Erzfeind wird Erzengel

Leon de Winter im Gespräch mit Ulrike TImm · 09.09.2013
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter nimmt sich in seinem neuen Buch "Ein gutes Herz" den ermordeten Filmemacher Theo van Gogh vor, der zu Lebezeiten mit antisemitischen Ausfällen schockierte – und schickt ihn als Engel auf Bewährung in den Himmel.
Ulrike Timm: Als im November 2004 der niederländische Filmemacher Theo van Gogh von einem Islamisten auf offener Straße in Amsterdam ermordet wurde, erschütterte das die Niederlande in ihren Grundfesten. Van Gogh war regelrecht geköpft worden und nach seinem Tod diskutierte man über Freiheit und Schutz, über Integration und kritikloses Gutmenschentum. Nun war Theo van Gogh kein sympathisches Opfer: Politisch ein Rechtsaußen, er kritisierte nicht, er beleidigte, und seine antisemitischen Ausfälle waren schockierend. Aber Mord ist Mord.

Dem weltweit erfolgreichen Schriftsteller Leon de Winter warf van Gogh vor, sein Judentum zu vermarkten, und das war noch einer der netteren Anwürfe Theo van Goghs. Die beiden galten als Erzfeinde.

Jetzt hat Leon de Winter ein neues Buch geschrieben, einen Thriller, gewohnt turbulent und voltenreich. "Ein gutes Herz" heißt der Roman und in diesem Buch spielt eben jener ermordete Widersacher Theo van Gogh eine wichtige Rolle. Leon de Winter ist jetzt bei uns im Studio. Herzlich willkommen! Schön, dass Sie da sind.

Leon de Winter: Danke!

Timm: Herr de Winter, man würde ja eine Abrechnung erwarten. Aber Sie stecken Theo – man ist per Du – in den Himmel, zur Bewährung, und er wird sogar zum Engel mit wunderschönen weißen Flügeln und kommentiert das Geschehen auf Erden aus himmlischer Sicht. Ausgerechnet Theo – haben Sie Mitleid mit ihm bekommen, oder ist das die süßeste Form der Rache?

"Theo säuft und kokst auch im Totenreich"
de Winter: Na ja, es hat angefangen natürlich. Ich war wütend, als ich etwas noch entdeckte, so viele Jahre später nach seinem Tod, etwas, das eigentlich die schlimmste Beleidigung war, die er gemacht hat über mich, für mich. Das hat mich so gestört und hat zu schlaflosen Nächten geführt, dass ich an dem Buch, an dem Roman angefangen habe als eine Abrechnung. Aber das ist misslungen. Es ist nicht gelungen, eine Abrechnung zu schreiben.

Es ist eigentlich eine Art Versöhnung geworden. Ich war nicht imstande, diese Wut festzuhalten, zu schützen gegen die Turbolenz dieser Geschichte und die Verrücktheiten und mir vorzustellen, dass Theo da in diesem Totenreich existiert und, wie er das auf der Erde gemacht hat, jedermann beleidigt auch da im Totenreich und säuft und kokst und alles. Es war schrecklich.

Und das hat mir so Spaß gemacht, nicht dass ich vergessen habe, dass es eine Abrechnung sein sollte, aber da entstand eine gewisse Sympathie, obwohl ich das nicht gesucht habe. Er hat mir immer mehr Spaß gemacht und ich war imstande, wie ich ihn sah da in meiner Verbildung im Totenreich, unterwegs zu einer neuen Phase, so wie man das da nennt, weiß ich jetzt.

Timm: Aber er ist eben auch im Himmel ein Berserker?

de Winter: Er ist, wie er auf Erden war.

Timm: Er ist, wie er auf Erden war. Das muss man dazu sagen.

de Winter: Natürlich! er hat sich nicht geändert.

Timm: Es dauert, bis er Flügel bekommt.

de Winter: Und dann kriegt er auch noch eine Ausbildung, weil man hat keine Ahnung, was man mit ihm machen sollte da. Er ist ja gestorben, aber sollte er zum Himmel gehen? – Nein! So ein Mann ist er nicht – Zur Hölle? – Na ja, er war ein Scheißkerl, aber zur Hölle schicken? – nein, das ist zu viel. Also was sollen wir machen?

Er kriegt dann einen neuen Berater. Der sagt, hörst du mal, Theo, ich weiß, was du machen sollst: Du sollst Schutzengel werden, du kriegst eine Ausbildung. Er wird Schutzengel erster Klasse, das ist ziemlich schwierig.

Timm: Es ist eine sehr verwickelte Geschichte, die wollen wir jetzt nicht ins letzte aufdröseln.

de Winter: Nein!

Timm: Sonst sind wir morgen früh noch nicht fertig. Das Buch ist sehr, sehr spannend und es vermischt ganz häufig Fiktion und Realität. Das machen Sie oft, Leon de Winter. Aber "Ein gutes Herz" ist Ihr erstes Buch, wenn ich das richtig weiß, in das Sie sich selber hineingeschrieben haben.

de Winter: Jedenfalls eine Figur mit meinem Namen! Jemand hat da meinen Namen.

Timm: Es ist auch sehr unverkennbar, dass Sie das sind. Die Figur sieht Ihnen sehr ähnlich.

de Winter: Nein, nein, nein, nein. Da irren Sie sich! Nein, nein, nein.

Timm: Ich glaube das nicht so richtig, aber Leon de Winter kommt vor. Warum?

de Winter: Das war was, was notwendig war. Theo wollte in diese Geschichte hinein. Ich hatte einen Traum: Er sagte, was bedeutet das alles, dass du diese Beleidigung gesehen hast auf YouTube, das bedeutet, ich sollte in deine Geschichte hineingehen. Aber nur er und ich nicht, das wäre feige, das wäre schrecklich gewesen. Wenn ich dann mich entscheide, okay, ich sollte Theo van Gogh beschreiben und eine Figur aus ihm machen in meiner Geschichte, dann sollte ich auch erscheinen und dann sollte ich als eine Figur und eine nicht so sehr positive Figur auch da einen Auftritt machen.

Timm: Aber auch Ihre Frau ist drin, Jessica Durlacher, die Sie im Buch verlässt wegen eines anderen Mannes.

de Winter: Ja, schrecklich.

Timm: Ich frage mich natürlich: Hat Sie sich den Mann wenigstens aussuchen dürfen?

de Winter: Ich habe das meine Frau gefragt, ja. Ich habe gesagt: Ich brauche, dass Du mich verlässt in meinem Roman, mit wem möchtest Du mich betrügen, hast Du eine Idee. Und sie antwortete gleich ohne Zögern, also sie hatte schon darüber nachgedacht. "Ein reicher Architekt in Kalifornien", sagte sie.

Timm: Hat sie gekriegt!

de Winter: Und das habe ich als Geschenk meiner Frau gegeben, diese Geschichte.

Timm: Sagt uns Leon de Winter im "Radio-Feuilleton" von Deutschlandradio Kultur. Leon de Winter ist mit seinem neuen Roman "Ein gutes Herz" auf Lesereise. – Es ist eine Menge los in dem Buch. Theo van Gogh sitzt im Himmel und wird Schutzengel. Die Amsterdamer Oper fliegt in die Luft, ein Flugzeug wird entführt, eine Schule überfallen, und die Terroristen – und das finde ich spannend -, die handeln bei Ihnen meist aus persönlichen, weniger aus politischen Motiven. Warum?

"Man wird nicht allein aus politischen Gründen Extremist"
de Winter: Ja, der Leiter dieser kleinen marokkanisch-niederländischen Terroristen, junge Muslime, dieser junge Mann ist angeblich auf der Suche nach Rache, aber Rache im Zusammenhang mit seinem Vater, von dem er sich verlassen fühlt.

Timm: Es ist ein persönliches Motiv?

de Winter: Es ist ein sehr persönliches Motiv, das er natürlich ideologisiert hat, und er benutzt die Rhetorik der Radikalen. Aber unter dieser Oberfläche geht es um eine sehr persönliche Sache.

Timm: Und das hat mich erstaunt, denn Sie gelten ja auch als ein Zeitgenosse, der sich in politische Dinge einmischt. Sie haben sich häufig politisch geäußert, auch in Holland nach dieser Ermordung von Theo van Gogh. Sie haben eine klare Meinung hinsichtlich der Integrationspolitik. Sie sind immer sehr darauf erpicht, dass man die Werte, die man hat, auch schützt.

de Winter: Ja.

Timm: Und Ihre Terroristen jetzt in Ihrem Buch, die handeln eigentlich nicht politisch, die handeln nicht persönlich, die handeln privat.

de Winter: Ja. Man kann einen Roman nur schreiben, wenn man die Figuren respektiert. Ich hätte diesen jungen Mann – Salih heißt er – nicht beschreiben können, wenn ich seinen Charakter nicht verstanden hätte, wenn er eine Psychologie hätte, die mir fremd wäre.

Also ich habe da eine Figur gemalt, beschrieben, die mir irgendwie nahe war, jedenfalls eine Figur, die ich durchschauen konnte, und ich denke, dass es auch in der Wirklichkeit so ist. Auch der Mörder von Theo van Gogh, der echte Mann, Mohammed Bouyeri, hatte sehr persönliche Antriebe auch. Da gab es auch eine Tragödie in seinem Leben, mit seiner Mutter, die früh gestorben ist, und er hat den Skandal ihres Leidens miterlebt, sehr persönlich. Er hatte keine Antworten darauf, war trostlos und hatte dann Antworten gefunden in seiner Religion. Und das hat dann geführt zu einer Radikalisierung und am Ende gab es dann diesen Mord auf Theo. Also man kann das persönlich nie ausschließen, und das habe ich auf meine Weise beschreiben wollen.

Timm: Und meinen Sie, dass das gesellschaftlich zu wenig gesehen wird, dieser Zug, dieser private Zug, warum Menschen aus persönlichen Gründen Terror begehen, dass man zu sehr politisch guckt?

de Winter: Ich denke ich schon. Einerseits hat man eine ideologische Religion oder eine religiöse Ideologie, soll man sagen, mit Wirklichkeitsansprüchen und Ideen darüber, wie die Gesellschaft funktionieren sollte - ich rede jetzt über die Islamisten -, aber ich denke, man bewegt sich nicht zu dieser Radikalisierung, man kommt nicht auf diese extreme Ebene, wenn es da nicht auch sehr persönliche Bedürfnisse gäbe und Wünsche und Träume und Tragödien und Schicksale.

Timm: "Ein gutes Herz" ist trotz oder auch wegen des Spiels zwischen Himmel und Erde ein sehr unterhaltsames Buch. Aber wie Sie bei all den Verwicklungen der Geschichte die Übersicht und die Fäden in der Hand behalten, Leon de Winter, das ist mir schleierhaft. Gibt es über dem de Winterschen Küchentisch so eine Art Personenlandkarte, wer mit wem zu tun hat und wo und wie zusammenrasseln soll? Eine kleine Tabelle reicht ja nicht bei so einem Menschentableau.

"Schreiben wie ein Architekt Häuser plant"
de Winter: Nein, nein, nein. Ich habe ein Jahr lang nur an der Struktur gearbeitet, die Dramaturgie, und ich habe mir alle Kapitel ausgedacht und habe sehr präzise komponiert, weil ich wusste, ich habe so viele Figuren, ich sollte die Übersicht behalten. Es ist natürlich wie ein Architekt ein Gebäude plant, entwickelt, und man wartet natürlich, bis der Plan wirklich gut durchdacht ist, wenn es durchgerechnet ist, wenn man weiß, wie viele Stockwerke, wie viele Zimmer, wo sind die Badezimmer, und alles sollte man wissen, weil man sollte auch alles bestellen und das soll zum Bauplatz gebracht werden, transportiert werden. So arbeite ich eigentlich auch. Ich bin ein Architekt, aber ich bin auch Bauherr.

Timm: Dieser gute angelsächsische Spruch, easy reading, hard writing, was sich leicht liest, das ist harte Arbeit.

de Winter: Easy reading, hard writing – absolutely!

Timm: Stimmt es, dass Sie Krach brauchen, um zu schreiben?

de Winter: Krach? – Na ja. Wenn ich wirklich ganz konzentriert arbeite, wenn ich wirklich schreibe und in dieser Verbildungswelt lebe, dann am Ende des Tages bin ich erschöpft, jeden Tag völlig erschöpft. Das gute ist: Heutzutage bewege ich mich mehr, ich bin ein Sportsmann geworden, obwohl ich Sport eigentlich hasse. Ich liebe es, Sport anzuschauen, aber selbst machen ist nicht mein Ding. Aber dennoch: Iich mache das heutzutage. Ich bin stärker als vor einigen Jahren jetzt. Ich freue mich jetzt auf mein neues Buch. Ich habe die Energie und die Konzentration.

Timm: Kommen wir noch mal kurz zurück zu Theo van Gogh, dem Engel mit den weißesten aller Flügel im Winterschen Himmel, Theo van Gogh, der im Leben Ihr Erzfeind war. So liest man es zumindest überall. Wenn er noch lebte, würden Sie ihm das Buch schicken, oder würden Sie lieber vorbeigehen und ihm das Buch um die Ohren hauen?

de Winter: Ich denke, wenn er noch gelebt hätte, hätte er mich angerufen und gesagt 'Hey, de Winter, du bist ein Arschloch, aber das Buch, das ist toll, ich sollte es verfilmen.'

Timm: Dem ist nichts hinzuzufügen. – Leon de Winter auf Lesereise mit seinem neuen Buch "Ein gutes Herz", sprachlich virtuos, actionreich. "Ein gutes Herz" ist bei Diogenes erschienen und ich bedanke mich sehr für den Besuch hier im Studio.

de Winter: Danke.


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