Erzählung einer abenteuerlichen Flucht

Heike Otto im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Nach mehr als 25 Jahren sprach Heike Ottos Familie erstmals über die Flucht aus der DDR. Der Freund ihrer Schwester schaffte es nicht nur in den Westen. Er kehrte - aus Liebe zu seiner Frau - auf dem selben Weg wieder zurück. Doch er wurde verraten.
Liane von Billerbeck: Drei jungen Männern aus Thüringen gelingt im Winter 1984 eine Flucht über die Grenze über die Grenze aus der DDR. Erstaunlich genug, dass sie dabei nicht gefasst wurden und tatsächlich in den Westen gelangen, unfassbar, dass einer der drei nach wenigen Monaten wieder zurückgeht in die DDR, auf dem gleichen Weg, aus Sehnsucht nach seiner Frau und seinem Sohn. Diese Geschichte und die Folgen der Flucht, bei der auch die Staatssicherheit eine unheilvolle Rolle spielt, eine Geschichte, in der es um Verdächtigungen und Verrat und lange Verdrängtes geht, die hat Heike Otto aufgeschrieben in ihrem Buch "Beim Leben meiner Enkel". Und dieser Titel, der klingt schon wie ein Schwur. Mehr als 25 Jahre nach der Flucht haben die Beteiligten ihr erstmals ausführlich erzählt, wovon in der Familie bisher nur in Andeutungen gesprochen wurde. Heike Otto ist jetzt bei uns zu Gast, herzlich willkommen!

Heike Otto: Hallo!

von Billerbeck: Wie kamen Sie zu dieser Geschichte, oder man muss ja wohl sagen, wie kam die Geschichte zu Ihnen?

Otto: So kann man es auch sagen, genau so ist es. Ich bin ja im tiefen Sachsen, in Riesa, groß geworden, habe da in einer typischen Plattenbauwohnung gelebt, und meine Schwester brachte im Sommer 1986 einen jungen, netten, recht wortkargen Mann mit nach Hause, ihren neuen Freund. Das war der Jürgen und das ist eine der Hauptfiguren dieses Buches. Der Jürgen ist damals, nachdem meine Schwester ihn ein halbes Jahr kannte, etwa ein halbes Jahr, also im Sommer hat sie ihn kennengelernt, im Winter ist er dann sozusagen in mein Kinderzimmer eingezogen, und wenn ich am Wochenende nach Hause kam, dann lebte halt in dieser kleinen Wohnung der Jürgen mit meinen Eltern und ich dazu.

von Billerbeck: Er ist einer der drei Protagonisten Ihrer Geschichte, also einer der drei jungen Männer, die 1984 diese Flucht erfolgreich in den Westen gewagt haben. Erzählen Sie uns diese Geschichte, die ja wirklich abenteuerlich ist, wie sie abenteuerlicher nicht sein könnte.

Otto: Die Flucht im März 1984 war genau, perfekt geplant. Die drei Männer haben ein Holzgerüst gebaut, um über den sogenannten Grenzsignalzaun zu kommen. Über dieses Holzgerüst sind die drei drübergesprungen, ohne diesen Zaun zu berühren, sind dann zur eigentlichen Grenze übers Minenfeld und sind in Bayern angekommen …

von Billerbeck: … und das Ganze bei ganz tiefem Schnee, ziemlicher Kälte und stundenlangem Ausharren an der Grenze. Die Frage ist natürlich, warum wollten die drei in den Westen? Es gab ja unterschiedliche Motive, weshalb Menschen die DDR verlassen wollten.

Otto: Also, bei Jürgen und seinem Bruder gab es einige Gründe, natürlich eine große Unzufriedenheit mit der Regierung selber, mit dem ganzen Leben, mit dem, was es alles nicht gab. Der Jürgen hat damals ein Haus gebaut, hatte keine Baumaterialien, es gab nichts zu kaufen, der war sehr frustriert. Das Entscheidende war aber auch, dass Jürgens und Robertos Mutter aus Mainz stammte und noch vor dem Mauerbau in den Osten, und zwar nach Thüringen zu ihrem Mann gezogen ist, dann kamen die beiden Jungs auf die Welt und man hat sie nach dem Mauerbau nie wieder zu ihrer Familie nach Mainz gelassen. Sie hat mehrere Anträge auf Besuch gestellt und man hat sie damit in gewisser Weise auch schikaniert. Und das hat auf die gesamte Familie natürlich abgestrahlt. Das war ein ganz wesentlicher Punkt.

von Billerbeck: Die drei Männer hatten diesen Plan ja lange sich ausgedacht, hatten ihre Frauen oder Freundinnen da einbezogen, hatten aber beschlossen dann, dass sich ihre jungen Frauen dumm stellen und behaupten sollen, sie hätten davon nichts gewusst. Und dieser Plan ist aber nicht aufgegangen. Haben die alle die Staatssicherheit und das, was dann kommt, unterschätzt?

Otto: Das ist eine interessante Frage, die mir auch im Nachhinein in den Gesprächen mit den Beteiligten unterschiedlich beantwortet worden ist. Also, nachdem die Männer drüben im Westen waren, nachdem die Flucht gelungen war, hat man die drei Frauen sofort abgeholt und hat sie stundenlang befragt, auch die Eltern von Jürgen und Roberto, und da hat die Stasi natürlich ganz genau gewusst, wen kann ich mir von den drei Frauen rausknöpfen, wen nehme ich, um ihn zu erpressen und vielleicht in eine Situation zu bringen, zu sagen, ja, wir wussten das. Und das war in dem Fall dann die Kerstin, man hatte ihr gesagt, dass der Sohn ins Heim kommt und dass sie ihn eventuell nie wieder sehen wird.

von Billerbeck: Nun sind das ja Verdächtigungen, wenn man einen Baustein rauslöst aus dieser Gruppe, einen Menschen so verunsichert, dass er Dinge sagt, die er im Normalfall gar nicht getan hätte, dann hat das ja Konsequenzen. Welche Konsequenzen hatte das in diesem Fall für diese ganze Familie?

Otto: Oh, das hatte viele Konsequenzen. Es ist so, dass die Kerstin damals dann innerhalb der U-Haft wie gesagt mit ihrem Sohn erpresst worden ist, und man hat sie dann im Nachhinein wie die anderen beiden Frauen zwar auch zu 15 Monaten Haft verurteilt, aber sie kam auf Bewährung frei. Das heißt, sie kam zurück nach Steinach, dem Ort, wo sie groß geworden ist und wo die beiden auch lebten, hat ihren Sohn zurückbekommen und ist sozusagen mit Bewährungsauflagen wieder eingegliedert worden in der Region im tiefen Thüringen.

Und Jürgen und sein Bruder Roberto und Pieter waren inzwischen in Mainz, hatten da ihr neues Leben begonnen und nach und nach sickerte das dann langsam nach Mainz durch, was da eigentlich alles passiert ist, dass die zwei Frauen inhaftiert worden sind, dass Kerstin, die Frau vom Jürgen, wieder zurück ist in Thüringen, dass sie nicht mehr in den Westen will, dass sie den Ausreiseantrag zurückgezogen hat, und er wollte das nicht wahrhaben. Nun waren ja die Kommunikationswege damals auch nicht so einfach, Telefonate wurden abgehört, Briefe wurden entweder ganz aus dem Verkehr gezogen oder sie wurden zumindestens von der Stasi gelesen, bevor sie ankamen, und Jürgen wollte das nicht wahrhaben. Und das war der Grund, warum er irgendwann sagte, ich will jetzt die Familie nachholen. Man darf auch nicht vergessen, dass er sagt, er hat mit ihr telefoniert und sie hat zu ihm gesagt, ja, ich will hier raus, bitte hol mich. Und daraufhin hat er nach drei Monaten den Entschluss gefasst, den waghalsigen und sicherlich auch verrückten Entschluss, zurück in den Osten zu gehen, und zwar denselben Weg.

von Billerbeck: Und das ist ihm gelungen, verrückterweise. Er ist dort angekommen, aber dann nahmen die Dinge ihren Lauf und sie führten dazu, dass dieses Paar auseinander kam. Die Frau hatte einen neuen Mann und er landete im Gefängnis. Wie war dieser Lebensweg dieses Jürgen dann weiter?

Otto: Ja, das war für ihn natürlich ein ganz, ganz schlimmer Knacks. Der wollte unbedingt zurück zu seiner Familie, wie auch immer. Eigentlich hatte er vorgeschlagen, dass seine Familie, seine Frau und sein Sohn, mit ihm sofort weiterfahren nach Berlin zur Ständigen Vertretung und dann dort die Möglichkeit bekommen, eventuell auf politischem Weg in den Westen zu kommen. Aber sie hatte das abgelehnt.

Er wurde dann verraten, wurde zu zweieinhalb Jahren Haft auch verurteilt, saß dann letztlich anderthalb Jahre, und als er dann aus dem Knast rauskam, wurde er nach Riesa sozusagen strafversetzt. Also, mit der Zeit im Knast und mit der Entlassung aus dem Knast war das Leiden ja nicht zu Ende, sondern man hat ihn weiter beobachtet, er musste sich weiterhin regelmäßig bei der Staatssicherheit melden, er durfte sich nicht mehr in den Grenzkreisen der DDR aufhalten. Also, er lebte sozusagen in einer kleinen DDR innerhalb der DDR, durfte seine Eltern deshalb nicht mehr besuchen, weil Thüringen gehörte ja, sein Heimatort Haselbach, zu einem der Grenzkreise. Also, es war ein sehr beschränktes und eingegrenztes Leben.

von Billerbeck: So ein traumatisches Ereignis, was damals eine ganze Familie erschüttert hat, wie schwer war es denn jetzt, nach über 25 Jahren, Ihre Verwandten zu überzeugen, diese ganze Geschichte noch mal zu erzählen und sich diese ganzen Schmerzen beim Erzählen ja noch mal anzutun?

Otto: Also, die Gespräche an sich waren sehr schwierig, weil man ja vorher auch nie darüber gesprochen hatte. Das wurde jahrelang … ich will jetzt nicht sagen, verschwiegen, aber man hat sich nie zusammengesetzt und jeder seine Version mal erzählt. Da gab es auch laute Worte und es flossen auch viele Tränen.

von Billerbeck: Die Geschichte einer Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik und zurück 1984 und deren Folgen, die wird in dem Buch "Beim Leben meiner Enkel" erzählt aus der Sicht aller Beteiligten. Heike Otto, die Buchautorin, ist bei uns zu Gast. Sie haben sich ja auch entschlossen, das Wort ist eben schon gefallen, nach diesen Erzählungen, nach diesen Augenzeugenberichten auch die Stasi-Akten über diesen Fall abzudrucken. Und wie das so ist: Selbst, wenn man schon Stasi-Akten gelesen hat – ich kenne solche Akten –, selbst, wenn man deren Wahrheitsgehalt bezweifelt, auch diese Akten haben so was Amtliches. Wie haben Sie diese Stasi-Akten gelesen?

Otto: Also, ich muss ehrlicherweise auch dazu sagen, dass das in gewisser Weise ein bisschen Zufall war. Ich hatte diesen Antrag gestellt auf Einsicht in die Akten, und das dauert ja eine gewisse Weile, bis man da die Berechtigung dafür bekommt. Und in dieser Zeit habe ich erst mal mit allen Beteiligten diese Gespräche geführt. Das heißt, jeder hatte erst mal die Gelegenheit, mir seine Sicht der Dinge zu erzählen. Und dass dann gewisse Dinge in den Stasi-Unterlagen standen, die mit dem Erzählten nicht immer übereinstimmten, das hatte ich erwartet, aber es standen natürlich auch Dinge drin, mit denen ich dann die Beteiligten wieder konfrontieren musste und sagen musste, pass mal auf, der zweite Teil beinhaltet aber jetzt die Stasi-Unterlagen. Und das war sicherlich in dem Fall besonders für die Kerstin sehr bitter und sehr schwierig und ein schwieriger Prozess, um dann überhaupt zu sagen, ich stehe zu dem, was da drin steht.

von Billerbeck: Weil sie hat ja gesagt, ich habe meinen Mann nicht verraten. Und die Akten sprechen eine andere Sprache.

Otto: Ja, die Akten sprechen eine andere Sprache, wobei ich nach wie vor nicht hier behaupten kann, dass sie es wirklich gewesen ist. Laut Stasi-Unterlagen ist sie es gewesen, aber die Stasi hat so viel verdreht und so viel für sich interpretiert, dass ich mir nicht sicher bin, ob … Es wäre eine Variante, dass die Staatssicherheit die Unterlagen auch so formuliert hat, dass sie selber besser wegkommt, weil sie ja ohnehin schon ihr Gesicht verloren hatte durch die Flucht in den Westen und die Rückkehr von Jürgen.

von Billerbeck: Dadurch war ja die scheinbar undurchdringliche Grenze einfach durchlöchert.

Otto: So ist es, da sind damals auch viele Köpfe gerollt. Aber letztendlich werden wir die endgültige Wahrheit so nicht erfahren in dem Buch. Aber ich denke, das Beste ist doch, dass man es liest und sich jeder seine eigene Meinung dazu bildet.

von Billerbeck: Ihr Buch erscheint jetzt, wenige Tage vor dem 13. August. Vor 50 Jahren, am 13. August 61 wurde die Mauer gebaut. Was erhoffen Sie sich von dem Buch?

Otto: Ich erhoffe mir vor allen Dingen, dass ich Leute damit erreiche, die die DDR nicht kannten. Wenn man mal schaut … Selbst im Osten, die Jugendlichen, die jetzt zur Schule gehen, die im Unterricht vielleicht mal zwei, drei Stunden im Jahr dieses Thema behandeln, was wissen die eigentlich noch von der DDR? Und das kann man eigentlich jungen Leuten nur emotional vermitteln, nicht mit Theorien oder mit Geschichtsunterricht. Und deswegen hoffe ich, dass ich viele junge Leute erreiche. Und das finde ich wichtig. Es werden ja heutzutage auch viele Dinge verschleiert und man sagt, ach, so schlimm war es ja letztendlich gar nicht.

Die DDR war auch nicht nur schlimm, ich bin da auch groß geworden und ich hatte eine schöne Kindheit und eine schöne Jugend, aber es gab halt Familien wie die Familie Resch, die hatten unter diesem System extrem zu leiden. Und ich finde, das darf man nicht vergessen.

von Billerbeck: Heike Otto war das, Autorin des Buches "Beim Leben meiner Enkel. Wie eine DDR-Flucht zum Familiendrama wurde". Erschienen ist der Band bei Hoffmann und Campe, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Otto: Bitte schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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