Erstaunlich und erfrischend

Der Autor hat in den USA viele Jahre am jetzt zweitgrößten Teilchenbeschleuniger der Welt gearbeitet. Nun ist er auch am LHC beteiligt - und anders als viele seiner Physikkollegen versteht es Don Lincoln meisterhaft, sein Fachgebiet ohne jede Formel zu präsentieren.
Tief im Boden unter Genf bringen Physiker kleinste Teilchen mit enormer Energie zur Kollision. Am Ort des Zusammenpralls herrschen für kurze Zeit Bedingungen, wie es sie im Universum zuletzt einen Sekundenbruchteil nach dem Urknall gegeben hat. Somit untersuchen die Forscher bei diesen Experimenten die Prozesse, die sich unmittelbar nach der Entstehung der Welt abgespielt haben. Für Don Lincoln ist der Large Hadron Collider (LHC), ein Beschleunigerring mit 27 Kilometern Umfang am CERN-Forschungszentrum in Genf, daher die "Weltmaschine" – die Apparatur, die eine neue Physik beginnen lässt.

Der Autor hat in den USA viele Jahre am jetzt zweitgrößten Beschleuniger der Welt gearbeitet. Nun ist er auch am LHC beteiligt und wartet ungeduldig auf die Dinge, die das neue Lieblingsgerät der Teilchenphysiker entdecken wird. Don Lincoln hat mit viel Vorfreude eine Art Handbuch für den LHC geschrieben.

Im ersten Kapitel erklärt der Autor das Standardmodell der Hochenergiephysiker und dessen Teilchenzoo. Dann legt er dar, welche Theorien das bestehende Modell am besten erweitern könnten und wie sich Indizien dafür oder dagegen sammeln lassen. Es folgt eine grundlegende Einführung in die Arbeitsweise des LHC und welche Messinstrumente den Physikern zur Verfügung stehen, um die Teilchenkollisionen präzise zu erfassen. Hier spürt man, dass Don Lincoln nicht irgendwo im Elfenbeinturm zuhause ist, sondern unmittelbar an der Konstruktion der gewaltigen Detektoren beteiligt war. Zum Ende stellt er die heutigen Forschungsansätze in den großen Zusammenhang und zeigt, wohin der LHC und andere Instrumente die Physik führen könnten.

"Die Weltmaschine" ist ein erstaunliches Buch. Anders als viele seiner Physikkollegen versteht es Don Lincoln meisterhaft, sein Fachgebiet ohne jede Formel zu präsentieren. Wo sich andere verzweifelt in ihre Gleichungen flüchten, reichen ihm klare Worte. Dennoch bleibt Lincolns Text erfrischend kurz. Er hat die Übersicht und den Mut, den Stoff so einzugrenzen, dass er auch für Laien zu bewältigen ist. Dabei fehlt es dem Autor keineswegs an fachlichem Anspruch. Er diskutiert leidenschaftlich die großen Fragen der Teilchenphysik: Was ist der Ursprung der Masse? Lassen sich die vier bekannten Kräfte in der Natur in einer Theorie vereinen? Bestehen die vermeintlichen Elementarteilchen doch noch aus kleineren Komponenten? Aber Don Lincoln verzichtet auf alles, was reine Spekulation und der experimentellen Überprüfung auf lange Sicht nicht zugänglich ist, etwa die String-Theorie.

Die Begeisterung für seine Disziplin macht ihn keineswegs betriebsblind. So sei es alles andere als sicher, dass der LHC wirklich das berühmte Higgs-Teilchen finden werde, das nach einer Theorie für die unterschiedlichen Massen der kleinsten Materiebausteine verantwortlich ist. Doch egal, ob die Messdaten des LHC die bestehenden Theorien bestätigen oder ihnen widersprechen sollten: In jedem Fall, so Lincoln, fängt mit dem LHC eine neue Physik an, weil die Wissenschaftler in neue Energiebereiche und damit in völlig unbekanntes Terrain vordringen.

Es ist etwas ärgerlich, dass es zwei Jahre gedauert hat, bis das Buch auf Deutsch erschienen ist. Wer Erläuterungen zu den neuesten Entdeckungen des LHC erwartet, wird enttäuscht. Wer aber die Arbeitsweise des LHC und die großen Fragen der Teilchenphysik verstehen will, die die Forscher mit dem neuen Gerät lösen wollen, für den öffnet Don Lincoln auf elegante Weise die Teilchenwelt. Für die meisten Leser beginnt die neue Physik schon beim Lesen.

Besprochen von Dirk Lorenzen

Don Lincoln: Die Weltmaschine. Der LHC und der Beginn einer neuen Physik
Aus dem Englischen von Thomas Filk
Spektrum Verlag, Heidelberg 2011
290 Seiten, 24,95 Euro