Erster Weltkrieg

Flanders Fields

Ein deutscher Soldat in einem Schützengraben vor Ypern am 24. April 1915.
Ein deutscher Soldat in einem Schützengraben vor Ypern am 24. April 1915. © picture alliance / dpa
Von Susanne von Schenck  · 13.08.2014
Am 4. August 1914, drei Tage nach Kriegsbeginn, marschieren die Deutschen mit einer Million Soldaten in das neutrale Belgien ein. Was als schneller Durchmarsch nach Frankreich gedacht war, endet in einem vierjährigen Stellungskrieg mit Hunderttausenden Toten, zerstörten Städten und verwüsteten Landschaften.
"Wir stehen am Pilkemrich, einem wichtigen Ort am Ypernbogen."
Es schüttet in Ypern, Regen hat das Gelände im Norden der Stadt in ein Schlammfeld verwandelt.
"Hier fand 1915 der erste Gasangriff der Deutschen statt. Und 1917 begann dann die dritte Ypernschlacht. Wir stehen gerade auf der früheren zweiten Linie des Ypernbogens, die erste ist auf der anderen Straßenseite und die dritte Linie hinter uns."
Simon Verdeken, der mit einem archäologischen Ausgrabungsteam das unwirtliche Gelände durchforstet, zeigt ein Fundstück des Tages.
"Das hier ist ein typisch britischer Schuh. Man kann das an der Nagelreihe erkennen. Jedes Land hat unterschiedlich genagelt, daran kann man feststellen, woher sie kommen."
Vor hundert Jahren standen sich hier Briten und Deutsche gegenüber - in einem unerbittlichen Grabenkrieg. Einige britische Schützengräben mit ihren verwitterten Holzplanken haben Simon Verdeken und sein Team in den letzten Wochen freigelegt.
"Hier ist der Eingang zum Unterstand. Sie konnten hier nicht sehr tief graben, weil es zu feucht war. Der Grundwasserspiegel ist zu hoch. Wenn sie mehr als zwei Meter tief gegraben hätten, hätten sie die ganze Zeit im Wasser gestanden."
Spuren der Kriegsjahre finden sich überall in und um Ypern: im Erdreich, in den Häusern, an den Straßenrändern, in den Familien.
"Ich habe einen Urgroßvater, der im Ersten Weltkrieg kämpfte und überlebt hat. Aber als ich meine Großmutter frage, wo ihr Vater gekämpft hat, in welchem Regiment er war, wusste sie nichts. Mich interessiert das sehr, ich versuche, so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen."
"Mein Großvater war Spion für die Engländer, er hat ein Buch darüber geschrieben: 'Meine Flucht nach Holland'. Er hat den Krieg überlebt. Jede Familie hier in Belgien kann etwas erzählen."
"Meine Schwester kam vor ein paar Jahren und versuchte herauszufinden, wo mein Großvater begraben ist. Aber wir konnten bisher nichts finden."
"Ich wuchs in einem kleinen Dorf auf, in dem es drei Militärfriedhöfe gab. Hier lernt man die Geschichte nicht, man wird in ihr geboren."
Belgien. Das Land war neutral, es hätte eigentlich nicht in das Zentrum des europäischen Totentanzes geraten dürfen. Am 1. August 1914 schrieb der belgische König Albert I. einen Brief an seinen Vetter Kaiser Wilhelm II.:
//"Euere Majestät und lieber Vetter,
Der Krieg welcher zwischen den beiden Nachbar Mächten auszubrechen droht, gibt mir, wie Du leicht verstehen wirst, zu schweren Bedenken Anlass. Eure Majestät und Seine Regierung haben zu wiederholten Malen wertvolle Beweise Seiner Freundschaft und Sympathie gegeben und bevollmächtigte Persönlichkeiten haben uns die Versicherung gegeben im Falle eines neuen Konfliktes die Neutralität Belgiens zu respektieren. Die verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen welche unsere beiden Familien eng verbinden, haben mich dazu bestimmt Dir heute zu schreiben und mit diesem Vertrauen bleibe ich stets Dein herzlich ergebenen Vetter Albert."//
Vergeblich. Am 2. August 1914 übergibt Claus von Below, deutscher Botschafter in Belgien, der Regierung in Brüssel eine diplomatische Note: auf dem Weg nach Frankreich bitten die deutschen Truppen um freien Durchzug. Für die Antwort hat die belgische Regierung zwölf Stunden Zeit - sie lehnt ab.
"Alle beteiligten Länder spürten in diesen Tagen Ende Juli, dass es nur einen einzigen möglichen Weg gab: vorwärts. Das war das eine."
Sagt Piet Chielens, Leiter des "Flanders Fields Museum" in Ypern.
"Das andere war, dass Belgien für die Deutschen unmittelbar der vorgegebene Weg war, nämlich der, der im Schlieffen-Plan ja schon Jahre vorher vorgesehen war. Menschen befolgen ja auf seltsame Weise immer das, was bereits geplant ist, auch wenn es vielleicht gar nicht mehr zu ihrer Gegenwart passt. Das hier ist ein gutes Beispiel."
Einmarsch mit einer Millionen Soldaten
Am 4. August 1914, drei Tage nach Kriegsbeginn, marschieren die Deutschen mit einer Million Soldaten in Belgien ein. Dass sie völkerrechtswidrig das neutrale Belgien überfallen, ist der Logik des Schlieffen-Plans geschuldet. Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen hatte ihn bereits 1905 entwickelt: Frankreich sollte schnell mit aller Macht von Norden her, über Belgien, angegriffen und besetzt werden, um anschließend die deutschen Armeen im Osten und Süden einzusetzen. Die Rechnung geht nicht auf, wie der Brüsseler Historiker Jan van der Fraenen erklärt:
"Die Deutschen hofften, dass die Belgier ihnen den Durchzug durch ihr Land gestatten würden. Belgien hatte keine große Armee und bis heute Zeitpunkt auch keine Militärkultur. Aber nachdem die Deutschen das Ultimatum gestellt hatten, war der Zug abgefahren. Belgien konnte das nicht akzeptieren. Das Land war neutral und konnte den Durchzug nicht akzeptieren, weil es ja sonst seine eigene Neutralität verletzt hätte und damit den Vertrag von London von 1839, der die Neutralität Belgiens garantierte. Beide Optionen: den zwar friedlichen Durchzug zu einem Krieg in Frankreich zu gewähren und ihn abzulehnen waren für Belgien ziemlich mörderisch - keine der Optionen würde das Land vom Krieg unberührt lassen."
Auf ihrem Vormarsch in Richtung Frankreich hinterlassen die Deutschen eine Spur der Verwüstung. Im südbelgischen Dinant, einer Kleinstadt an den Ufern der Maas, erschießen sie fast 650 Menschen, knapp zehn Prozent der Einwohner, und stecken die Stadt in Brand.
Lüttich, das bis dahin als eine der bestbefestigten Städte Europas gilt, wird erst mit schwerem Geschütz beschossen, darunter mit den riesigen Granaten der dicken Berta, wie der Mörser im Volksmund hieß, und am 6. August bombardiert - von einem Zeppelin aus. Auch in Aarschot, im Osten Brüssels gelegen, sterben Menschen, brennen Häuser. "Märtyrerstädte" werden diese Orte heute genannt, so Guido Claessen, Stadtführer aus Leuven.
"Die Deutschen haben direkt Terrorangriffe gemacht, die haben Zivilisten exekutiert, füsiliert, ohne weiteres, keine Soldaten, Zivilisten. Die waren ein bisschen nicht so glücklich, dass es nicht so schnell ging, wie sie gedacht hatten."
Die Deutschen hatten Gerüchte über die angebliche Brutalität der sogenannten "Franktireurs" gehört, Freischärler in Zivil, die unsichtbar aus dem Hinterhalt Soldaten angreifen oder sie gefangen nehmen und brutal ermorden. Das war aus dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 überliefert.
"Das war eine Massenpsychose. Die hatten die Vorstellung von einer Volksarmee so wie 1870. Da gab es Freischärler, das war in Frankreich. Die Soldaten, die hierhergekommen sind, wurden noch unterrichtet von den Veteranen des vorigen Kriegs. Das war eine Massenpsychose: Freischärler."
Für die Soldaten war jeder Zivilist ein potenzieller Freischärler. Sie unterlagen geradezu einem "Franktireurwahn".
Kriegsbegeisterung weicht blankem Entsetzen
Vor Ort in Belgien ist auch der deutsche Schriftsteller Harry Graf Kessler. Anfangs kriegsbegeistert, ist er bald entsetzt über das Leid, das die Belgier durch die Deutschen erdulden müssen. Am 23. August 1914 schreibt er an einen Freund:
"... Furchtbar aber ist es, dass man so viele Zivilisten immer wieder bestrafen muss, weil sie auf unsere Leute feuern; dass ganze Ortschaften verbrannt und zerstört werden. Da gibt es grauenhafte, erschütternde Bilder und Erlebnisse. Dieser Krieg gleicht schon jetzt nicht mehr dem von 70, sondern dem Dreißigjährigen in seiner Furchtbarkeit. Gestern war ich in einem großen Orte (wohl 4000 Einwohner), in dem kein Haus mehr stand, alles gestern und vorgestern verbrannt, und zahlreiche Einwohner erschossen, weil sie vorgestern zwanzig unserer Pioniere ermordet hatten. Der Anblick des Ortes war das Fürchterlichste, was ich je gesehen habe: die Verwüstung, die herrenlosen, verhungernden Haustiere, eine Familie, Großmütterchen, Tochter, Schwiegersohn und kleines Mädchen, die auf der Straße saßen und zusahen, wie die letzten Dachsparren ihres Hauses zu Ende brannten, und weinten, weinten ... so ganz still und sprachlos vor sich hin."
Die deutsche Führung leugnet die Übergriffe oder rechtfertigt sie als Gegenwehr. Die Alliierten, so der Historiker Jan van der Fraenen, nutzten die Berichte, um die antideutsche Stimmung anzuheizen.
"Die Propaganda geht in beide Richtungen: antideutsch und antibelgisch. Die deutschen Soldaten hatte man zwar nicht einer Gehirnwäsche unterzogen, aber ihnen eingebläut: Passt auf die Zivilisten auf, trinkt nichts von ihnen, es könnte vergiftet sein, stellt nachts immer Wachen auf, denn Bauern oder Frauen könnten euch die Augen ausstechen, seid wachsam im Feindesland. Auf der anderen Seite wurden schnell Gerüchte über deutsche Grausamkeiten verbreitet und dann von der alliierten Propaganda ausgeschlachtet: Deutsche hätten Kindern die Hände abgehakt, Babys erschossen, Frauen vergewaltigt. In einigen Fällen mag das gestimmt haben. Aber in der britischen Propaganda wurde das sehr aufgebauscht. Am Schluss waren dann 6500 Belgier und auch Franzosen dabei umgekommen. Also so ganz falsch wird die Propaganda nicht gewesen sein."
Alles verbrannt - die Bibliothek von Leuwen
Zu trauriger Berühmtheit gelangt die Universitätsstadt Leuwen, nicht weit von Brüssel entfernt und ein Musterbeispiel für flämische Baukunst. Dort erschießen die Deutschen Ende August fast 250 Zivilisten und brennen die Stadt nieder, darunter die berühmte Universitätsbibliothek. Die Tat führt zu heftigen Reaktionen in ganz Europa. Die deutschen "Hunnen" hätten sich am "belgischen Oxford" vergriffen, erregt sich die britische Propaganda. Guido Claessen, Stadtführer aus Leuven, erzählt:
"Man hat hier angefangen, Häuser in Brand zu stecken, das war 8 Uhr abends. Und um 11 Uhr abends hat man hier diese Bibliothek in Brand gesteckt. Die Bibliothek von Leuwen, das war die Hinterseite dieses Gebäudes: 300.000 Bücher sind in Flammen aufgegangen, wertvolle Handschriften, alles war weg."
Bücher, die die Deutschen im Zuge der Reparationszahlungen nach dem Krieg ersetzen müssen. Im Zweiten Weltkrieg brennt die von Amerikanern wiederaufgebaute Bibliothek dann erneut aus.
1914: Der deutsche Überfall auf das neutrale Land ist der Anfang einer Kriegsgeschichte mit einem Ausmaß an Zerstörung, das den meisten Deutschen bis heute kaum bewusst ist. Vier Jahre lang leben die Belgier unter deutscher Besatzung. Viele Menschen versuchen, in die neutralen Niederlande zu fliehen. Aber 1915 sperren die Deutschen die Grenze, indem sie einen Elektrozaun ziehen: 2000 Volt werden durch die Drähte gejagt, viele finden am Zaun den Tod.
Ausstellung zum Ersten Weltkrieg in Liège (Lüttich)
Ausstellung zum Ersten Weltkrieg in Liège (Lüttich)© dpa / picture alliance / Laurie Dieffembacq
Tödliche Hinterlassenschaften
Westflandern, im Wald bei Langemark - Poelkapelle, circa fünf Kilometer nördlich von Ypern. Jeden Tag, um 11.30 Uhr und um 15.30 Uhr vergräbt hier der Minenräumdienst der belgischen Armee mehrere Holzkisten - randvoll mit Munition gefüllt. Dann werden sie gezündet. Der genaue Zeitpunkt der Explosion wird immer eingehalten. Denn sonst rufen die Bewohner des flandrischen Ortes die Polizei - weil es vielleicht wieder einen Bauern oder private Munitionssammler erwischt haben könnte.
"Es gibt hier immer wieder vereinzelt Unfälle. Bauern, die ihr Feld pflügen, oder Sammler, die die Bomben selbst zünden. Es sind nicht viele. Ganz selten wird auch mal ein Munitionsentschärfer verletzt oder gar getötet. Der letzte große Unfall hier in der Region war 1986, vier Menschen kamen um."
Fernwirkungen des großen Krieges. Die deutsche Heeresführung wollte schnell durch Belgien stürmen, um Frankreich von Norden anzugreifen und zu unterwerfen. Stattdessen kommen die deutschen Truppen in Flandern zum Stehen, weil sich die Belgier und die Alliierten den Angreifern entgegenstemmen. Von Westflandern durch Frankreich hindurch bis zu den Alpen graben sich die Kriegsgegner in Schützengräben ein. Vier Jahre lang tobt in Westflandern der Stellungskrieg, der heute, hundert Jahre später, immer noch Tote fordert. Patrick Pillars arbeitet seit fast 30 Jahren als Munitionsentschärfer.
"Im Krieg explodierten zwar eine Menge Granaten, viele zündeten aber auch nicht. Es waren damals ungefähr fünf Millionen Granaten und wenn man davon ausgeht, dass fünf Prozent davon nicht explodiert sind, liegen also noch sehr viele im Boden."
Weil damals die Produktion auf Grund fehlender Kontrollen mangelhaft war. Und weil der Boden in Westflandern zu weich war, um die Granaten beim Aufschlag explodieren zu lassen. Bis alle entschärft und vernichtet sind, werden, so Patrick Pillars, noch Jahrzehnte vergehen.
"Wir sind hier nahe bei Diksmuide. Vor uns liegt die Ijzer, es ist ein kleiner Fluss, gerade mal zehn Meter breit. Gut 15, 20 km von hier ist die Küste."
Zwölf Kilometer nördlich von Poelkapelle liegt Diksmuide. Im Westen der Kleinstadt, direkt am Fluss, steht der Ijzerturm. Er ist über 80 Meter hoch und beherbergt auf 22 Etagen ein Museum über den Ersten Weltkrieg in Flandern. Kurator Peter Verplancke steht auf der Aussichtsterrasse und blickt über die weite Landschaft.
"Die ersten belgischen Truppen erreichten Diksmuide um den 15. Oktober, zwei Tage später kamen die Deutschen. Es blieben also nur zwei Tage, um eine Verteidigungslinie aufzubauen. Da hier alles ganz flach ist, war das ganz schwierig. Die Belgier mussten sich hinter ihre Verteidigungslinie zurückziehen, die war der Fluss Ijzer."
Aber es gibt nichts, was den Soldaten als Deckung hätte dienen könnte. Schließlich kommt den Belgiern die rettende Idee: Das flache Land war dem Meer durch Eindeichung abgerungen worden. Bei Flut liegt es unter dem Meeresspiegel.
Vier Jahre im Schützengraben
"Um den 28. Oktober wurden die Schleusen bei Nieuwport geöffnet - bei Flut. Langsam füllte sich die ganze Ebene mit Wasser. Als die Deutschen zur letzten Verteidigungslinie kamen, hinter der die Belgier lagen, durchbrachen sie die Linie zwar an zwei Stellen, aber es war total schlammig. Die restliche Armee konnte nicht mehr folgen, sie versackte förmlich im Schlamm. Das war das Ende des Bewegungskriegs und der Beginn des Grabenkriegs."
In Westflandern wird die letzte Lücke in der Front - circa 800 Kilometer von der Schweizer Grenze bis zur Nordsee - geschlossen .Vier Jahre Schützengrabenkrieg.
Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
Westflandern ist ein schwieriger Kriegsschauplatz: ein Gewirr von Wasserläufen, kleinen Waldstücken, Dörfern, Pachthöfen.
Die ganze Gegend verwandelt sich zwischen 1914 und 1918 in ein Schlachtfeld. Soldaten aus 50 Nationen, darunter zahlreiche aus den britischen und französischen Kolonien, kämpfen hier im Verlauf der vier Flandernschlachten. Eine halbe Million Menschen lassen ihr Leben. The Great War, la Grande Guerre, de Groote Oorlog - für Franzosen, Briten und Belgier ist er die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.
"Das Schlimmste, das es gibt, ist der Schlamm, in dem eine Armee herumkriecht, in dem Pferde, Männer, Kanonen, Wagen wie verdrecktes Ungeziefer aussehen, blutiger Eiter, der den flämischen Boden bedeckt und zerfrisst, der sich in die Landschaft frisst, die leidende Landschaft, die nur hier und da noch ihr frisches Grün, ihren blauen Himmel und die roten Dächer ihrer Häuser zeigt."
Max Deauville, La boue de Flandres, der Schlamm Flanderns.
Die Frau des britischen Prinzen William, Herzogin Kate, Frankreichs Präsident Francois Hollande, Belgiens Königin Mathilde, Belgiens König Philippe und Bundespräsident Joachim Gauck nehmen in Lüttich an den internationalen Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs teil.
Die Frau des britischen Prinzen William, Herzogin Kate, Frankreichs Präsident Francois Hollande, Belgiens Königin Mathilde, Belgiens König Philippe und Bundespräsident Joachim Gauck nehmen in Lüttich an den internationalen Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs teil.© picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini
Angriff mit Giftgas
Am 22. April 1915 greifen die Deutschen zum ersten Mal mit Giftgas an, um den Widerstand an der Westfront zu brechen. Das Ergebnis ist verheerend: etwa 10.000 britische Soldaten kommen im Gas um, rund 5000 französische Soldaten sterben qualvoll in den Giftgasschwaden, ungefähr 10.000 werden verletzt. Der deutsche Soldat Willi Siebert hat seine Erinnerungen an den ersten Gasangriff bei Ypern festgehalten:
"Nach einiger Zeit klarte die Luft auf und wir gingen an den leeren Gasflaschen vorbei. Alles, was wir sahen, war tot. Nichts regte sich noch und nichts lebte mehr. Selbst das Ungeziefer war aus seinen Höhlen gekrochen, um zu sterben. Überall lagen tote Ratten, Kaninchen und Mäuse. Der Gasgeruch hing noch in der Luft. Er blieb an den paar Büschen hängen, die noch standen. Die französischen Schützengräben waren leer. Aber auf den folgenden 100 Metern lagen überall Leichen erstickter Franzosen. Es war entsetzlich. Dann sahen wir auch Briten. An ihren aufgekratzten Gesichtern und Hälsen sahen wir, wie verzweifelt sie versucht hatten, Luft zu bekommen. Manche hatten sich selbst erschossen. In den Bauernhöfen lagen die Pferde tot im Stall. Kühe, Hühner, alles und alle waren tot. Alles, selbst die Insekten."
Eine Schlacht - 250.000 Tote
Zu den brutalsten Schlachten des Ersten Weltkriegs zählt die Schlacht von Passchendaele. Auch sie hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. 1917 sterben dort bei einem Angriff der Alliierten innerhalb von 100 Tagen 250.000 Soldaten. Für einen kaum nennenswerten Gebietsgewinn.
Warum die Deutschen den Krieg nicht gewinnen konnten, fragt Steven van den Bosse vom Passchendaele Research Center.
"Weil ihre Wirtschaft zusammengebrochen war. Während der Schlacht von Passchendaele hatten sie unglaubliche Materialverluste. Deshalb hatten sie nicht mehr genug Material, um durchzubrechen, und die Front verfestigte sich wieder."
Der gesamte Ypernbogen ist als sogenanntes Niemandsland in die Geschichte eingegangen, sagt Piet Chielens, Direktor des Flanders Fields Museum:
"Das Niemandsland ist der kleine Abschnitt zwischen den Frontlinien. Da findet man Stacheldraht, verwesende Leichen von Menschen und Tieren, Granattrichter voll schlammigen Wassers. Es ist gefährlich, überall sind Heckenschützen, überall sind Schutt und wilde Blumen. Alles in allem ist es wie die Kulmination aller Gefahren, die ein Grabenkrieg mit sich bringen kann. Das Leben ist bestimmt von Ratten, die alles an- und auffressen - ein schrecklicher, stinkender Ort, der nur mit Dantes Inferno zu vergleichen ist."
Ein einziges Trümmerfeld
Als der Krieg endet, sind weite Landstriche Westflanderns verwüstet. In manchen Dörfern ist buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen geblieben. Die alte flämische Kaufmannsstadt Ypern mit ihren einst mächtigen Bauten ist ein einziger Trümmerhaufen. Vergleichbar mit den verwüsteten deutschen Städten am Ende des Zweiten Weltkriegs. Winston Churchill schlägt im Januar 1919 vor:
"Ich möchte, dass wir die Ruinen von Ypern erwerben. Es gibt auf der ganzen Welt keine heiligere Stätte für die britische Rasse."
Bei den Einwohnern Yperns, die aus der Stadt geflohen waren und wieder zurückkehren wollten, löste das Befremden aus, erzählt Piet Chielens vom Flanders Field Museum, das sich in der einst zerstörten und wiederaufgebauten Tuchhalle befindet.
"Ypern spürte, dass es wieder aufgebaut werden musste. Einmal wegen Churchills Idee. Er wollte die Stadt als Erinnerung für die Briten so zerstört lassen - ohne die Einwohner auch nur zu fragen. Die waren total geschockt von dieser Idee. Aber auch, weil sie auch auf psychologische Weise den Krieg aus ihrer Erinnerung bannen wollten. Die einzige Möglichkeit war, so zu tun als hätte es nie einen Krieg gegeben und die Stadt so wieder aufzubauen, wie sie war."
Was - mit ein paar Abweichungen - tatsächlich geschehen ist.
Die Polizei hat den Verkehr vor dem Menem-Tor, einem der Stadttore von Ypern, gestoppt. Menschen säumen die Bürgersteige rechts und links der Straße.
Vier Männer in dunkelblauer Uniform nehmen Aufstellung. Eine kurze Ansprache, dann wird es still.
The Last Post - das letzte Gedenken wird täglich um Punkt 20 Uhr am Menem Tor geblasen - um die Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu würdigen.
"Für uns ist es eine Ehre, hier jeden Abend zu blasen. Als man 1928 damit anfing, hatte nur die Feuerwehr Blashörner. Sie wurde gefragt, ob sie spielen würde. Seitdem hört man hier jeden Abend die Freiwillige Feuerwehr."
Sagt Raf de Combel von der Freiwilligen Feuerwehr, der seit 13 Jahren den Last Post bläst:
"Hier, das ist ein Gedenken für die Gefallenen, die für unsere Freiheit und die Wiederherstellung des Friedens kämpften."
Unter den Besuchern, die zum Last Post ans Menem Tor kommen, sind besonders viele Briten. Flandern ist für sie das wichtigste Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs. Ihre Landsleute errichteten das Tor 1927. Die Namen von knapp 55.000 vermissten Soldaten aus dem Commonwealth sind dort eingemeißelt.
Etwa 150 Soldatenfriedhöfe gibt es in Westflandern, darunter Tyne Cot mit den sterblichen Überresten von fast 12.000 britischen Soldaten und Langemark, wo fast 45.000 deutsche Soldaten ihre letzte Ruhestätte gefunden haben.
Spuren des Krieges
Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 hatte den Krieg offiziell beendet. Doch seine Nachbeben sind bis heute zu spüren. Immer noch ist Westflandern von den Spuren des Krieges gezeichnet, die Gegend von Gräbern, Monumenten und Relikten dieser Zeit übersät. Immer noch kommen menschliche Überreste zum Vorschein, immer noch explodiert Munition. Der Erste Weltkrieg, sagt Piet Chielens, der Leiter des "Flanders Fields Museum" in Ypern, ist hier noch lange keine abgeschlossene Geschichte.
"Ich wuchs in einem kleinen Dorf auf, in dem es drei Militärfriedhöfe gab. Hier lernt man die Geschichte nicht, man wird in ihr geboren."