Erster Weltkrieg

Aufgeblasen und abgesoffen

Von Arno Orzessek · 30.01.2014
Eigentlich sollte sie Deutschland zur Weltmacht verhelfen - am Ende des Ersten Weltkriegs versenkt sich die internierte Kaiserliche Marine selbst. Diesem ironischen Kapitel der Geschichte widmet sich Nicolas Wolz in seinem Buch "Und wir verrosten im Hafen".
21. November 1918. Vor dem schottischen Kriegshafen Scapa Flow versammelt sich "das größte Flottenaufgebot, das es jemals gegeben hatte": 370 Schiffe, Großbritanniens komplette Grand Fleet. Alle Kriegsflaggen sind gehisst. Doch kein Geschütz feuert. Die Grand Fleet bereitet der deutschen Hochseeflotte, die nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg gemäß Waffenstillstandsvertrag interniert werden soll, nur einen besonders demütigenden Spießrutenlauf.
Acht Monate später versenken sich die internierten Schiffe selbst - mit wehenden Flaggen, als würde sie kämpfen. Adolf von Trotha, der Chef der Admiralität, deutet die Vernichtung von eigener Hand deshalb zur "männlichen Tat" um und bejubelt das ehrenvolle Ende "unserer unbesiegten Flotte".
Ironie der Geschichte
Mit diesen Ereignissen schließt Nicolas Wolz' Buch "Und wir verrosten im Hafen". Es vermittelt den Eindruck, dass sich die Ironie der Geschichte selten so krass gezeigt hat wie im Fall der Kaiserlichen Marine. Seit 1900 wurde sie unter der Leitung des späteren Großadmirals von Tirpitz gigantisch aufgerüstet, um Deutschland zur Weltmacht zu verhelfen.
Insbesondere sollte die neue Flotte Großbritannien als bis dato stärkster Seemacht Paroli bieten können, um die Briten entweder politisch an die deutsche Seite zu zwingen oder um sie auf See zu schlagen. Nichts davon trat ein.
Nach Ausbruch des Krieges verlegte sich Großbritannien auf eine Fernblockade und versperrte den Zugang zum Atlantik. Die Kaiserliche Marine lag in Wilhelmshaven und Kiel fest - und hatte, während Millionen Soldaten des Heeres in Grabenkämpfen umkamen, schwer mit Lagerkoller zu kämpfen: "Man lungert so herum, kriecht im Schiff herum. Wie soll man diesen Stumpfsinn aushalten?", fragte sich Konteradmiral Franz Hipper. Kapitänleutnant Reinhold Knobloch fluchte: "Donnerwetter, raus wollen wir aus den Löchern, kämpfen, schießen wollen wir. Den Feind vernichten!"
Vielen in der Grand Fleet ging es ähnlich. Die einzige große Schlacht im Mai 1916 vor dem Skagerrak endete unentschieden, auch wenn in Deutschland gefeiert wurde. "Die deutsche Flotte hat ihren Kerkermeister angegriffen, sitzt jedoch weiterhin im Gefängnis", schrieb eine New Yorker Zeitung.
Der Leser mit an Bord
Wolz skizziert die großen Linien der Marine-Geschichte und der Politik im Kaiserreich knapp und souverän; ebenso beleuchtet er die englische Seite. Vor allem aber nimmt er anhand zeitgenössischer Tagebücher und Briefe seine Leser mit an Bord. Der Alltag auf den Kriegsschiffen, der ominöse Ehrbegriff der Offiziere, der Abgrund zwischen ihnen und den Mannschaften, das betäubende Warten, der teils kuriose Zeitvertreib, die unbarmherzige Logik der Schlacht, zuletzt die Flottenunruhen von 1917: Das alles beschreibt Wolz so fesselnd wie informativ.
Und er verzichtet auch angesichts der destruktiven Rauflust vieler Offiziere, die bis zuletzt die mörderische "Entscheidungsschlacht" planen, auf moralische Breitseiten. Seefahrts-, Kriegs- und Todesromantik hat es reichlich gegeben. Wolz selbst romantisiert nicht - aber er überträgt die zeitgenössische Atmosphäre.
"Und wir verrosten im Hafen" beschreibt naturgemäß keinen Haupt-, sondern einen Neben-Kriegsschauplatz des Ersten Weltkriegs. Es ist ein vorzügliches Buch für alle, die mehr als nur das Wichtigste wissen wollen.

Nicolas Wolz: "Und wir verrosten im Hafen. Deutschland, Großbritannien und der Krieg zur See 1914-1918"
Deutscher Taschenbuch Verlag
352 Seiten, 21,90 Euro.