtschaftliche Krise in Griechenland…

Agnes Heller: Das ist eine gesellschaftliche Krise.

Deutschlandradio Kultur: Wie kann man gegen dieses ankämpfen, wenn man an diesem liberalen Gedanken, den Sie haben, festhält.

Agnes Heller: Schauen Sie. Es gibt ein Pendel in der modernen Welt. Wenn man nur in Richtung zum Kapitalismus, nur zur Marktgesellschaft geht, dann findet man Anarchie, das Zusammenbrechen der Netze der Gesellschaft. Falls man merkt, Sozialismus hat mehr Wiederverteilung als Markt, dann kommt eine Stagnation. Das heißt, man muss sich zwischen zwei verschiedenen Extremen bewegen. Einmal bewegt man sich zu einem Extrem, einmal zum anderen Extrem. Es gibt keine gute Gesellschaft, will ich Ihnen mal sagen. Das ist doch eine Illusion.

Es gibt eine Gesellschaft, in der es möglich ist, anständig zu leben. Und das ist eben genug. Es gibt keine Gesellschaft, wo es Gleichheit gibt, wo es keine Reichen und keine Armen gibt. Aber es kann eine Gesellschaft geben, wo auch die armen Leute Wohnungen haben und Essen haben und die Möglichkeit zum Unterricht haben. Das kann man doch haben. Das ist das Minimum.

Deutschlandradio Kultur: Kann man das dann unter diesem Begriff Fortschritt auch subsumieren? Zumindest die deutsche Sozialdemokratie, die seit 150 Jahren besteht und vor kurzem ihren Geburtstag gefeiert hat, nimmt den Begriff Fortschritt und stellt ihn in den Mittelpunkt ihrer Parteipolitik.

Agnes Heller: Innerhalb eines gesellschaftlichen Systems gibt es Fortschritt. Natürlich war innerhalb des modernen Kapitalismus die Sozialdemokratie dazu fähig, die sozialistischen Aspekte in die moderne Gesellschaftsstruktur hineinzubringen. Sie haben sehr viel dazu getan, wie auch Labor-Party in England, dass die moderne Gesellschaft nicht rein kapitalistisch sein soll, aber die Wiederverteilung, die sozialistischen Aspekte sich auch verstärken sollen. Das war sicher eine Art von Fortschritt gewesen.

Aber Fortschritt in dem Sinne, dass es nach einer gesellschaftlichen Situation zwangläufig Fortschritte geben kann, daran glaube ich sicher nicht. Und ich glaube nicht an den Perfektionismus des menschlichen Wesens. Dass die Menschen immer perfekter und perfekter werden und die Gesellschaft immer perfekter und perfekter wird, daran glaube ich nicht. Ich glaube, das ist eine Illusion.

Ich glaube, dass Kant Recht gehabt hat, als er sagte: "Wir brauchen solche Institutionen innerhalb der Rahmen." Ich glaube, das ist das Maximum, was wir erwarten können.

Deutschlandradio Kultur: Frau Heller, es gibt Individuen, aber auch ganze Gesellschaften, die den Wunsch nach Orientierung haben. Können denn Philosophen heute im 21. Jahrhundert diese Richtung noch vorgeben?

Agnes Heller: Wem? Und außerdem sollten die Philosophen dies nicht fordern. sollten. Die Philosophen haben genug, sich als Könige vorzustellen, wie Platon es machte. Philosophen können einen Rat geben. Aber Philosophen werden nicht die Fackel sein, die den Weg beleuchtet. Sie haben Konzeptionen, aber Philosophen sind auch verschieden. Einer hat diese Konzeption und der andere eine andere Konzeption und der Dritte eine dritte Konzeption. Philosophen sollen nicht die Menschen beleuchten, den Weg erleuchten.

Das heißt, Philosophen sollen eher kritisieren, wenn sie etwas sehen, was nicht so gut ist. Wo ein Problem ist, da sollen sie kritisieren. Deswegen haben wir Zeitungen zum Beispiel. Alle Zeitungen sprechen darüber: Was ist nicht gut? Was sollte besser sein?
Warum haben Sie denn Radio? Auch deswegen, weil Sie sagen, was stimmt nicht, was sollen wir kritisieren, was soll besser sein, das Konkrete verbessern, was heute existiert. Das können Sie machen, das können die Fernsehstationen machen. Das können die Zeitungen machen. Auch im Internet können wir das machen.
Philosophen können Theorien dafür geben, Theorien für die eine oder andere Alternative. Es sind auch verschiedene Leute mit verschiedenen Weltanschauungen, verschiedenen Konzeptionen, wie auch alle anderen.

Die Philosophen haben doch alle totalitären Mächte unterstützt in einer Weise. Philosophen haben den Hitler unterstützt, den Mussolini unterstützt und Josef Stalin unterstützt und auch Ayatollah Khomeini unterstützt und Fidel Castro unterstützt und Chruschtschow unterstützt. Philosophen haben sehr viele Diktatoren schon unterstützt. Die kritische Funktion der Philosophen ist sehr wichtig. Sie können immer sagen, was nicht stimmt, was nicht in Ordnung ist. Und das ist die wichtige Frage der Philosophen, aber nicht den Tyrannen Rat zu geben. Das ist eine schlechte Funktion.

Deutschlandradio Kultur: Fragen stellen, das ist die Aufgabe der Philosophen seit Jahrhunderten, so wie Sie es mal beschrieben haben, "so wie Kinder, die fragen, warum ist das so"? Ist das die Kernaufgabe und darum geht’s?

Agnes Heller: Darum geht’s. Wir stellen die Fragen. Warum ist das so? Warum ist das nicht anders? Und diese Frage stellen die Philosophen. Sie wollen auf diese Frage antworten. Alle anderen Menschen können verschiedene Antworten auf dieselben Fragen geben. Aber nichts ist selbstverständlich. Das ist wichtig in der Philosophie. Nichts ist selbstverständlich. Nichts sollte man als selbstverständlich annehmen. Und wir sollen mit unserem eigenen Kopf denken, alle von uns, und auch an die Situation der anderen denken. Das ist auch sehr wichtig.

Deutschlandradio Kultur: Also Empathie.

Agnes Heller: Ja. Nicht nur Empathie, mit dem anderen zusammen denken, das ist nicht Empathie. Empathie ist, ich fühle für den anderen. Der andere leidet, ich leide mit ihm, auch wenn ich nicht eben so leide. Das ist Empathie. Aber etwas anderes ist, die Gedanken der anderen wiederholen.

Wenn wir zu einer Partei gehören, vielleicht können wir auch das überdenken, was ein Mitglied der anderen Partei denkt, wie er argumentiert, nicht mit ihm oder mit ihr einverstanden zu sein – überhaupt nicht, aber wissen, worum es geht.

Deutschlandradio Kultur: Es geht nicht um universelle Wahrheiten, aber es gibt vielleicht universelle Vorstellungen, wo sich vielleicht die Völkergemeinschaften und auch die Philosophen verständigen könnten, dass sie sagen: Es gibt Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit. Es gibt Grundprinzipien, die sind fest verankert.

Agnes Heller: Ja, natürlich. Wir glauben, dass sie universal sind. Aber schauen Sie zum Beispiel nach Afrika oder nach Asien, was die Leute dort als universelle Wahrheit anerkennen. Ich glaube kaum, dass ein Islamist als seine universelle Wahrheit Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit anerkennt. Das heißt, das ist eine der europäischen Traditionen, der amerikanischen Traditionen, nur eine der Traditionen. Das ist die amerikanische Unabhängigkeitsdeklaration. Alle Menschen sind frei geboren.

Ob wir das unterschreiben, ist fraglich. Dass alle Menschen gleich vor Gott mit Vernunft ausgestattet sind, das ist schön. Das werden wir unterzeichnen. Aber ein Rassist wird es sicher nicht unterschreiben. Und ein Mensch, der glaubt, er weiß doch die absolute Wahrheit, dies und das ist seine Religion und die anderen, die in seiner Religion nicht glauben und sie nicht praktizieren, sind nicht nur Heiden, sie sind Feinde. Ja, sie werden das nicht unterschreiben.

Die Frage ist, wer das unterschreibt. Das ist der Anfang, ob wir das unterschreiben, dass alle Menschen frei geboren sind und gleich mit Gewissen und Vernunft ausgestattet sind. So fängt das an.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben sich in Ihrem Leben engagiert auf vielerlei Art und Weise, für Frauenrechte beispielsweise, jetzt auch gegen die Regierung Orbán, um darauf hinzuweisen, dass hier gewisse Grundrechte verletzt werden. Für was lohnt es sich auch aus philosophischer Sicht zu kämpfen?

Agnes Heller: Ich würde nicht sagen, dass meine Kämpfe ganz unabhängig von meiner Philosophie sind, aber meine Kämpfe sind Kämpfe einer Staatsbürgerin. Das heißt Citizen. Ich nehme in den öffentlichen Diskursen, wenn es um Frauenrechte geht, um Kritik an der heutigen Regierung geht, ich nehme an diesen Diskursen teil als ein Staatsbürger, als ein Citizen, nicht als ein Philosoph. Ich setze mich nicht auf ein hohes Pferd. Das heißt, ich will nicht über Universalien sprechen.

Ich spreche über die Rechte. Ich spreche über die Möglichkeit, über Freiheit in der Situation, wo ich eben lebe. Philosophie ist etwas anderes. Da kann man über allgemeine Sachen sprechen, kann man über Universalien sprechen – und natürlich sie auch verteidigen.

Deutschlandradio Kultur: Frau Heller, ganz herzlichen Dank dafür, dass Sie heute bei uns hier zu Gast waren.