Erwachen im Angesicht der Mauer

Eli studiert in der Nachkriegszeit Kinematografie in Potsdam. Das Studium eröffnet ihr neue Welten. Um sie herum wird ihre Welt jedoch kleiner: Die innerdeutsche Mauer wird gebaut. Eli lernt, dass es nicht darauf ankommt, im Chor zu singen, sondern eine eigene Stimme zu haben.
In Helga Schütz' 2005 erschienenen Roman "Knietief im Paradies" will die reale Wirklichkeit der im Bombenhagel zerstörten Stadt Dresden nicht zu den Vorstellungen eines paradiesischen Gartens passen. Die in Trümmern liegende Stadt war kein paradiesischer Ort. Aber in der Nachkriegszeit, in der Eli, die eigentlich Rafaela Reich heißt, eine Lehre als Gärtnerin beginnt, herrscht Frieden und der kommt ihr, die den Krieg überlebt hat, wie das Paradies vor. Eli ist auch in Helga Schütz' neuen Roman "Sepia" die zentrale Figur.

Aus ganz pragmatischen und nicht aus ästhetischen Beweggründen entscheidet sich Eli, die gerade siebzehn geworden ist, Kinematografie in Potsdam zu studieren. Sie fühlt sich nicht im Geringsten berufen, doch verlockend klingen die Versprechen, man würde den Studenten ein eigenes Bett und ein tägliches Mittagessen bieten. Dass sie angenommen wird, verdankt Eli ihrer proletarischen Herkunft. Überzeugen konnte sie die Aufnahmekommission durch ihre Ausführungen zur Metamorphose der Pflanze. Nun solle sie mit Hilfe der Fantasie erkennen, was sich in der Natur zeigt und das Erkannte in die Kunst übertragen. Während ihr Großvater "schwarz" sieht, gibt die Hochschule grünes Licht für das Experiment Rafaela Reich.

Das Studium eröffnet ihr neue Welten. Sie liest Brechts "Kriegsfibel", Hegels Ästhetik und Ernst Bloch. Jeweils montags kann sie in der Hochschule Filme sehen und begegnet so den Klassikern der Stummfilmzeit, Filmavantgardisten wie Bunuel und mit Truffaut und Bergmann lernt sie die neuen jungen Meister des Kinos kennen. Eli ist neugierig. Doch da man ihr in ihrem Zulassungsbescheid bescheinigt hat, dass sie von "schöpferischen Aufgaben befreit" ist, studiert sie, ohne künstlerische Absichten zu verfolgen.

Helga Schütz erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in einem Land aufwächst, das sich viel vorgenommen hat. Aber der Frieden, in den Eli hineinwächst, ist ein kalter Krieg. Sie merkt es zunächst kaum. Doch dann liegt die Hochschule plötzlich im Grenzgebiet und die Mauer ist nicht zu übersehen. Sie kann zusehen, wie sie zementiert wird, weil sie lange halten soll, ohne jedoch von Dauer zu sein. Das Land, das die Mauer gebaut hat, erscheint in einem bestimmten Licht, aber Helga Schütz lenkt die Aufmerksamkeit auch auf Eli, die in diesem Land aufwächst.

Sie erzählt, parallel zu Elis Lebensgeschichte, die Geschichte der Laokoon-Gruppe, mit der sich die Studentin im Zusammenhang mit einer Seminararbeit befasst. Mit detektivischem Gespür und mit Hilfe ihrer Freundin Erika, die in den Westen gegangen ist, und in Rom lebt, recherchiert sie, was es mit Laokoons Arm auf sich hat, der zunächst fehlt, und der bei Restaurierungsarbeiten ergänzt wir. Seinen neuen rechten Arm streckt Laokoon nach oben, während der richtige Arm, den Ludwig Pollack fand, eine ganz andere Deutung des dramatischen Geschehens nahelegt. Auf Grund des falschen Arms ist die Skulptur über Jahrhunderte falsch gedeutet worden. Erst als der richtige Arm angebracht wird, stellt sich heraus, dass das Bild, das man sich gemacht hat, nicht stimmt. Eli entwickelt bei ihrer Arbeit ihr Kunstverständnis und sie lernt Menschen kennen, die gegen vorherrschende Meinungen opponierten.

Helga Schütz hat einen bemerkenswerten Roman geschrieben. In knappen Sätzen, fast protokollarisch, erzählt sie Elis Geschichte, die lernt, dass es nicht darauf ankommt, im Chor mitzusingen, sondern sich mit unverwechselbarer Stimme zu Wort zu melden.

Besprochen von Michael Opitz

Helga Schütz: "Sepia"
Aufbau Verlag, Berlin 2012
393 Seiten, 22,99 Euro
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