Eros und Erosion

21.12.2012
Strawinsky, Stephan, Skrjabin: Drei Mal "S", vier Mal C-Dur. Kirill Petrenko führt die Berliner Philharmoniker durch ein erlesenes Programm der Klassischen Moderne mit zahllosen Querbezügen. Ein Konzert zwischen zarter Verinnerlichung und lautstarker Entäußerung.
Die Verwendung klassischer Tonarten haben sich viele berühmte Komponisten im 20. Jahrhundert gründlich abgewöhnt. Um so erstaunlicher ist dieses Programm, dessen zwischen 1905 und 1930 entstandene Stücke allesamt sicheren C-Dur-Hafen erreichen – und diese Tonart auch noch demonstrativ unterstreichen.

Für Alexander Skrjabin war C-Dur eine "rote" Tonart. Er, der mit jedem Klang Farben und Düfte verband, wollte mit seinem "Poème de l’extase" eine weltumspannende Klangorgie feiern und sich selbst in den Mittelpunkt eines neuen Mysteriums stellen. Wenn der skurrile Grenzgänger zwischen Marxismus und Theosophie auch sein Ziel verfehlte, so gelang ihm doch eine auch heute noch mitreißende Klangvision.

Ungeahnt massive Klänge gehörten auch zur Ideenwelt Igor Strawinskys. Als er 1930 seine "Psalmensinfonie" zum 50-jährigen Bestehen des Boston Symphony Orchestra schrieb, ging es ihm allerdings um die Verinnerlichung: Es entstand eine zarte Musik im Geist der russisch-orthodoxen Liturgie. Ein sparsam instrumentiertes Chorwerk, das Stimmen in schwingende Glöckchen verwandelt.

Rudi Stephan schließlich hatte wenig Zeit, sein Genie zu entfalten. Am Beginn einer erfolgreichen Laufbahn fiel der Komponist 28-jährig im Ersten Weltkrieg. Anders als seine Vorbilder Skrjabin und Strawinsky schrieb er eine völlig abstrakte, rein vom Klang her gedachte Musik. Nur Weniges ist aus seiner Feder überliefert; selten wird es gespielt. Das prominente Plädoyer von Daniel Stabrawa, dem 1. Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, und Kirill Petrenko, dem künftigen Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper, hat Rudi Stephan bitter nötig.


Philharmonie Berlin
Aufzeichnung vom 19.12.2012

Igor Strawinsky
"Psalmensinfonie" für gemischten Chor und Orchester

Rudi Stephan
Musik für Geige und Orchester

ca. 20:55 Uhr Konzertpause mit Nachrichten

Rudi Stephan
Musik für Orchester in einem Satz

Alexander Skrjabin
"Le poème de l’extase", Sinfonische Dichtung op. 54


Daniel Stabrawa, Violine
Rundfunkchor Berlin
Berliner Philharmoniker
Leitung: Kirill Petrenko