Erzählstrom auf der Blumenwiese

Von Hartmut Krug · 09.09.2011
Andreas Kriegenburg bebildert in Berlin einen traurig schönen Zustand: Jede der fünf Darstellerinnen hat in Jelineks "Winterreise" ihre eigenen Auftritte und wird im Blumenmeer von den anderen szenisch illustriert oder kommentiert.
Die Bühne: eine üppige, wunderschöne Blumenwiese. Eine junge Frau in langem Sommerkleid streift ihren kleinen Rucksack ab, setzt sich an ein Klavier im Blumenmeer und versucht sich an Schuberts Liederzyklus. Während das Licht von gleißend hell zu dramatisch düster hin und her wechselt, werden auch die Gesten der Frau, wenn sie sich verspielt, selbstanklagend dramatisch. Vier weitere grazienhafte Wanderinnen ergehen sich in der Wiese und deuten, aus Tüten Schnee streuend, die Winterreise an. Worauf Schubert/Müllers Zyklus, herrlich gesungen vom Bariton Michael Volle, aus dem Lautsprecher ertönt. So durchziehen nicht nur Zitate aus und Anspielungen an die Winterreise Jelineks Text, sondern in Kriegenburgs Inszenierung auch die Lieder daraus.

Elfriede Jelinek, selber Pianistin und Autorin des Romans "Die Klavierspielerin", hat mit ihrer von Schubert/Müller inspirierten "Winterreise" wie immer einen Text ohne durchgehende Handlung und ohne Aufteilung auf mehrere Figuren geschrieben. Untersucht und befragt werden in einem Denk-, Erzähl- und Bewusstseinsstrom das Erleben von Zeit und das Erfahren von Vergänglichkeit. Es geht im sehr persönlichen wie zugleich politischen Text um Einsamkeit, Liebe und Ferne (auch zu den Eltern), um Vergehen und Vergessen, - und um den Tod. Hier redet jemand, der sein Leben und seine Zeit(lichkeit) erfährt und formen will.

Während Johann Simons bei der Münchner Uraufführung im Februar einen einsamen Wanderer aus wildem Schneesturm zu einem Pianisten im Skianzug ins Offene wehen und in Bewegung sein ließ, bebildert Andreas Kriegenburg einen traurig schönen Zustand. Jede der fünf Darstellerinnen hat in Jelineks Sprachstrom ihre eigenen Auftritte, und jede wird dabei im Blumenmeer von den anderen szenisch illustriert oder kommentiert. Da klammert sich eine Frau an andere oder wirft wie eine Braut einen Hochzeitsstrauß hinter sich. Jemand bastelt sich eine Scherenkrone und eine andere wird ans Klavier gefesselt. Was die eine emphatisch als Leidensgeschichte empfindet, wird von anderen mit oft ironischen Darstellerinnen-Einfällen faxenhaft kommentiert oder konterkariert.

Das hat durchaus charmanten Unterhaltungswert, wegen der tollen Darstellerinnen. Grandios, wenn Anita Vulesica darüber spricht, wie sie im Scheitern einen Weg zu sich zu finden und die Bewegung der Zeit hin zum Vorbei erfahren will. Dabei übersetzt sie Jelineks Worte virtuos zugleich in körperlichen wie sprachlich komödiantischen Ausdruck. Annette Paulmann versprüht viel Direktheit mit Kraft und Witz, und auch Judith Hofmann, Susanne Wolff und Maria Schrader schaut man gerne zu.

Doch alles ist allzu statisch, in einer einzigen schönen szenischen Situation fest gesetzt. Und die böse Aggressivität von Jelineks Text wird weder erreicht, wenn über Natascha Kampusch von Pressevertretern abwehrend geredet wird, noch in der Szene, in der Menschen, die am Fremdenverkehr verdienen, von Vergangenheit, Faschismus und Toten nichts wissen wollen.

Vor allem aber scheitert der Abend nach der Pause: Denn da erzählt Maria Schrader nicht davon, wie die selbstkritische Jelinek und ihre Mutter den dementen Vater ins Spital abgeschoben haben, sondern sie spielt dies mit Pathos und Bedeutsamkeit. Der Versuch, mit den anderen Darstellerinnen, die als komische alte Männer kostümiert sind, eine ironische Distanz aufzubauen, scheitert vor dem Bedeutungsspiel Maria Schraders.

Insgesamt ein zwiespältiger Abend: erst zu schön und dabei schauspielerisch ansehnlich, dann am falschen Pathos scheiternd.

Informationen des Deutschen Theaters Berlin