Ernst Bloch war "ein Ketzer"
Die Philosophie Ernst Blochs sei in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr genügend zur Kenntnis genommen worden, obwohl sie nach wie von großer Aktualität sei, sagt Arno Münster, Bloch-Schüler, -Freund und Autor des Buches "Ernst Bloch - eine politische Biografie". Bloch wäre heute 125 Jahre alt geworden.
Matthias Hanselmann: "Hoffnung nagelt eine Flagge an den Mast." Ein schönes Bild, gezeichnet vom Philosophen Ernst Bloch, der heute vor 125 geboren wurde, und im Jahre 1977, im Alter von zwei 92 Jahren, gestorben ist. Ich habe mit einem seiner Schüler gesprochen, der in Blochs letzten Jahren zum Freund des Philosophen wurde - sein Name Arno Münster. Er ist Professor für Deutsche Philosophiegeschichte und Autor des Buches "Ernst Bloch. Eine Biografie". Meine erste Frage an Arno Münster: Ist der erste Tag etwas Besonderes für Sie?
Münster: Ja, absolut. Es ist ein besonderer Tag für mich, weil der 125. Geburtstag eines Philosophen, eines ganz großen Denkers ist, den ich bereits als junger Student in Tübingen 1963 zum ersten Mal kennengelernt hatte und der mich sowohl als Mensch in seiner Persönlichkeit, in seiner Güte, in seiner Ausstrahlungskraft unglaublich fasziniert hat. Ernst Bloch ist für mich auch heute noch ein ganz großes Vorbild mit einem prophetischen Nimbus und auch, was die Aussagekraft, nach wie vor finde ich aktuelle Aussagekraft, seiner Philosophie betrifft, die vielleicht leider in den letzten Jahrzehnten nicht mehr genügend zur Kenntnis genommen wurde, die aber meines Erachtens nach doch eine nach wie vor große Aktualität hat.
Hanselmann: Sein Werk "Prinzip Hoffnung", das war, so schreibt die "Zeit", das Handorakel der Intellektuellen, das Brevier der Unverzagten und das fünfte Evangeliums kritischer Theologen, und es war ja auch Ende der 60er-Jahre ein Bestseller, ein Standardwerk in linken Kreisen. Was hat Ernst Bloch aus Ihrer Sicht so attraktiv gemacht für die deutsche Studentenbewegung, welche Aussagen seiner Philosophie waren damals attraktiv für die Rebellierenden?
Münster: Attraktiv für die entstehende studentische Protestbewegung war natürlich eindeutig das, was man als Ernst Blochs Philosophie des aufrechten Gangs bezeichnen könnte, diese Verbindung von großer philosophischer Durchdringung unserer Problematik der Gegenwart mit einem sehr großen Engagement, auch einem politisch-moralischen Engagement. Ein Engagement in doppelter Hinsicht, also einerseits in Bezug auf die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und der Strukturen des Kapitalismus und andererseits auch des Stalinismus, der bürokratisch entarteten Diktatur der Apparatschiks in der Gestalt der DDR und der anderen realsozialistischen Systeme. Bloch war in dieser Hinsicht ein Ketzer. Er war - wie Oskar Negt einmal so schön sagte, ich glaube auf Blochs Beerdigung in Tübingen - der eigentlich aufrichtigste Ketzer im Marxismus des 20. Jahrhunderts. Und ich glaube, dass diese Form der produktiven Ketzerei gerade Bloch in den Tagen dieser Studentenbewegung so populär gemacht hat.
Hanselmann: Ein Ketzer des Marxismus, vielleicht auch ein Ketzer des Christentums oder irgendwo dazwischen. Bloch hat zu dieser Zeit einmal geschrieben: "Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, gewiss aber auch: Nur ein Christ kann ein guter Atheist sein." Das klingt natürlich plakativ und provokant. Wie war es denn gemeint 1968?
Münster: Ja, wie Sie sagen, es war allerdings eine sehr provokante These: Nur ein guter Christ kann Atheist sein, nur ein Atheist kann ein guter Christ sein. Dahinter steht nichts anderes als das was beispielsweise (Anm. d. Red: schwer verständlich) typisch ist für die Religionsphilosophie von Ernst Bloch. Und man muss dazu schon sagen, dass das herausragende Charakteristikum gerade dieses großen Denkers ist, dass er von allen neomarxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts derjenige ist - vielleicht mit Walter Benjamin -, der sich am meisten für das Phänomen der Religiosität oder auch der Theologie interessiert hat, und der versucht hat eben, Marxismus und Theologie irgendwie zusammenzubringen. Aber dieses Zusammenbringen von beidem hat zur Folge, dass er in den religiösen Bewegungen gerade jene Motive herausstellt, die in der Tradition der Kirchen zurückgedrängt, wenn nicht sogar unterdrückt wurden. Das heißt also Ketzer, die ketzerischen Bewegungen eben. Das heißt, es geht ihm darum, in dem religiösen Bewusstsein auf diese Weise (Anm. d. Red.: Schwer verständlich) utopische Momente ausfindig zu machen, die ein produktives Miteinander oder Zusammengehen zwischen diesen Formen des religiösen Bewusstseins mit den rebellischen Bewegungen, die nicht religiös sind, ermöglichen. Das ist also im Grunde die Quintessenz dieses Buchs oder dieses Aufrufs, "Atheismus im Christentum", ein Buch, das zum Beispiel in Lateinamerika eine ganz außerordentliche Resonanz fand, einfach deswegen, weil es dort ja eben die Theologie der Befreiung gab und die begeistert diese Bloch'schen Theorien aufgenommen hat. In dieser Weise ist Bloch sozusagen ein Vorläufer, ein Vordenker jener Theologie der Befreiung, die dann eben in diesen Ländern Lateinamerikas, in Brasilien, Nicaragua und so weiter ganz groß aufgegangen ist.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Arno Münster. Er ist Bloch-Schüler, -Freund und -Biograf. Herr Münster, wie würden Sie einem heutigen Menschen sagen wir mal die Botschaft, das philosophische Credo Ernst Blochs erklären? Neben dem Prinzip Hoffnung spielt ja auch der Begriff der konkreten Utopie eine Rolle. Wie würden Sie das heute einem Menschen erklären, der von Bloch noch nichts gehört hat?
Münster: Im Mittelpunkt von Blochs Philosophie ist eindeutig eine Ontologie des Noch-nicht-Seins, in der das Noch-Nicht das Zukunftsbild und zugleich den Anstoßfaktor repräsentiert, der das antizipierende Bewusstsein mit dem Träumen nach vorwärts und einer konkret utopischen Praxis verbindet, die durch die Kategorie Möglichkeit vermittelt wird. Also diese Tagträume werden dann vermischt mit den Erinnerungsbildern der Utopien, in ihrer verschiedensten geschichtlichen und ästhetischen Gestalt, in Utopien der Architektur, in Malerei, in Dichtung und Musik, die die gesamte westliche Kulturgeschichte prägen. Und diese Weltkultur, eben Prinzip Hoffnung, die ist für Bloch der Stoff der Hoffnung, und er interpretiert ihn mit sichtlichem Vergnügen, so als schriebe er die Partitur für ein Orchester, das alle Genies der Erde vereint. Und Blochs "Prinzip Hoffnung" zufolge lebt der Mensch also noch in der Vorgeschichte, und alles steht noch, sagt er, vor der Erschaffung der Welt, die wirklich Genesis ist nicht am Anfang, sie ist am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Und die Wurzel der Geschichte, sagt Bloch, das ist aber der arbeitende, schaffende, die Begebenheiten umbildende und überholende Mensch.
Hanselmann: Ernst Bloch hat sich verstanden, zumindest in früheren Jahren, als überzeugten Marxisten. Was ist von diesen überzeugten Marxisten am Ende von Blochs Leben, an dem Sie ja intensiven Kontakt mit ihm hatten, also Ende der 70er-Jahre, was ist davon übrig geblieben?
Münster: Man kann sagen, dass Ernst Bloch auch nach seinem Weggang aus der DDR nicht mit dem Marxismus gebrochen hat. Und das ist ja nun gerade das gewisserweise Typische für sein Profil und sein Engagement, dass er auch nach dem Bruch mit dem Stalinismus, mit den bürokratischen Systemen des Ostens dennoch der Versuchung widerstanden hat, sich vom Marxismus abzuwenden. Er hat auch in den Jahren nach seiner Ankunft in Tübingen 1961, in diesen 15 Jahren, in denen er in Tübingen ununterbrochen bis zu seinem Tode 1977 gelehrt hat, einen humanistischen, man könnte sagen messianisch-utopischen Marxismus gelehrt und vertreten. Das heißt ein Marxismus, den Bloch befreien wollte von den Fesseln und ausschließlichen Fixierung auf eine Kritik der politischen Ökonomie, so wie er bei Marx da steht, und der dann also von Vulgärmarxisten und wie er vor allem im Stalinismus wirklich zu einer sterilen Vulgata geworden ist. Sein Grundverdienst ist, zu sagen, dass er den Marxismus humanistisch, messianisch-utopisch bereichern, erneuern wollte - erneuern wollte eben auch als eine Theorie, die trotz aller Umwege, die die Geschichte eingenommen hat, und trotz aller Abweichungen und trotz aller stalinistischen Verbrechen und so weiter dennoch das eigentliche Ziel der Veränderung, nämlich der Möglichkeit einer wirklichen Veränderung der Welt zum Besseren nie aus dem Auge verliert. Bloch hat daran also bis zuletzt festgehalten. Er stand aufrecht da wie ein Fels, und er hat auch bis zuletzt dieser Idee der Emanzipation, der Möglichkeit der Emanzipation der Menschen aus entfremdeten Verhältnissen festgehalten hat.
Hanselmann: Und der nicht ahnen konnte, dass die sozialistischen Systeme wenig später, jedenfalls aus so einer langen Lebenssicht gesehen, weitgehend zusammenbrechen in dieser neuen Welt und dessen Philosophie heute, wenn ich es mal so sagen kann, keine so große Rolle mehr spielt.
Münster: Den bevorstehenden möglichen Zusammenbruch der Sowjetunion, so weit, glaube ich, reichte sein prophetischer Blick damals nicht. Er war davon überzeugt, dass es möglich sein müsste, dieses System noch von innen zu demokratisieren. Deswegen hatte er so begeistert von dem Prager Frühling, von dem, was Alexander Dubcek in Prag unternahm, im Frühjahr 1968. Doch das schwebte ihm für die DDR und schließlich auch für die Sowjetunion und alle diese staatsbürokratischen Systeme vor. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es so weit käme, dass das System ganz zusammenbrechen würde. Das in der Tat konnte er sich nicht vorstellen. Aber er war durchaus sich bewusst, dass diese Systeme in einer außerordentlich schweren Krise stecken, in einer Krise, die nicht nur eine ökonomische Krise war, sondern auch eine politisch-moralische. Und dass das eventuell auch ganz dramatische Folgen haben könnte, dies war Bloch durchaus damals schon bewusst.
Hanselmann: Vielen Dank! Zum 125. Geburtstag des Philosophen Ernst Bloch haben wir gesprochen mit Arno Münster, Bloch-Schüler, -Freund und Autor des Buches "Ernst Bloch - eine politische Biografie". Danke schön, Herr Münster!
Münster: Ja, vielen Dank Herr Hanselmann!
Münster: Ja, absolut. Es ist ein besonderer Tag für mich, weil der 125. Geburtstag eines Philosophen, eines ganz großen Denkers ist, den ich bereits als junger Student in Tübingen 1963 zum ersten Mal kennengelernt hatte und der mich sowohl als Mensch in seiner Persönlichkeit, in seiner Güte, in seiner Ausstrahlungskraft unglaublich fasziniert hat. Ernst Bloch ist für mich auch heute noch ein ganz großes Vorbild mit einem prophetischen Nimbus und auch, was die Aussagekraft, nach wie vor finde ich aktuelle Aussagekraft, seiner Philosophie betrifft, die vielleicht leider in den letzten Jahrzehnten nicht mehr genügend zur Kenntnis genommen wurde, die aber meines Erachtens nach doch eine nach wie vor große Aktualität hat.
Hanselmann: Sein Werk "Prinzip Hoffnung", das war, so schreibt die "Zeit", das Handorakel der Intellektuellen, das Brevier der Unverzagten und das fünfte Evangeliums kritischer Theologen, und es war ja auch Ende der 60er-Jahre ein Bestseller, ein Standardwerk in linken Kreisen. Was hat Ernst Bloch aus Ihrer Sicht so attraktiv gemacht für die deutsche Studentenbewegung, welche Aussagen seiner Philosophie waren damals attraktiv für die Rebellierenden?
Münster: Attraktiv für die entstehende studentische Protestbewegung war natürlich eindeutig das, was man als Ernst Blochs Philosophie des aufrechten Gangs bezeichnen könnte, diese Verbindung von großer philosophischer Durchdringung unserer Problematik der Gegenwart mit einem sehr großen Engagement, auch einem politisch-moralischen Engagement. Ein Engagement in doppelter Hinsicht, also einerseits in Bezug auf die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und der Strukturen des Kapitalismus und andererseits auch des Stalinismus, der bürokratisch entarteten Diktatur der Apparatschiks in der Gestalt der DDR und der anderen realsozialistischen Systeme. Bloch war in dieser Hinsicht ein Ketzer. Er war - wie Oskar Negt einmal so schön sagte, ich glaube auf Blochs Beerdigung in Tübingen - der eigentlich aufrichtigste Ketzer im Marxismus des 20. Jahrhunderts. Und ich glaube, dass diese Form der produktiven Ketzerei gerade Bloch in den Tagen dieser Studentenbewegung so populär gemacht hat.
Hanselmann: Ein Ketzer des Marxismus, vielleicht auch ein Ketzer des Christentums oder irgendwo dazwischen. Bloch hat zu dieser Zeit einmal geschrieben: "Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, gewiss aber auch: Nur ein Christ kann ein guter Atheist sein." Das klingt natürlich plakativ und provokant. Wie war es denn gemeint 1968?
Münster: Ja, wie Sie sagen, es war allerdings eine sehr provokante These: Nur ein guter Christ kann Atheist sein, nur ein Atheist kann ein guter Christ sein. Dahinter steht nichts anderes als das was beispielsweise (Anm. d. Red: schwer verständlich) typisch ist für die Religionsphilosophie von Ernst Bloch. Und man muss dazu schon sagen, dass das herausragende Charakteristikum gerade dieses großen Denkers ist, dass er von allen neomarxistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts derjenige ist - vielleicht mit Walter Benjamin -, der sich am meisten für das Phänomen der Religiosität oder auch der Theologie interessiert hat, und der versucht hat eben, Marxismus und Theologie irgendwie zusammenzubringen. Aber dieses Zusammenbringen von beidem hat zur Folge, dass er in den religiösen Bewegungen gerade jene Motive herausstellt, die in der Tradition der Kirchen zurückgedrängt, wenn nicht sogar unterdrückt wurden. Das heißt also Ketzer, die ketzerischen Bewegungen eben. Das heißt, es geht ihm darum, in dem religiösen Bewusstsein auf diese Weise (Anm. d. Red.: Schwer verständlich) utopische Momente ausfindig zu machen, die ein produktives Miteinander oder Zusammengehen zwischen diesen Formen des religiösen Bewusstseins mit den rebellischen Bewegungen, die nicht religiös sind, ermöglichen. Das ist also im Grunde die Quintessenz dieses Buchs oder dieses Aufrufs, "Atheismus im Christentum", ein Buch, das zum Beispiel in Lateinamerika eine ganz außerordentliche Resonanz fand, einfach deswegen, weil es dort ja eben die Theologie der Befreiung gab und die begeistert diese Bloch'schen Theorien aufgenommen hat. In dieser Weise ist Bloch sozusagen ein Vorläufer, ein Vordenker jener Theologie der Befreiung, die dann eben in diesen Ländern Lateinamerikas, in Brasilien, Nicaragua und so weiter ganz groß aufgegangen ist.
Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Arno Münster. Er ist Bloch-Schüler, -Freund und -Biograf. Herr Münster, wie würden Sie einem heutigen Menschen sagen wir mal die Botschaft, das philosophische Credo Ernst Blochs erklären? Neben dem Prinzip Hoffnung spielt ja auch der Begriff der konkreten Utopie eine Rolle. Wie würden Sie das heute einem Menschen erklären, der von Bloch noch nichts gehört hat?
Münster: Im Mittelpunkt von Blochs Philosophie ist eindeutig eine Ontologie des Noch-nicht-Seins, in der das Noch-Nicht das Zukunftsbild und zugleich den Anstoßfaktor repräsentiert, der das antizipierende Bewusstsein mit dem Träumen nach vorwärts und einer konkret utopischen Praxis verbindet, die durch die Kategorie Möglichkeit vermittelt wird. Also diese Tagträume werden dann vermischt mit den Erinnerungsbildern der Utopien, in ihrer verschiedensten geschichtlichen und ästhetischen Gestalt, in Utopien der Architektur, in Malerei, in Dichtung und Musik, die die gesamte westliche Kulturgeschichte prägen. Und diese Weltkultur, eben Prinzip Hoffnung, die ist für Bloch der Stoff der Hoffnung, und er interpretiert ihn mit sichtlichem Vergnügen, so als schriebe er die Partitur für ein Orchester, das alle Genies der Erde vereint. Und Blochs "Prinzip Hoffnung" zufolge lebt der Mensch also noch in der Vorgeschichte, und alles steht noch, sagt er, vor der Erschaffung der Welt, die wirklich Genesis ist nicht am Anfang, sie ist am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Und die Wurzel der Geschichte, sagt Bloch, das ist aber der arbeitende, schaffende, die Begebenheiten umbildende und überholende Mensch.
Hanselmann: Ernst Bloch hat sich verstanden, zumindest in früheren Jahren, als überzeugten Marxisten. Was ist von diesen überzeugten Marxisten am Ende von Blochs Leben, an dem Sie ja intensiven Kontakt mit ihm hatten, also Ende der 70er-Jahre, was ist davon übrig geblieben?
Münster: Man kann sagen, dass Ernst Bloch auch nach seinem Weggang aus der DDR nicht mit dem Marxismus gebrochen hat. Und das ist ja nun gerade das gewisserweise Typische für sein Profil und sein Engagement, dass er auch nach dem Bruch mit dem Stalinismus, mit den bürokratischen Systemen des Ostens dennoch der Versuchung widerstanden hat, sich vom Marxismus abzuwenden. Er hat auch in den Jahren nach seiner Ankunft in Tübingen 1961, in diesen 15 Jahren, in denen er in Tübingen ununterbrochen bis zu seinem Tode 1977 gelehrt hat, einen humanistischen, man könnte sagen messianisch-utopischen Marxismus gelehrt und vertreten. Das heißt ein Marxismus, den Bloch befreien wollte von den Fesseln und ausschließlichen Fixierung auf eine Kritik der politischen Ökonomie, so wie er bei Marx da steht, und der dann also von Vulgärmarxisten und wie er vor allem im Stalinismus wirklich zu einer sterilen Vulgata geworden ist. Sein Grundverdienst ist, zu sagen, dass er den Marxismus humanistisch, messianisch-utopisch bereichern, erneuern wollte - erneuern wollte eben auch als eine Theorie, die trotz aller Umwege, die die Geschichte eingenommen hat, und trotz aller Abweichungen und trotz aller stalinistischen Verbrechen und so weiter dennoch das eigentliche Ziel der Veränderung, nämlich der Möglichkeit einer wirklichen Veränderung der Welt zum Besseren nie aus dem Auge verliert. Bloch hat daran also bis zuletzt festgehalten. Er stand aufrecht da wie ein Fels, und er hat auch bis zuletzt dieser Idee der Emanzipation, der Möglichkeit der Emanzipation der Menschen aus entfremdeten Verhältnissen festgehalten hat.
Hanselmann: Und der nicht ahnen konnte, dass die sozialistischen Systeme wenig später, jedenfalls aus so einer langen Lebenssicht gesehen, weitgehend zusammenbrechen in dieser neuen Welt und dessen Philosophie heute, wenn ich es mal so sagen kann, keine so große Rolle mehr spielt.
Münster: Den bevorstehenden möglichen Zusammenbruch der Sowjetunion, so weit, glaube ich, reichte sein prophetischer Blick damals nicht. Er war davon überzeugt, dass es möglich sein müsste, dieses System noch von innen zu demokratisieren. Deswegen hatte er so begeistert von dem Prager Frühling, von dem, was Alexander Dubcek in Prag unternahm, im Frühjahr 1968. Doch das schwebte ihm für die DDR und schließlich auch für die Sowjetunion und alle diese staatsbürokratischen Systeme vor. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es so weit käme, dass das System ganz zusammenbrechen würde. Das in der Tat konnte er sich nicht vorstellen. Aber er war durchaus sich bewusst, dass diese Systeme in einer außerordentlich schweren Krise stecken, in einer Krise, die nicht nur eine ökonomische Krise war, sondern auch eine politisch-moralische. Und dass das eventuell auch ganz dramatische Folgen haben könnte, dies war Bloch durchaus damals schon bewusst.
Hanselmann: Vielen Dank! Zum 125. Geburtstag des Philosophen Ernst Bloch haben wir gesprochen mit Arno Münster, Bloch-Schüler, -Freund und Autor des Buches "Ernst Bloch - eine politische Biografie". Danke schön, Herr Münster!
Münster: Ja, vielen Dank Herr Hanselmann!