Stolz und Vorurteil
Fast 100.000 deutsche Juden zogen 1914 in den Ersten Weltkrieg, viele von einem glühenden Patriotismus beseelt. Dennoch wurde den Juden "Drückebergerei" vorgeworfen und Hetze gegen sie betrieben.
"Stärker als je zuvor lodert in uns die Liebe zum deutschen Vaterland. Dass leider Gottes in der Heimat die ehrlosen Stimmen der Verleumdung noch nicht verstummt sind (…) macht uns traurig. Was wollen sie denn mehr als unser Blut? Mögen sie doch an dem vergossenen unserer Glaubensbrüder ihre Rassestudien treiben."
Der Infanterie-Leutnant der Reserve Fritz Mayer an seine Eltern.
"Am Morgen weckt mich der Trompeter. Die Strapazen der Felddienstübung und des Marsches ertrage ich mühelos. Ich bin froh darüber: Das Blut für das Vaterland fließen zu lassen ist nicht schwer."
Der Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank an eine Freundin.
"Ich bin als Deutscher ins Feld gezogen, mein Vaterland zu schützen. Aber auch als Jude, um die volle Gleichberechtigung meiner Glaubensbrüder zu erstreiten."
Text auf einem Zettel, den der Jagdflieger Leutnant Josef Zürndorfer bei sich trug, als seine Maschine bei einem Übungsflug in Berlin-Johannisthal abstürzt.
Das Vaterland bis zum letzten Blutstropfgen verteidigen
Drei Stimmen jüdischer Soldaten des Ersten Weltkriegs. Stimmen, die alle von der Liebe zum deutschen Vaterland sprechen. Und davon, dass die Soldaten dieses deutsche Vaterland bis zum letzten Blutstropfen verteidigen werden. Keiner der Schreiber hat den Krieg überlebt. Doch alle drei mögen geahnt haben - den Schluss legen ihre Briefe nahe - dass der Dank dieses Vaterlandes ausbleiben wird.
Kaiser Wilhelm II.: "Es muss denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Drum auf! Zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross."
Die Kriegsbegeisterung, die bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs um sich greift, versetzt auch die deutschen Juden in einen patriotischen Rausch:
Kaiser Wilhelm II.: "Wir werden diesen Kampf bestehen, auch gegen eine Welt von Feinden. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war."
"Dass jeder deutsche Jude zu Opfern an Gut und Blut bereit ist, ist selbstverständlich"
Alle großen jüdischen Organisationen rufen ihre Mitglieder als Freiwillige zu den Fahnen. So heißt es in einem Aufruf des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" vom 1. August 1914:
"Glaubensgenossen! In schicksalsernster Stunde ruft das Vaterland seine Söhne unter die Fahnen. Dass jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Blut bereit ist, ist selbstverständlich. Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterlande zu widmen."
Viele wollen sich als gleichberechtigte Staatsbürger beweisen
Der Appell fällt auf fruchtbaren Boden. Rund 100.000 jüdische Soldaten, unter ihnen 10.000 Freiwillige eilen zu den Fahnen.Der Münchner Historiker Professor Michael Brenner:
"Die deutschen Juden vor dem 1. Weltkrieg haben versucht, sich als 'deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens' zu beweisen, sie waren erst relativ frisch emanzipiert, zu gleichberechtigten deutschen Staatsbürgern geworden mit der Reichsgründung 1870 /71. Mit der neuen Verfassung, die nicht mehr zwischen den Religionen unterschied, waren sie jetzt auch mit allen Rechten und Pflichten deutsche Staatsbürger und haben das versucht zu betonen."
Die jüdischen Deutschen, so der Potsdamer Militärhistoriker Michael Berger,verbinden mit ihrem Einsatz an der Front ganz konkrete Hoffnungen:
"So sahen viele Juden die Chance, durch ihr militärisches Engagement gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Ohne Zweifel hat die nationale Begeisterung jüdischer Soldaten und Offiziere zuletzt im Ersten Weltkrieg für Respekt und Anerkennung bei vielen ihrer nichtjüdischen Kameraden gesorgt."
Deutsch sein, ohne das Judentum über Bord zu werfen
Seit ihrer rechtlichen Gleichstellung sind die Juden im deutschen Kaiserreich zu einem Teil des Bürgertums geworden, haben seine Werte, seine politischen Orientierungen und Bildungsideale übernommen. Viele von ihnen sehen nun ihre Aufgabe darin, ihre jüdische Identität in einer sich ändernden, vor allem aber stark säkularisierten Welt zu bewahren oder neu zu definieren:
Brenner: "Ich würde sagen, dass während des Kaiserreichs die meisten deutschen Juden versuchten, den Weg in die Gesellschaft hinein zu finden, Deutsche zu werden, ihr Judentum nicht unbedingt über Bord zu werfen, vor allem aber ihr Deutschsein zu betonen. 1893 gründeten sie den 'Centralverein der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens'. Da ist vielleicht schon die Betonung klar: deutsche Staatsbürger an erster Stelle, und das Judentum ist auf das religiöse Element, auf den Glauben beschränkt."
Und doch macht sich gleichzeitig noch ein anderer Trend bemerkbar:
Brenner: "Eine Zunahme des Antisemitismus, eine Bedrohung des neugewonnenen Status' als gleichberechtigte Bürger. Und gerade in Vereinen, politischen Gruppierungen und sozialen Gruppen fühlten sich viele Juden ausgeschlossen. Es gab Turnvereine, Studentenvereine, die jetzt zunehmend jüdische Mitglieder ausschlossen. Und das führte natürlich dazu, dass viele sozusagen gegen ihren Willen in eine jüdische Identität, ein jüdisches Milieu zurückgebracht wurden."
Und so ziehen die deutschen Juden Seite an Seite mit ihren christlichen Kameraden in den Krieg. Und ahnen nicht, dass dieser Krieg der grausamste und blutigste der europäischen Geschichte werden wird.
"Süß und ehrenvoll sei es, hat man ihnen gesagt, für's Vaterland zu sterben. Und nun erleben sie, wie schwer es sich stirbt - in Flandern und Galizien, in Frankreich, in Kurland, in den Schützengräben zwischen Ypern und Verdun, unter dem Trommelfeuer der Artillerie, den Salven der Maschinengewehre."
Erstmals werden Feldrabbiner an die Front berufen
Die konfessionellen Unterschiede in diesem Kampf, der alle Patrioten einen sollte, scheinen zunächst bedeutungslos geworden zu sein. So werden jetzt erstmals Feldrabbiner zur Betreuung der jüdischen Frontkämpfer berufen. Der Berliner Historiker Dr. Hermann Simon:
"Diese Rabbiner umreißen ihre Tätigkeit natürlich im Stil der Zeit: Ein Rabbiner, Leo Baerwald, im Westen tätig, schreibt: Draußen, also im Feld, ist es mein Amt, unseren Brüdern ein Stück der Heimat zu bieten, den Teil der Heimat, dem ihre ganze Liebe und Sehnsucht gehört. Das ist natürlich sehr pathetisch, aber so schrieb man. Die mühten sich halt wie jeder Seelsorger in dieser Situation um die ihnen Anvertrauten. Seelsorge im klassischen Sinne."
Allmählich flammt der alte Judenhass wieder auf
Mit dem Fortschreiten des Krieges und dem Ausbleiben militärischer Erfolge, nehmen Nöte, Opfer und Entbehrungen im Feld wie in der Bevölkerung zu. Durch die Verschärfung der sozialen Spannungen und die Suche nach Schuldigen an der drohenden Niederlage, flammt der alte Judenhass wieder auf. Auch die Beförderung jüdischer Unteroffiziere in Offiziersränge ist bald rückläufig, sieht sich doch das traditionell aristokratische, häufig antisemitisch eingestellte Offizierskorps durch jüdische Offiziere in seiner Exklusivität bedroht.
Und noch während die deutschen Juden im Feld ihr Leben aufs Spiel setzen, zweifeln völkische Kreise an ihrer Pflichterfüllung, ihrem Patriotismus, nimmt auch die antisemitische Hetzpresse ihre Diffamierungskampagnen wieder auf. Für die jüdischen Soldaten kommt nun die größte Demütigung:
Die Demütigung der Judenzählung
Brenner: "Die Judenzählung 1916. Da wurde von der preußischen Armee angeordnet, dass alle jüdischen Soldaten gezählt werden sollten. Das alleine war für diese jüdischen Soldaten schon eine Demütigung. Warum wurden sie jetzt wieder ausgesondert? Man fragt ja nicht: Wer war katholisch und wer evangelisch? Der Grund, den man angab für diese sogenannte Judenzählung, dass man nachweisen wollte, dass die Juden in gleichem Ausmaße dienten wie die nichtjüdischen Deutschen. Das war der offizielle Grund, den man gab."
Den im Übrigen auch niemand glaubt. Verbittert kommentiert der Feldrabbiner Georg Salzberger:
"Die Kluft zwischen Juden und Christen, die überbrückt gewesen war, tut sich von Neuem auf. Der Jude fühlt sich als Gezeichneter."
Die "Judenzählung" - schon die Art dieser Erhebung offenbart ihre antisemitischen Beweggründe - fällt jedoch anders aus als erwartet. Für "jüdische Drückebergerei" gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Tatsächlich liegt der Prozentsatz der jüdischen Freiwilligen über dem Gesamtdurchschnitt der deutschen Bevölkerung. Das Ergebnis wird denn auch erst Jahre nach dem Krieg veröffentlicht, aber das Gerücht über die mangelnde jüdische Kampfmoral ist nicht mehr auszurotten. Überdies werden Juden von radikalen antisemitischen Organisationen wie dem "Alldeutschen Verband" und dem "Reichshammerbund" als angebliche "Kriegsgewinnler" an den Pranger gestellt. Hellsichtig notiert der spätere Reichsaußenminister Walther Rathenau im August 1916:
"Der Hass wird sich verdoppeln und verdreifachen"
"Je mehr Juden in diesem Kriege fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass sie alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu treiben. Der Hass wird sich verdoppeln und verdreifachen."
Er soll recht behalten. Während jüdische Soldaten zusammen mit ihren christlichen Kameraden vor Verdun verbluten und auch im Osten die Kämpfe mit unverminderter Härte weitergehen, erscheint in den Zeitungen der Heimat eine antisemitische Schmähschrift - in Form eines Gedichts, das überall kursiert und für hitzige Debatten in der Bevölkerung sorgt. Das Machwerk hat unzählige Strophen. Sein Kern ist die Behauptung, die deutschen Juden seien Drückeberger und Feiglinge, die sich überall herumtrieben, nur eben nicht im Schützengraben. Jede Strophe endet mit dem Refrain:
"Überall grinst ihr Gesicht /
nur im Schützengraben nicht."
12.000 jüdische Frontsoldaten fallen im Kampf
Als die Gerüchte von der "jüdischen Drückebergerei" auch nach dem Krieg nicht verstummen wollen, geht der 1919 gegründete "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" mit einem Flugblatt gegen diese Diffamierung vor:
"An die deutschen Mütter! Christliche und jüdische Helden haben gemeinsam gekämpft und ruhen gemeinsam in fremder Erde (…) Blindwütiger Parteihass macht vor den Gräbern der Toten nicht halt. (…) Deutsche Frauen, duldet nicht, dass die jüdische Mutter in ihrem Schmerz verhöhnt wird."
Als der Krieg 1918 zu Ende und verloren ist, haben rund 100.000 jüdische deutsche Soldaten mit ihren christlichen Kameraden mitgekämpft und mitgelitten, mitgehungert. 12.000 jüdische Frontsoldaten waren im Kampf gefallen. 35.000 waren mit Orden und militärischen Auszeichnungen zurückgekehrt.
Auf den viel zitierten "Dank des Vaterlandes" sollten sie vergebens warten. Rainer Hoffmann von der Jüdischen Gemeinde Duisburg:
"Ich hab einen Großonkel, der im Ersten Weltkrieg gedient hat, stolzer Träger des Eisernen Kreuzes war, auch aktives Mitglied im 'Reichsbund jüdischer Frontsoldaten'. Es hat ihm allerdings nichts genützt, er ist dann 1944 deportiert worden und ist nicht zurückgekommen."