"Erzählen, wie ich es erlebt hatte"

Moderation: Marie Sagenschneider |
Thomas Buergenthal, Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, hat sich sein ganzes Leben mit dem Thema Völker- und Menschenrecht auseinandergesetzt. Vielleicht ist das kein Zufall, denn der 1934 Geborene überlebte als Kind den Holocaust. Seine Erlebnisse hat er nun in einem Buch verarbeitet: "Ein Glückskind" erzählt von Auschwitz aus der Sicht eines Kindes.
Marie Sagenschneider: Warum bewahren sich die einen ihre Moral selbst in schlimmsten Zeiten, und warum gelingt das anderen nicht? Diese Frage wirft Thomas Buergenthal mehrfach auf in seinem gerade erschienen Buch "Ein Glückskind", in dem er seine eigene Kindheitsgeschichte erzählt. 1934 hineingeboren in eine jüdische Familie, seine Eltern besitzen ein Ferienhotel in der Tschechoslowakei. Die ersten Jahre schildern noch eine Idylle. Dann, Ende der dreißiger Jahre, werden seine Eltern enteignet, und Schritt für Schritt beginnt der Abstieg in die Hölle. Die Familie landet in einem jüdischen Ghetto in Polen, wird von dort nach Auschwitz deportiert und im Januar 1945 auf den Todesmarsch geschickt. Das Ende des Zweiten Weltkriegs hat Thomas Buergenthal im Konzentrationslager Sachsenhausen erlebt.

Angesichts dieser Biografie ist es vielleicht nicht erstaunlich, dass Thomas Buergenthal sich Zeit seines Lebens als Jurist dem Völkerrecht und Menschenrecht gewidmet hat. Derzeit ist er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Heute Abend wird Thomas Buergenthal im Jüdischen Museum in Berlin sein Buch vorstellen, und wir werden ihn jetzt dazu befragen hier im Radiofeuilleton. Herr Buergenthal, ich grüße Sie!

Thomas Buergenthal: Danke, ich freue mich, bei Ihnen zu sein!

Sagenschneider: Ich habe viele Biografien über Holocaustopfer gelesen, aber Ihre ist wirklich etwas Besonderes, weil sie eben aus der Sicht eines Kindes geschrieben ist. Wie schwierig war das eigentlich, mit gut 60 Jahren Abstand sich in, ja, das Empfinden als damals noch nicht mal Zehnjähriger zurückzuversetzen, und das ja auch alles mit dem Wissen, das Sie heute haben?

Buergenthal: Ja, also zuerst hatte ich große Angst, dass es einfach nicht klappen würde. Andererseits wollte ich es wirklich so erzählen, wie ich es erlebt hatte, und als ich erst anfing, dann ging es sogar sehr leicht. Natürlich musste ich immer aufpassen, dass ich die Stimme des Kindes behalte und die Augen des Kindes und nicht von meiner jetzigen Erfahrung sprechen würde.

Sagenschneider: Dass Sie als Kind unter solchen Umständen überhaupt die Nazizeit überlebt haben, das grenzt ja tatsächlich an ein Wunder, und ich nehme an, es wäre auch nicht möglich gewesen, wenn sie nicht ganz schnell gelernt hätten, schon als Kind ziemlich erwachsen und eigenständig zu sein, oder?

Buergenthal: Ja, und ich habe auch unheimlich viel Glück gehabt natürlich. Zuerst war ich zusammen mit meinen Eltern, und die haben mich natürlich immer ganz wunderbar betreut. Aber nach einer Weile entwickelt man dann als Kind die Schlauheit, die man braucht, um zu überleben. Aber das hätte nur damit nicht geklappt. Was mir sehr geholfen hat, war unheimliches Glück und auch sehr viele Leute, die mir im Lager geholfen haben.

Sagenschneider: Das musste ja auch sein, denn in Auschwitz waren Sie ja erst von der Mutter und dann auch vom Vater getrennt, also wirklich auch auf sich selbst gestellt.

Buergenthal: Ja, ganz auf mich selbst gestellt, aber dann war ich natürlich schon so ein Lagerkind, wie die Straßenkinder in Lateinamerika sind und in anderen Ländern. Man weiß dann, wie man überlebt und wie man überleben muss, und das habe ich sehr schnell gelernt.

Sagenschneider: Von Ihrer Familie sind Sie und Ihre Mutter die einzigen, die eben in Europa die Nazizeit überlebt haben, und es war auch gar nicht so leicht, wie ich gelesen habe, sich nach dem Krieg zu finden. Das hat Monate gedauert.

Buergenthal: Ja, nach dem Krieg, also wir waren zweieinhalb Jahre voneinander weg.

Sagenschneider: Dann waren Sie ja in einer schwierigen Situation. Sie hatten nie eine Schule besucht, nie Lesen und Schreiben gelernt, und plötzlich erlebten Sie den Nachkriegsalltag in Göttingen, wo Ihre Mutter aufgewachsen war und wo Sie dann lebten, und sollten plötzlich wieder ein elf- oder zwölfjähriges Kind sein wie die anderen auch. Wie haben Sie sich da gefühlt?

Buergenthal: Zuerst war es sehr schwer für mich, wieder in Deutschland zu sein, und ich hatte immer am Anfang das Gefühl, das sind Leute, die meinen Vater umgebracht haben, meine Großeltern umgebracht haben. Aber nach einer Weile habe ich natürlich gemerkt, meine Freunde in der Schule, die haben ja damit nichts zu tun gehabt, und dann habe ich mich einfach ziemlich gut eingelebt.

Sagenschneider: Trotzdem: Wie haben Sie denn diese Gefühle von Hass und Gewalt überwunden? Sie beschreiben das auch sehr beeindruckend, wie Sie als Kind in Göttingen auf dem Balkon Ihrer Wohnung stehen und sich wünschen, ein Maschinengewehr zu haben, um all diejenigen, die da friedlich rumlaufen und am Leid Ihrer Familie schuld sind, die Deutschen eben in Gänze, die einfach umbringen zu können.

Buergenthal: Ja, das Gefühl hatte ich natürlich, dieses Hassgefühl, mit dem ich ankam. Aber glücklicherweise hat es nicht sehr lange angedauert, und nach einer Weile lernt man Freunde kennen, Familien kennen, und man sieht die Menschen gar nicht mehr so, wie ich sie gesehen habe, als die Gestapo und die SS, die uns so schrecklich behandelt haben.

Sagenschneider: Und trotzdem, Herr Buergenthal, haben Sie sich mit 17 gesagt, wenn ich in diesem Land, also Deutschland, bleibe, dann kann ich meine Vergangenheit einfach nicht abschütteln.

Buergenthal: Es war auch mehr, etwas mehr. Ich hatte immer das Gefühl, obwohl ich mich in Göttingen sehr wohl fühlte, ich war auf der Schule und hatte viele Freunde, ich hatte immer das Gefühl, dass ich nicht richtig Deutscher sein könnte. Das Lager war noch immer da, und das hing gar nicht mit einem Hassgefühl zusammen, sondern ein Gefühl, dass ich etwas anders dachte und mich auch anders benehmen und ein ganz anderes Leben haben möchte als meine deutschen Freunde.

Sagenschneider: Und Sie haben sich dann auch ein neues Leben gesucht, sind 1951 in die USA ausgewandert, haben Jura studiert und sich Zeit Ihres Lebens mit Völkerrecht und Menschenrecht befasst. Seit einigen Jahren sind Sie nun Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Im Nachhinein, was würden Sie sagen, Herr Buergenthal, wie bestimmend waren Ihre Erfahrungen im Holocaust für Ihren Lebensweg?

Buergenthal: Sie haben natürlich unheimlich viel damit zu tun gehabt, obwohl ich hab es am Anfang gar nicht richtig gemerkt. Ich habe Jura studiert und dann langsam angefangen, also dann fing ich an, mich zu interessieren für Menschenrechte, für Völkerrecht. Ich wollte nie Anwalt werden und merkte auf einmal, dass es für mich nur einen Beruf gab, und das waren Völkerrechte und Menschenrechte, dass ich einfach verstand, wie man sich fühlt, wenn man seine Menschenrechte nicht hat. Und deshalb musste ich einfach etwas auf diesem Gebiet machen.

Sagenschneider: Umso spannender ist für uns natürlich die Frage, wie sich das Ihnen darstellt in den USA. Seit dem 11. September 2001 sieht man sich im Krieg, die Regierung Bush hat es verkündet, und ich glaube doch, ein Großteil der Bevölkerung empfindet das auch so. Nun ist Ihnen die USA zur neuen Heimat geworden, und, ja, wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?

Buergenthal: Also meines Erachtens hat man große Fehler begangen in der USA, dass man vergessen hat, dass man den Terrorismus nicht ohne Menschenrechte bekämpfen kann. Ich habe immer das Gefühl, dass man bei diesem Kampf langsam in die Gefahr lief, einfach die amerikanische Seele zu verlieren. Aber ich glaube, das ändert sich jetzt, und das sieht man ja schon nach den letzten Wahlen.

Sagenschneider: Weil das System von Check and Balances, der demokratische Ausgleich sozusagen wieder mehr funktioniert?

Buergenthal: Ja, der hat früher nicht funktioniert, also das heißt in den ersten sechs Jahren, und natürlich war das ganze Land auch von einer Angst begriffen, das ich gar nicht verstehen konnte.

Sagenschneider: Wir nachhaltig ist das, was geschehen ist? Also wir haben Häftlinge in Guantanamo, deren Rechte eingeschränkt sind. Bürgerliche Freiheiten sind eingeschränkt worden. Es ist ernsthaft und öffentlich darüber diskutiert worden, ob Folter legalisiert oder zumindest teilweise legalisiert werden soll. Man stellt sich vor, wenn das jahrelang stattgefunden hat, dass es auch nachhaltigere Wirkung haben muss, dass man das nicht einfach wieder vom Tisch fegen kann.

Buergenthal: Nein, das wird ein bisschen dauern, aber ich glaube, da muss ehrlich sagen, das sage ich mal auf Englisch, I have great faith in the ultimate wisdom of the american people.

Sagenschneider: Sie haben großes Vertrauen in das amerikanische Volk, in die Weisheit des amerikanischen Volkes.

Buergenthal: Die machen oft sehr viele Fehler, aber dann kommt doch der demokratische Glaube wieder zurück. Es wird natürlich dauern. Man kann es nicht von einem Tag auf den anderen ändern, aber ich bin sicher, dass es sich ändern wird.

Sagenschneider: Aber was hat das für Sie bedeutet, Sie, der sich eben ein Leben lang für die Menschenrechte einsetzen und plötzlich in einer Situation sich befinden, in der man ja möglicherweise auch sagt, Menschenrechtler in den USA gelten fast schon als Sicherheitsrisiko?

Buergenthal: So schlimm ist es auch wieder nicht. Nein, es ist für mich, ich habe es zuerst gar nicht richtig verstehen können, und ich muss sagen, es hat mir unheimlich wehgetan, denn das ist meine Heimat. Das Land hat mir alles gegeben, was ich jetzt habe, und auf einmal zu sehen, dass das Land, wo ich mich sehr wohl fühlte über Menschenrechte überall in der Welt zu sprechen als Amerikaner, dass ich auf einmal merkte, dass ich das gar nicht konnte, weil Leute es einfach nicht mehr glauben wollten. Und das tut natürlich sehr weh.

Sagenschneider: Sehen Sie das eigentlich als Problem insgesamt der westlichen Demokratien, eine Reaktion auf diesen Terrorismus, mit dem man auch erstmal zu Rande kommen muss, auf den man sich einstellen muss, dass bürgerliche Freiheiten ja doch durch die Bank in wirklich vielen Staaten wirklich peu a peu abgebaut werden, und in Großbritannien zum Beispiel ist es relativ extrem?

Buergenthal: Ich glaube, wir müssen uns einfach dagegen wehren. Aber ich glaube doch, die Diskussion, die man jetzt in Europa hört und auch die Kritiken gegenüber den Vereinigten Staaten, das ist gut. Ich glaube, wir finden wieder unseren Weg zurück zu Menschenrechten.

Sagenschneider: In gewisser Weise sind wir damit auch bei der Frage noch mal, die Sie mehrfach in Ihrem Buch "Ein Glückskind" aufwerfen, nämlich, warum bewahren sich einige ihre Moral selbst in schwierigen Zeiten, warum andere nicht? Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?

Buergenthal: Leider nicht. Wenn ich die Antwort hätte, dann könnte man ja viel damit anfangen. Nein, aber ich muss sagen, das ist so, dass ich das oft gemerkt habe, dass es von ganz unerwarteten Menschen kommt, Leute, wo man sagen würde, also die würden doch nicht den Mut haben, irgendwie gegen die Regierung zu gehen und Menschenrechte nicht zu verletzen. Aber dann passiert es, und das habe ich auch im Lager von Deutschen gesehen und natürlich auch von vielen Leuten im Lager selbst. Andererseits hat man ja schreckliche Sachen gesehen und Leute, die ihre ganze Menschenwürde verloren haben. Aber warum das ist, das weiß ich leider nicht. Es wäre schön, wenn ich es wissen würde.

Sagenschneider: Herr Buergenthal, ich danke Ihnen!