Erste Berliner Obdachlosenzählung

Wie groß das Elend wirklich ist

04:42 Minuten
Berlin: Zwei Obdachlose liegen an einer Hauswand auf einer Matratze und schlafen.
Vertrauter Anblick, unbekanntes Ausmaß: Obdachlosigkeit in Berlin. © picture alliance/dpa/Paul Zinken
Von Anja Nehls · 30.01.2020
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Berlin hat als erste deutsche Stadt ihre Obdachlosen gezählt. Vorbilder sind Paris und New York. Aus dieser "Nacht der Solidarität" sollen nicht nur Zahlen folgen, sondern auch Taten für die Betroffenen. Aber was das bringt, ist noch offen.
Die Frau unter der Brücke hinter der Bahnhofsmission am Bahnhof Zoo ist um kurz vor Mitternacht noch wach. Sie liegt auf einem Berg von Kleidung und Plastiktüten, zugedeckt mit einem Schlafsack, die Füße unter leeren Getränkekartons. Gerade eben ist sie von freiwilligen Helfern in leuchtend blauen Westen gezählt worden: als eine von schätzungsweise fünf- bis zehntausend Obdachlosen, die in Berlin auf der Straße leben. Dieser Schlafplatz sei dabei noch einer besseren, meint die Frau:
"Ist überall scheiße, wenn du keine Wohnung hast, aber es gibt natürlich Abstufungen, unter einer Brücke ist besser als im Freien ohne Dach."

Erste Zählung in Deutschland

In der "Nacht der Solidarität" zählt Berlin als erste Stadt in Deutschland die Obdachlosen. 3700 Freiwillige sind in dieser Nacht in über 600 Teams mit Fragebögen unterwegs und tragen darauf ein, wo die Menschen schlafen, wie alt sie sind, wo sie herkommen, und wie lange sie schon keine Wohnung mehr haben – wenn sie denn gefunden werden und sich befragen lassen. Judith Wuchner liefert gerade die ausgefüllten Zettel im Zählbüro an der Bahnhofsmission ab. Sie war mit ihren Team in Charlottenburg im Bereich Kurfürstendamm unterwegs und hat dort einen Obdachlosen auf einer Bank entdeckt:
"Der war supernett, ein Deutscher, der war 38 Jahre alt und lebt seit über 15 Jahren auf der Straße, mit seinem Freund zusammen. Und wir hatten eben ein bisschen Tee und Banane dabei und ich habe gefragt, ob er vielleicht was haben möchte irgendwie, aber er meinte: Nee, nee, er hat heut schon so viel bekommen, braucht er nicht, nee, schönen Dank."

Brutaler Reichtum, wahnsinnige Armut

Die Privatsphäre der Obdachlosen zu achten, ist für die Organisatoren und Helfer wichtig. Niemand wird zum Interview gezwungen, niemand wird aufgeweckt, keiner fotografiert, nur öffentlich zugängliche Grundstücke dürfen betreten werden. Abbruchhäuser und das Innere von Zelten sind tabu. Ganz Berlin ist extra für die Zählung in Zählbezirke aufgeteilt worden. Bereits ab Mitte Dezember hatten sich genügend ehrenamtliche Zähler zum Mitmachen gemeldet. Henning Widelak arbeitet normalerweise fürs Grünflächenamt, jetzt hat er ganz andere Seiten seiner Stadt entdeckt:
"Dieser Kontrast von Reichtum, brutalem Reichtum und wahnsinniger Armut, das ist das, was mich eigentlich hier besonders mitnimmt und was ich erschütternd finde."
Vorbild für die Berliner Aktion sind die Zählungen der Obdachlosen in New York und in Paris. Der Name, "Nacht der Solidarität" stammt ebenfalls aus Paris. Susanne Gerull, Professorin an der Alice- Salomon Hochschule für soziale Arbeit in Berlin hat die Idee hierher gebracht. In Paris hatte die Zählung auch konkrete Folgen:

"Zahl allein nützt nichts"

"Paris hat bei der ersten Zählung 2018 festgestellt, dass sehr viel mehr Frauen auf der Straße gezählt wurden, als sie das vorher vermutet haben. Sie haben sofort Notübernachtungsplätze in großer Zahl zusätzlich speziell für Frauen errichtet, die auch sofort alle benutzt wurden. Also es war ein Bedarf da und der ist aber erst sichtbar gemacht worden durch die Zählung. Und das ist natürlich etwas, was ich mir nicht nur erhoffe für Berlin, sondern was auch eine meiner Forderungen wäre. Die Zahl allein nützt uns nichts, wir müssen hinterher gucken, was machen wir mit diesen Daten."
Dass aus der Zählung in Berlin selbstverständlich Konsequenzen gezogen würde verspricht Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Auch sie ist in dieser Nacht in der Stadt unterwegs. Besonders gespannt ist sie auf die Zahl der obdachlosen Frauen, die der Menschen aus Osteuropa und auf die Verteilung der Obdachlosen in der Stadt:
"Es gibt einen Punkt, dass wir immer gesagt haben, die ganzen Obdachlosen sind eher innerstädtisch. Es gibt aber auch die These, dass die quasi auch nach außen verdrängt wurden, dass wir viel mehr Obdachlose in den Außenbezirken haben. Und dann müssen wir tatsächlich noch mal gucken: Sind denn die Hilfsangebote, die wir haben, richtig verteilt? Und wir müssen gucken: Brauchen wir mehr Sprachenvielfalt?"

Geteilte Meinung bei Obdachlosen

Die obdachlosen Menschen selbst sind vorerst noch misstrauisch, was eine konkrete Verbesserung ihrer Lebensumstände angeht. Dass allein anlässlich der Zählung die Bahnhofsmission länger geöffnet hat, sei schon ein Fortschritt, ansonsten sind die Meinungen geteilt:
"Guter Wille, ja, das würde ich schon bescheinigen, ich weiß nicht, ob das was bringt, kann ich nicht beurteilen, weiß ich nicht."
"Durch die Zählung verbessert sich nichts, das ist jetzt Thema und das geht dann drei Wochen durch die Presse und dann ist vorbei. Oder wenn die wieder ihre Urlaubstage haben, die Politiker, dann kommen immer die gleichen Themen, jedes Jahr das Gleiche, da kann man wirklich die Uhr nach stellen.
"Umso mehr Zählungen sind, umso besser. Umso mehr kann man auch denjenigen helfen, verstehst du, denen, die Hilfe brauchen."
In einer Woche soll die Zählung ausgewertet sein. Dann soll auch über Konsequenzen daraus geredet werden.
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