Erwachsenwerden in einer unruhigen Zeit

31.07.2009
Alice Greenways Debütroman "Weiße Geister" schildert die Geschichte der amerikanischen Schwestern Kate und Frankie, die im Schatten des Vietnamkrieges und der chinesischen Kulturrevolution in Hongkong aufwachsen.
Die im Titel genannten Geister bevölkern das ganze Buch, das mit dem Ritual chinesischer Fischer beginnt, die am Ende des Sommers Papierschiffchen mit Lebensmitteln auf Meer setzen, um die Hungergeister zu beschwören. So tauchen wir von der ersten Zeile an in eine fremde Welt, eine Welt, in der heißer Regen fällt, in der die Wände von Schimmel durchzogen sind, in der es Gerüche gibt "von getrockneten Austern, von Haaröl, mit Gewürznelken versetzt, von Tigerbalsam, von Räucherstäbchen". Der Reiz dieser exotischen Fremde liegt gerade in ihrer Mischung aus Anziehendem und Abstoßendem, wobei vieles von dem, was uns zivilisierte Großstädter ekeln mag, für die Ich-Erzählerin Kate und ihre Schwester Frankie einfach nur selbstverständlicher Teil der Welt, der wild wuchernden Vegetation ist, die sie umgibt. Die beiden pubertierenden amerikanischen Mädchen leben mit ihrer Mutter in Hongkong, während ihr Vater – die Handlung spielt im Jahr 1967 – als Kriegsfotograf in Vietnam arbeitet und seine Familie alle sechs Wochen besucht.

Doch kann man eigentlich von einer Handlung sprechen? Sicher geschehen verschiedene Dinge. Beide Mädchen werden traumatisiert, als sie im Menschengewühl ihrem chinesischen Kindermädchen entwischen. Beide verlieren ihre Unschuld, und Frankie schließlich ihr Leben, doch vor allem erscheint der Text als der Versuch, durch die verschiedensten Assoziationen Erinnerungen und vergangene Gefühle wieder greifbar zu machen. Und dabei geht es eben nicht so sehr um konkrete Geschehnisse als vielmehr um eine bestimmte Atmosphäre, die Alice Greenway meisterhaft zu schaffen versteht.

Da die Autorin im letzten Satz der Danksagung ihren Eltern dafür dankt, "dass sie mich nach Hongkong gebracht haben", ist man versucht, einen autobiographischen Hintergrund zu vermuten, doch ist Kate zehn Jahre älter, als Alice es 1967 war, und die politischen Wirren der Zeit – ob Vietnam-Krieg oder die Rotgardisten – sorgen dafür, dass die Geschehnisse klar datiert werden können. Sie spielen aber vor allem insofern eine Rolle, als die Mädchen durch diese Entwicklungen früher und vielleicht radikaler verstehen, dass die Welt eben keineswegs eine heile ist, früher zumindest als sie es im heimatlichen Vermont begriffen hätten.

All dies erfahren wir in einem dicht verwobenen Geflecht aus Gedanken, Überlegungen, Ängsten, Wünschen und Sinneseindrücken, in dem Kate ihre Zeit in Hongkong rekonstruiert und vielleicht erst in ihrer wirklichen Bedeutung entstehen lässt. Als Leser taucht man somit in die fremdartige Atmosphäre des Buches ein, doch bleibt letztlich stets ein Schleier, der Kates Allerinnerstes vor uns verhüllt. So ist das Buch intim, ohne dabei voyeuristisch zu sein.

Von Carolin Fischer

Alice Greenway: Weiße Geister
Aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschahn
Marebuchverlag, Hamburg 2009
220 Seiten, 19,90 Euro