Erste Hilfe für die Seele

Elisabeth Waller im Gespräch mit Katrin Heise · 05.06.2013
Ob bei einem Massenunfall auf der Autobahn oder nach einer Panik bei einer Großveranstaltung – die Notfallseelsorger sind neben den Rettungskräften die ersten vor Ort. Die Pastorin Elisabeth Waller erklärt, wie sie Menschen das Gefühl von Ruhe zu vermitteln sucht, um ein schreckliches Geschehen zu verarbeiten. In Hamburg tagt derzeit der Bundeskongress Notfallseelsorge und Krisenintervention.
Katrin Heise: Es sind Ausnahmesituationen: ein Unfall, der Tod eines lieben Menschen, der Selbstmord eines Angehörigen oder die übergroße Angst und Sorge um eine Person – Situationen, die wir uns lieber nicht vorstellen wollen, die wir verdrängen, die aber natürlich geschehen, und in denen Hilfe guttut. Was bedeutet Notfallseelsorge, Krisenintervention? In diesen Tagen kommen Notfallseelsorger und Krisenhelfer aus ganz Deutschland in Hamburg zu ihrem jährlichen Bundeskongress zusammen, und sie beschäftigen sich in diesem Jahr vor allem mit Fragen der Schuld, wie Unfallverursacher oder Angehörige von Menschen, die sich umgebracht haben, mit ihrem Gefühl von Schuld umgehen, oder: Wie stellt sich die Frage der Schuld dem Helfer selbst? Ich begrüße jetzt Elisabeth Waller, sie ist evangelische Pastorin und Notfallseelsorgerin im Kirchenkreis Hamburg West. Schönen guten Tag, Frau Waller!

Elisabeth Waller: Schönen guten Tag!

Heise: Als Notfallseelsorgerin, warten Sie da eigentlich ständig auf das Unglück. Wie sieht Ihr Alltag aus, Ihr Arbeitsalltag?

Waller: Mein Arbeitsalltag sieht so aus, dass ich einmal im Monat eine Woche Bereitschaftsdienst habe als hauptamtliche Notfallseelsorgerin. Ich warte in dieser Zeit nicht auf das Unglück, aber ich trage einen Funkempfänger bei mir, über den mich die Feuerwehr in Hamburg jederzeit erreichen kann, wenn ein Unglück geschehen ist und die Rettungskräfte der Meinung sind, hier wäre Notfallseelsorge sinnvoll und nötig.

Heise: Und wenn Sie dann zu einer Unglücksstelle kommen, einem Menschen oder mehreren Menschen begegnen, die ganz unter dem Eindruck des Geschehenen stehen, jemanden verloren haben, was machen Sie dann als Erstes?

Waller: Als Erstes schließen wir uns mit den Rettungskräften, mit Feuerwehr oder mit Polizei, zusammen, und informieren uns einfach, was geschehen ist und welche Menschen, oder auch welcher eine Mensch, nach Meinung der Rettungskräfte jetzt besondere Begleitung, Betreuung braucht, denn die haben den Überblick, und wir selber versuchen, uns auch einen Überblick zu verschaffen, zunächst mit der Frage: Genügt hier ein Seelsorger, eine Seelsorgerin, oder müssen wir mehrere zusammenrufen, damit wir die Menschen so gut wie möglich seelsorgerlich begleiten können?

Wir sind für diesen Menschen in dieser Situation jetzt da

Heise: Und wie gehen Sie dann auf den Menschen in Not zu?

Waller: Wir machen ein Gesprächsangebot, wir sind ganz einfach da, wir begeben uns in seine Nähe, stellen uns vor und machen ganz klar und deutlich, dass wir nicht zum Rettungspersonal gehören, sondern dass wir für diesen Menschen in dieser Situation jetzt da sind, und dass wir Zeit und Ruhe für ihn haben.

Heise: Und der geht dann auf Sie ein? Wahrscheinlich nicht immer, oder?

Waller: Nein, nicht immer, aber in den allermeisten Fällen. Ganz häufig ist schon die erste Frage, die wir sehr auf diesen Menschen gerichtet stellen, nämlich zum Beispiel – was ist Ihnen passiert, was haben Sie erlebt? – ein Auslöser oder der Anlass, tatsächlich das Geschehene, so wie es wahrgenommen wurde, zu erzählen, zu berichten, mit häufig ganz vielen Gefühlen natürlich überlagert, belastet, einfach erst mal von sich zu geben, jemandem erzählen zu können, das ist in ganz vielen Situationen schon etwas sehr Hilfreiches?

Heise: Berühren Sie den Menschen, nehmen Sie den in den Arm?

Waller: Unterschiedlich. Ich würde es nicht in jeder Situation tun. Für so etwas wie eine Berührung muss erst ein wenig Beziehung da sein. Dazu kommt es aber manchmal im Laufe eines weiteren Gesprächs.

Heise: Ist es möglich, in solchen Situationen wirklich Trost zu spenden, oder was machen Sie da eigentlich?

Waller: Trost ist ein großes und schwieriges Wort. Ganz häufig geht es erst mal darum, dass wir da sind, dass jemand in einer Situation, wo er, wie ja häufig in unserem Arbeitsbereich, gerade einen geliebten Menschen verloren hat, einfach weiß, gesagt bekommt, und auch dann das Gefühl dafür, ich bin nicht alleine, ich bin nicht menschenverlassen, ich bin nicht auch dann im übertragenen Sinne gottverlassen, es ist jemand hier bei mir. Ob wir dann miteinander reden, ob wir etwas zusammen tun, ob wir gemeinsam überlegen, wo in diesem Menschen jetzt die Kraft zur Überwindung dieser Krise stecken kann, das hängt dann sehr einfach vom Verlauf ab.

Heise: Wollen Sie das schon, in so einer Begegnung, so am Anfang stehend, also ist das tatsächlich auch ein Ziel, so diesen Wendepunkt im Leben zu wenden wiederum, um das Leben wieder anzunehmen? Geht das schon so weit?

Übergang in die Zeit danach

Waller: Das ist dann vielleicht noch ein bisschen zu früh, aber dadurch, dass wir kommen, und wir ja nicht zu den Rettungskräften gehören, gehören wir schon zu der Zeit danach. Und diesen Übergang in die Zeit danach zu begleiten, das ist tatsächlich unser Anliegen. Als Pastoren sind wir für Menschen seelsorgerlich da in Zeiten der Übergänge – das tun wir unseren Gemeinden auch. Wir taufen die Kinder, wir beerdigen die Verstorbenen, wir halten Trauungen, hier in einer Notsituation sind wir natürlich dann an einem ganz extremen Übergang, aber auch hier wollen wir seelsorgerlich für die Menschen da sein, so wie es nötig ist, und wie es vielleicht auch angenommen werden kann.

Heise: Das Thema des Kongresses in diesem Jahr ist ja Schuld. Spielt das in Ihrer Arbeit eigentlich eine große Rolle, werden Sie oft damit konfrontiert, mit dem Gefühl Schuld, wie auch immer die geartet ist?

Waller: Schuld spielt in fast jeder unserer Begegnungen mit Menschen in Krisensituationen eine Rolle, unabhängig davon, ob es ein Unfallhergang ist, in dem es einen vermeintlichen Unfallverursacher gibt, sofern der überhaupt feststeht, oder ob wir in unserem größeren Arbeitsbereich der ganz normalen häuslichen Notfallseelsorge sind. Ich habe es bis jetzt noch in fast jedem Einsatz erlebt, dass an irgendeiner Stelle des Gespräches immer die Frage kommt: Was ist mein Anteil daran, dass mein Angehöriger jetzt verstorben ist? Hätte ich den Rettungsdienst früher rufen müssen? Habe ich ihm nicht schon vor einem halben Jahr gesagt, mit diesen Schmerzen, geh doch bitte zum Arzt? Ich glaube, das ist etwas ganz Verständliches und Normales, das würde jedem von uns so gehen, dass wir da, wo das Schreckliche eingetreten ist, fragen, wie war mein Anteil daran, hätte ich es vielleicht ändern, wenden können. Schuldgefühle sind etwas ganz Normales, vielleicht sogar etwas Gesundes, bei der Frage: Wie kann ich damit leben, dass mir jetzt jemand Wichtiges fehlt?

Heise: Erste Hilfe für die Seele – im Deutschlandradio Kultur hören Sie die Notfallseelsorgerin Elisabeth Waller. Frau Waller, ich erinnere mich an die Berichterstattung über einen Unfall, als eine Autofahrerin beim Auffahren auf die Autobahn einen Reisebus abgedrängt hat und damit einen wirklich furchtbaren Unfall ausgelöst hat mit vielen Toten, mit vielen Verletzten. Wie wendet man sich denn so einem Unfallverursacher zu?

Waller: In einer solchen Situation würden wir tatsächlich, wenn wir dazu gerufen würden, einer solchen Person, einem solchen Menschen, der durch Unaufmerksamkeit oder auch durch tragisches Fehlverhalten einen Unfall verursacht hat, tatsächlich auch besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Ein solcher Mensch ist in einen Unfall mit verwickelt und ist damit aber ganz, ganz hoch belastet. Ein solcher Mensch braucht in jedem Fall Begleitung.

Im Umgang mit Schuld nicht vorschnell beschwichtigen

Heise: Und was machen sie dann als Erstes, also sagen Sie, das wird sich finden, oder wie, weil man hat sich ja vielleicht sogar selber empört über das, was da passiert ist.

Waller: Das würden wir in einem solchen Moment – oder müssen wir in einem solchen Moment – einfach beiseite schieben. In den allermeisten Fällen wissen wir das zu einem so frühen Zeitpunkt auch gar nicht. Wichtig ist für uns im Umgang mit Schuld und mit Schuldgefühlen, nicht vorschnell zu beschwichtigen oder zu beruhigen, also nach dem Motto: Du kannst ja nichts dafür, oder du hast es ja nicht mit Absicht getan. Die Frage nach der Schuld, nach dem eigenen Anteil durch Tun oder auch durch Lassen an etwas, das geschehen ist, ist eine sehr wichtige Frage, und die Beschäftigung mit dieser Frage, ob sie in dem Moment selber überhaupt schon stattfinden kann oder erst später, ist ein ganz, ganz wichtiger Teil der Verarbeitung eines solchen Geschehens, sich auseinanderzusetzen mit dem eigenen Anteil, eventuell tatsächlich mit der eigenen Schuld.

Heise: Sie treffen ja auf Menschen aus ganz verschiedenen Kulturkreisen und Religionen. Wie wirkt sich das eigentlich auf Ihre Arbeit aus, die Frage nach Gott, nach Religion, ist das – oder verschiedene Trauerrituale, verschiedene Familienstrukturen –, beeinflusst das Ihre Arbeit?

Waller: Ja, das beeinflusst unsere Arbeit schon. Wir wissen nicht, wenn wir gerufen werden, in was für einen familiären Kontext wir geraten, ob das eine christliche, eine muslimische, eine kirchenferne, eine evangelische, eine katholische Familie ist, das sind Dinge, die auch tatsächlich im ersten Angehen, wenn wir kommen, nicht unbedingt Gesprächsthema sind, sie werden es allerdings oft. Denn wir kommen, gerade in Hamburg, wirklich als Notfallseelsorge, das heißt, erkennbar als Kirche, als Geistliche der evangelischen, der katholischen und auch anderer Kirchen, wir stellen uns als Pastoren vor und bieten damit häufig in einem Gespräch, nachdem jemand einen Angehörigen verloren hat, bieten häufig auch eine Fläche, eine Plattform, auf der Fragen nach Gott, nach dem Leben, nach dem Sterben gestellt werden können.

Heise: Und wenn jemand jetzt so gar nichts mit der Kirche zu tun hat, kann der trotzdem bei Ihnen Hilfe annehmen?

Waller: Ja, ich glaube, dass er das kann. Ich habe es einmal erlebt in einem Einsatz, bei einem ganz alten Herren, dem seine Frau verstorben war. Ich kam dorthin, ich habe die alte Frau ausgesegnet, ich habe ein Gebet gesprochen und saß dann später mit dem alten Mann zusammen in seinem Wohnzimmer, und wir redeten einfach. Und dieser alte Mann sagte immer die zwei gleichen Sätze, er sagte immer abwechselnd: Ach, Frau Pastor, wie schön, dass Sie da sind! Und immer kurz danach: Ich bin ja gar nicht in der Kirche. Und als ich ihn auf diese beiden Sätze ansprach, und was das zu bedeuten habe, da sagte er mir: Ach, Frau Pastor, das will ich Ihnen ganz genau erzählen, also ich bin wirklich nicht in der Kirche, denn ich glaube das alles nicht. Ich glaube nicht an das, was Sie so erzählen von Auferstehung der Toten und das mit dem ewigen Leben, ich glaube nicht daran – aber ich finde es wunderschön, dass jemand hier ist, der es tut.

Heise: Wenn so ein Einsatz zu Ende ist, wenn Sie quasi abgezogen werden, bekommen Sie manchmal später noch, viel später noch, Rückmeldung?

Waller: Manchmal geschieht das. Manchmal geschieht es, dass sich Familien, einzelne, noch bei uns melden, ganz häufig in der Form, dass sie sagen: Wie gut, das Sie da waren. Aber als Notfallseelsorger sind wir schwerpunktmäßig für den Tag, für den Moment, wo etwas geschehen ist, da.

Heise: Elisabeth Waller, sie ist Notfallseelsorgerin im Kirchenkreis Hamburg West. Danke schön, Frau Waller, für das Gespräch!

Waller: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.