Erzieher zur Demokratie

Von Winfried Sträter |
Mit Gustav Heinemann wird am 5. März 1969 zwanzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik erstmals ein Sozialdemokrat Bundespräsident. Heinemann passte haargenau zur Aufbruchsstimmung unter Kanzler Willy Brandt und dessen Motto "Demokratie wagen" hatte er bereits 1950 vorweggenommen. Wie kein anderer steht er für die Demokratisierung der Bundesrepublik.
5. März 1969: Heinemann (SPD) gegen Gerhard Schröder (CDU). Erstmals haben sich SPD und FDP verbündet, um einen Kandidaten gegen die Unionsparteien durchzubringen. Die Entscheidung fällt im dritten Wahlgang.

Von Hassel: "Für den Kandidaten Dr. Heinemann sind 512 abgegeben worden, für den Kandidaten Dr. Schröder 506 Stimmen"

Zwanzig Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik ist erstmals ein Sozialdemokrat Bundespräsident. Heinemann ist nicht volkstümlich, kein Präsident "zum Anfassen", er ist ein strenger Protestant, Jurist, war Mitglied der Bekennenden Kirche im Nationalsozialismus, Bergwerksdirektor, führender Vertreter des deutschen Protestantismus nach 1945. Ein kämpferischer Demokrat.

Heinemann 1950: "Wir reden davon, dass wir eine Demokratie verteidigen wollen. Dann müssen wir zunächst einmal Demokratie sein und Demokratie riskieren."

Das klingt fast wie Willy Brandts Leitwort in seiner ersten Regierungserklärung 1969: "Mehr Demokratie wagen". Heinemanns Ausspruch stammt allerdings schon aus dem Oktober 1950. Damals war er noch CDU-Mitglied und gerade als Bundesinnenminister im ersten Kabinett Adenauer zurückgetreten. Adenauer hatte ohne Wissen seines Kabinetts den Westmächten die Wiederbewaffnung Westdeutschlands angeboten - Heinemann war ein Gegner der Wiederbewaffnung und zog die persönliche Konsequenz - mit dem Bekenntnis:

"Wer im politischen Amt steht, soll nach einer gewissenhaften Überzeugung handeln und nicht an einem Posten kleben."

Nach dem gescheiterten Versuch, eine Gesamtdeutsche Volkspartei aufzubauen, wechselte Heinemann zur SPD und wurde in der 1966 geschmiedeten Großen Koalition Justizminister. 1969 war Heinemann Willy Brandts Kandidat für das Bundespräsidentenamt, weil er glaubwürdig das Anliegen einer Demokratisierung der Bundesrepublik vertrat.

"Ich danke Ihnen und grüße alle deutschen Bürger."

In diesem Satz nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten steckt schon seine Botschaft an die Nation: Er wendet sich an "alle deutschen Bürger" - beider Staaten. Heinemann will ein Bürgerpräsident sein, in einem politischen Sinne.

"Man hat uns vorgeworfen, dass es uns an selbstbewusstem Bürgermut fehle und uns dies für herrschsüchtige Regierungssysteme anfällig mache. Das Fremdwort für Bürgermut kennen wir besser als das deutsche Wort: Es heißt Zivilcourage."

Heinemann in seiner Weihnachtsansprache 1971.

"Was ich meine, ist etwa dieses: Es ist bequem, unangenehme Wahrheiten zu verschweigen. Es ist bequem, sich um eine Kindesmisshandlung in der Nachbarschaft nicht zu kümmern. Es ist bequem, mit den Wölfen zu heulen, wenn etwa ein Wohngebiet sich gegen ein neues Heim für körperlich oder geistig behinderte Mitmenschen in seinem Bereich wehrt, wie das auch unlängst wieder vorgekommen ist. Bequem ist es ebenfalls, im Betrieb schweigend zuzusehen, wenn ein Gastarbeiter wie ein minderwertiger Mensch behandelt wird."

Heinemann erteilt politische Lektionen. Er ist der Bundespräsident in der Zeit des großen politischen und gesellschaftlichen Aufbruchs. Mehr Demokratie: Das ist für ihn und für die Republik das große Thema seiner Amtszeit. Die größte Tragödie dieser Jahre ist das Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München 1972.

"Fassungslos stehen wir vor einem wahrhaft ruchlosen Verbrechen."

Heinemann bei der Trauerfeier in München. Es ist der bitterste Moment seiner Amtszeit. 1974 endet sie, kurz nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt. Heinemann hat auf eine Wiederwahl verzichtet. Zwei Jahre später stirbt er im Alter von 76 Jahren.