Erst verbrüdert, dann verfeindet
Der Roman handelt von indischen Zwillingen, die sich durch die Liebe zu einem jungen Mädchen verfeinden. Der in den USA lebende Autor Abraham Verghese erzählt eine dramatische Familiengeschichte, ohne sich um literarische Moden und Trends zu kümmern.
Dramatisch beginnt der Roman, dramatisch wird er enden: Bei der Geburt der Zwillingsbrüder Marion und Shiva stirbt deren Mutter, eine indische Nonne. Kaum sind die Kinder auf der Welt, verabschiedet sich ihr Vater, ein britischer Arzt, aus eben dieser Welt, einem Missionshospital in Addis Abeba. Er verschwindet unauffindbar. Die zurückgelassenen Jungen wachsen bei Ersatzeltern auf. Ein Ärztepaar aus dem Missionshospital nimmt sie an eigener Kindes statt auf und zieht sie groß. Über der Liebe zu einem jungen Mädchen wird aus den beiden Jungen, anfangs ein Herz und eine Seele, ein verfeindetes Brüderpaar. Beide ergreifen den Arztberuf, wenn auch in verschiedenen Disziplinen.
Als Haile Selassie gestürzt wird, gerät Marion, der Erzähler, in Gefahr und muss aus dem Land fliehen. Er geht in die USA und kommt als Arzt in einem kleinen Krankenhaus unter. Nach jahrelanger Arbeit trifft er bei einer Operation auf seinen echten Vater, inzwischen ein berühmter Chirurg - ein schockierendes Erlebnis. Auch Marions Jugendliebe taucht plötzlich wieder auf, eine bittere Erfahrung, die ihm schließlich zum Verhängnis wird. Er erkrankt lebensgefährlich. Allein sein leiblicher Vater, den er ablehnt, kann ihn retten, und sein Bruder, der in Äthiopien am Missionskrankenhaus geblieben ist. Marion überlebt, aber um welchen Preis. Kurzfassung eines 750-Seiten-Epos.
Schmöker dieser Art haben inzwischen Seltenheitswert, nicht zuletzt, weil sie alle Register des Melodramas ziehen und sich dessen nie schämen. Abraham Verghese trägt eine höchst dramatische Familiengeschichte in klassisch-epischer Form vor, ohne sich um literarische Moden und Trends zu kümmern. Sein voluminöses Werk meidet alle literarischen Experimente, geht chronologisch voran, erzählt allerdings aus der Rückschau, das heißt, der Erzähler weiß mehr als der Leser, lässt ihn aber im Ungewissen über den Ausgang der Geschichte, streut nur ab und an eine Bemerkung ein, die die Neugier des Lesers wecken soll und das auch erreicht.
Der Ich-Erzähler lässt seine Familiengeschichte lange vor der Geburt der Zwillinge beginnen, um die scheue und verbotene Liebesgeschichte der toten Mutter und des verschwundenen Vaters aufzurollen. Natürlich erkundet er auch die nicht weniger seltsame Liebesaffäre seiner Adoptiveltern. Diese Vorgeschichte, die allein ein Drittel des Romans einnimmt, hätte eine Raffung vertragen. Es dauert eine ganze Weile, bis sich die Ereignisse zuspitzen.
Man spürt auf jeder Seite, dass ein Arzt den Roman geschrieben hat. Derart detailliert kann über Krankheiten nur ein Experte schreiben. Doch das tut der Geschichte keinen Abbruch. Der Autor verliert sich nur selten in medizinischen Fachausdrücken, ohne sie zu erklären. Umso kräftiger singt er das hohe Lied auf die Berufung der Ärzte, Not zu lindern und Leben zu retten. Seine Glaubwürdigkeit bezieht der Roman nicht zuletzt aus diesem auf Erfahrung beruhenden Wissen des Autors. Eine aufregende Abenteuerreise in ein auch in übertragenem Sinne unbekanntes, literarisch bislang kaum erschlossenes Land.
Besprochen von Johannes Kaiser
Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing
Aus dem amerikanischen von Silvia Morawetz
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009
769 Seiten, 24,80 Euro
Als Haile Selassie gestürzt wird, gerät Marion, der Erzähler, in Gefahr und muss aus dem Land fliehen. Er geht in die USA und kommt als Arzt in einem kleinen Krankenhaus unter. Nach jahrelanger Arbeit trifft er bei einer Operation auf seinen echten Vater, inzwischen ein berühmter Chirurg - ein schockierendes Erlebnis. Auch Marions Jugendliebe taucht plötzlich wieder auf, eine bittere Erfahrung, die ihm schließlich zum Verhängnis wird. Er erkrankt lebensgefährlich. Allein sein leiblicher Vater, den er ablehnt, kann ihn retten, und sein Bruder, der in Äthiopien am Missionskrankenhaus geblieben ist. Marion überlebt, aber um welchen Preis. Kurzfassung eines 750-Seiten-Epos.
Schmöker dieser Art haben inzwischen Seltenheitswert, nicht zuletzt, weil sie alle Register des Melodramas ziehen und sich dessen nie schämen. Abraham Verghese trägt eine höchst dramatische Familiengeschichte in klassisch-epischer Form vor, ohne sich um literarische Moden und Trends zu kümmern. Sein voluminöses Werk meidet alle literarischen Experimente, geht chronologisch voran, erzählt allerdings aus der Rückschau, das heißt, der Erzähler weiß mehr als der Leser, lässt ihn aber im Ungewissen über den Ausgang der Geschichte, streut nur ab und an eine Bemerkung ein, die die Neugier des Lesers wecken soll und das auch erreicht.
Der Ich-Erzähler lässt seine Familiengeschichte lange vor der Geburt der Zwillinge beginnen, um die scheue und verbotene Liebesgeschichte der toten Mutter und des verschwundenen Vaters aufzurollen. Natürlich erkundet er auch die nicht weniger seltsame Liebesaffäre seiner Adoptiveltern. Diese Vorgeschichte, die allein ein Drittel des Romans einnimmt, hätte eine Raffung vertragen. Es dauert eine ganze Weile, bis sich die Ereignisse zuspitzen.
Man spürt auf jeder Seite, dass ein Arzt den Roman geschrieben hat. Derart detailliert kann über Krankheiten nur ein Experte schreiben. Doch das tut der Geschichte keinen Abbruch. Der Autor verliert sich nur selten in medizinischen Fachausdrücken, ohne sie zu erklären. Umso kräftiger singt er das hohe Lied auf die Berufung der Ärzte, Not zu lindern und Leben zu retten. Seine Glaubwürdigkeit bezieht der Roman nicht zuletzt aus diesem auf Erfahrung beruhenden Wissen des Autors. Eine aufregende Abenteuerreise in ein auch in übertragenem Sinne unbekanntes, literarisch bislang kaum erschlossenes Land.
Besprochen von Johannes Kaiser
Abraham Verghese: Rückkehr nach Missing
Aus dem amerikanischen von Silvia Morawetz
Insel Verlag, Frankfurt am Main 2009
769 Seiten, 24,80 Euro