Erstarken des IS in Palästina

"Der Terror ist vor den Toren Israels angelangt"

Der Grenzübergang Erez
Auch im Gaza-Streifen gibt es immer mehr islamistische Schläferzellen, sagte der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta © dpa/picture alliance/Jens Büttner
Wilfried Buchta im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 07.10.2015
Wilfried Buchta sieht einen Vormarsch des "Islamischen Staates" nach Palästina. Im Westjordanland und im Gaza-Streifen gebe es immer mehr islamistische Schläferzellen, meinte der Islamwissenschaftler. Mit ihnen sympathisierten viele verzweifelte Jugendliche.
Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta hat vor dem besorgniserregenden Vormarsch des "Islamischen Staates" (IS) in Palästina gewarnt. Der islamistische Terror sei mittlerweile vor den Toren Israels angelangt, sagte er im Deutschlandradio Kultur. Seit etwa anderthalb Jahren hätten sich islamistische Schläferzellen auch in den Gebieten der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und im Gaza-Streifen breit gemacht:
"Das ist ein Phänomen, das sowohl den Regierungen der Palästinenser auf beiden Seiten, in der Autonomiebehörde wie auch im Gaza-Streifen und auch den Israelis Sorgen macht."
Die islamistischen Zellen fänden unter den verzweifelten palästinensischen Jugendlichen immer mehr Anhänger, so Buchtas Einschätzung. Untersuchungen zufolge zeigten rund 20 Prozent dieser Jugendlichen Sympathien für den IS:
"Mittlerweile gibt es Berichte, dass rund 100 Palästinenser, vor allem Jugendliche aus dem Gaza-Streifen, schon auf Seiten des IS kämpfen, vor allem in Syrien und im Irak."
Diese Entwicklung werde auch von den israelischen Sicherheitsbehörden mit Sorge betrachtet, meinte Buchta. Deshalb gebe es jetzt einen politischen Richtungswechsel in Bezug auf die Hamas:
"Seit gut 30 Jahren sind Israel und Hamas erbitterte Erzfeinde. Doch nun bildet sich stillschweigend eine Achse gegen IS-Sympathisanten, die zuletzt schon Raketen auf Israel abgefeuert haben. Und auch die Hamas macht Jagd auf IS-Sympathisanten. Mittlerweile gibt es so etwas wie eine Geheimallianz zwischen Hamas und Israel zur Bekämpfung des IS."
Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta ist Autor des 2015 erschienenen Buches "Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staaat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht". Er hat auch mehrere Bücher über die Islamische Republik Iran veröffentlicht.

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es gibt den Nahostkonflikt Old School, Palästinenser gegen Israelis, und der ist ja leider gerade wieder so aufgeflammt, dass er es bei uns in die Nachrichten schafft. Es gibt aber auch Konflikte im Nahen Osten der eher neuen Schule. Und da ist seit gut einem Jahr ein Stichwort, ein Phänomen dominant, der Islamische Staat, radikaler islamistischer Terror, der sich breitgemacht hat.
Wir haben uns gefragt, gibt es da eigentlich gerade Verbindungslinien, alte Schule, neue Schule? Macht sich der Islamische Staat zumindest ideologisch auch unter Palästinensern breit, aus Frust über die Besatzungssituation, aus Frust aber auch über die eigene Führung. Wir sprechen darüber mit Wilfried Buchta. Er ist Islamwissenschaftler, tätig unter anderem an der Humboldt-Universität in Berlin und Autor eines jüngst erschienenen Buches, "Terror vor Europas Toren". Guten Morgen, Herr Buchta!
Wilfried Buchta: Guten Morgen!
Frenzel: Wie nahe ist denn der islamistische Terror vor den Toren Israels?
Buchta: Der islamistische Terror ist mittlerweile vor den Toren Israels angelangt und ist mittlerweile auch in den palästinensischen Gebieten aktiv und macht sich dort bemerkbar. Man kann feststellen, dass seit etwa eineinhalb Jahren auch islamistische Schläferzellen sich in den Gebieten der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland und im Gazastreifen, kontrolliert von der Hamas, breit gemacht haben. Und das ist ein Phänomen, das sowohl den Regierungen der Palästinenser auf beiden Seiten, in der Autonomiebehörde wie auch im Gazastreifen, und auch den Israelis Sorgen macht.
Frenzel: Sie sagen, radikale Islamisten – ist das denn der Islamische Staat, oder muss man da differenzieren?
Buchta: Ja, es ist vor allem der Islamische Staat. Wir haben natürlich Islamisten auch im Gazastreifen, die seit Jahren Israel bekämpfen. Wie Sie wissen, gab es mehrere Kriege zwischen Israel und den Hamas-Regierungseinheiten im Gazastreifen. Aber seit einigen Jahren und vor allem seit dem Vormarsch des Islamischen Staats in Syrien und im Irak machen sich auch dort islamistische Zellen des IS stark, die unter den verzweifelten Jugendlichen in den palästinensischen Gebieten immer mehr Anhang finden.
Jugendliche Palästinenser auf Seiten des IS
Frenzel: Wie groß, da wollte ich gerade nachfragen, wie groß schätzen Sie denn dieses Potenzial ein bei den Menschen in Gaza und im Westjordanland?
Buchta: Es gibt verschiedene Untersuchungen, vor allem von palästinensischen Zeitungen, die zum Beispiel im August gezeigt haben, dass bei einer Umfrage etwa 20 Prozent der palästinensischen Jugendlichen sowohl auf (Gebiet) der palästinensischen Autonomiebehörde wie auch im Gazastreifen Sympathien zeigen für den IS. Und mittlerweile gibt es Zahlen oder Berichte, die besagen, dass etwa 100 Palästinenser, Jugendliche vor allem aus dem Gazastreifen, schon aufseiten des IS kämpfen, vor allem in Syrien und im Irak. Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass dort diese Kämpfer den Tod gefunden haben als Märtyrer. Anderen Berichten zufolge ist das Potenzial weitaus größer. Man geht von über 1.000 IS-Kämpfern palästinensischen Ursprungs in den Reihen des IS aus.
Wackelt die Führung von Mahmud Abbas?
Frenzel: Wie sehr wackelt die alte Führung um Mahmud Abbas, um die palästinensische Autonomiebehörde da rum?
Buchta: Sowohl in der Autonomiebehörde wie auch im Gazastreifen gibt es sehr viele jugendliche Palästinenser, die aufgrund ihrer verzweifelten politischen Lage – wie Sie wissen, treten die Friedensverhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern seit Jahren auf der Stelle –, alle Hoffnungen aufgegeben haben. Und aus Verzweiflung heraus, auch aus politischer und wirtschaftlicher Benachteiligung heraus, sehen sie den einzigen Ausweg, sich dem IS anzuschließen.
Der IS hat eine radikale Botschaft. Er will Israel wie auch alle Juden im Nahen Osten ausrotten, und das ist eine sehr bedrohliche Entwicklung, wie ich sie sehe. Israel ist ja auch in den letzten Jahren immer mehr konfrontiert worden mit dem IS. Es gibt mittlerweile im syrischen Golan-Gebiet, an der Grenze zu Israel, im Norden gibt es schon Kampfeinheiten des IS.
Und wahrscheinlich haben Sie auch erfahren, dass es im Nordsinai auch schon eine Rebellenbewegung der ägyptischen Beduinen gibt, die sich dem IS angeschlossen hat, sozusagen als IS-Dependance. Und aus dem Sinai-Gebiet heraus gab es auch schon Raketenanschläge auf das israelische Territorium. Insofern ist die Situation tatsächlich besorgniserregend. Hinzu kommt, dass in Jordanien nach Umfragen auch etwa zehn Prozent der palästinensischen Bevölkerung dort mit dem IS sympathisieren. Das sind die jüngsten Zahlen.
Neue Achse von Israel und Hamas gegen die IS
Frenzel: Herr Buchta, was bedeutet das denn für Israel, für Israels Regierung. Wenn man das sieht, dann könnte man ja eigentlich fast Verständnis dafür haben, dass da auch mit entsprechender Härte reagiert wird.
Buchta: Ja, natürlich. Auch Israels Sicherheitsbehörden sehen diese Entwicklung mit Sorge und haben eben umgeschwenkt. Seit gut 30 Jahren sind Israel und Hamas erbitterte Erzfeinde. Doch nun bildet sich stillschweigend eine Achse gegen IS-Sympathisanten, die, wie gesagt, schon zuletzt Raketen auf Israel abgefeuert haben. Und auch die Hamas macht Jagd auf IS-Sympathisanten. Es gab vor einigen Monaten auch schon Kundgebungen des IS, also IS-Sympathisanten haben dort Fahnen des IS geschwenkt. Und mittlerweile gibt es so etwas wie eine Art Geheimallianz zwischen Hamas und Israel zur Bekämpfung des IS.
Frenzel: Also: Es liegt auch was Gutes im Schlechten, dass sich immerhin Israel und Hamas annähern in dieser Situation. Der Islamwissenschaftler Wilfried Buchta. Der IS auch auf dem Vormarsch unter Palästinensern, das war unser Thema. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch!
Buchta: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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