Erst im Jenseits ist es wirklich schön

Von Vladimir Balzer |
Miriam Toews, eine der erfolgreichsten kanadischen Schriftstellerinnen, hat mit " Ein komplizierter Akt der Liebe " einen Roman mit großer Klappe aus Sicht einer 16-Jährigen geschrieben. Das Leben voller Vorschriften bei den Mennoniten, die ihr vermitteln, dass es erst im Jenseits schön sei, machen das Erwachsenwerden nicht leicht.
Erwachsenwerden ist schon schwer genug. Richtig schwer wird es aber erst, wenn man von angeblichen Erwachsenen umgeben ist, die selbst nie erwachsen werden wollten. Aus dem einfachen Grund, weil sie einen Großteil der Wirklichkeit ausblenden. So fühlt sich zumindest die 16-jährige Nomi, die ihre Kindheit und Jugend in den 70ern in einer Mennoniten-Gemeinde in der kanadischen Prärieprovinz Manitoba verbracht hat, dort, wo zwei Einwohner auf den Quadratkilometer leben.

Nomi erzählt dem Leser, was genau ein solches Leben bedeutet: Sex nie zum Spaß, keine Musik außerhalb der Kirche (nicht einmal die Beatles!), natürlich keine Zigaretten, kein Alkohol, ständige Belehrungen und Bekehrungen durch den Gemeindevorsteher - der von Nomi nur "Die Stimme" genannt wird, weil er über das Gemeinderadio zu seinen Schäfchen spricht - , vor allem aber: ein Leben als bekennender Sünder, als jemand, der alle Schuld der Welt auf sich nimmt, nicht aus der Reihe tanzt, kein Selbstbewusstsein entwickelt und wartet, bis der Tag kommt, wenn Gott ihn holt. Dann kommt das Jenseits und erst dort ist es wirklich schön. Das irdische Leben davor ist im Grunde nur Warten.

Und so soll man erwachsen werden! Doch, was noch viel schlimmer für Nomi ist: Eines Tages verschwindet ihre Schwester Natasha und sieben Wochen später verschwindet auch ihr Mutter. Nomi bleibt mit ihrem Vater allein. Ein Mann, der irgendwie Teil der Mennoniten-Welt ist, aber auch wieder nicht. Genauso wie ihre Mutter, bei der weder der Leser noch die Erzählerin genau wissen, ob sie nun wirklich glaubt, was die Mennoniten vertreten, oder ob sie nur auf den Moment wartet, endlich auszubrechen. Viel zu oft klingen ihre Kommentare zum Mennoniten- oder besser Fundamentalistenleben viel zu ironisch.

Während nun Nomis Umgebung Entscheidungen fällt - Flucht, innere Emigration oder einfach Mitschwimmen - bleibt sie irgendwie hängen. Sie versucht eigentlich nur, einigermaßen annehmbar erwachsen zu werden. Und doch muss sie irgendwann Entscheidungen fällen. Der Leser will es jedenfalls unbedingt, dass sie sich entscheidet, denn er versteht sie. Sie schlägt den schnoddrigen Ton an, den man mit 16 haben darf oder besser haben sollte. Das ist so amüsant, kurzweilig und in einem glaubwürdigen Teenagerton gehalten, dass es nur so eine Freude ist und man sich nur manchmal ärgert, nicht genug rumgerotzt zu haben, als man selbst so alt war. Ihre ironische, zuweilen zynische Haltung auf ihre Welt, auf ihre eigene Ausweglosigkeit, macht dieses Buch zu einem veritablen
Adoleszenz-Roman mit der dazugehörigen großen Klappe.

Die braucht man auch, umgeben von fundamentalistischen, kleingeistigen Superchristen in der kanadischen Prärie. Miriam Toews, eine der erfolgreichsten kanadischen Schriftstellerinnen, weiß genau, wovon ihre Erzählerin spricht, und vor allem wie sie spricht. Anders ist die literarische Qualität ihres Buches nicht zu erklären.

Miriam Toews: Ein komplizierter Akt der Liebe
304 Seiten.
€18.00
Deutsch von Christiane Buchner
Berlin Verlag

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel A Complicated Kindness bei Alfred A. Knopf, Canada