Erniedrigt und gedemütigt

Peter Wensierski und Andrea Stoll im Gespräch mit Ulrike Timm · 04.03.2013
Mehr als 100.000 Kinder haben in den 50er-Jahren furchtbare Erfahrungen in katholischen und evangelischen Heimen gemacht. Erst durch den "Spiegel"-Autor Peter Wensierski wurde ihr Schicksal öffentlich. Andrea Stoll hat aus dem Stoff jetzt einen aufwühlenden und beschämenden Fernsehfilm gemacht.
Ulrike Timm: "Es war Unrecht", sagt Matthias Habich im Film "Und alle haben geschwiegen". Unrecht, das ist ein starkes Wort, aber auch ein schwaches, wenn man solche Erlebnisse in sich herumträgt wie die bis zu 800.000 Menschen in sich tragen, die in den 1950er- bis 70er-Jahren in kirchlichen Kinderheimen untergebracht waren, dort schufteten, misshandelt wurden und systematisch gebrochen. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit ist ihr Schicksal ja überhaupt ein Thema in der Öffentlichkeit.

Andreas Stoll schrieb das Drehbuch, das auf den Recherchen des "Spiegel"-Journalisten Peter Wensierski beruht, dessen Buch "Schläge im Namen des Herrn", das Thema überhaupt erst auf den Tisch brachte. Beide sind jetzt bei uns zu Gast. Schönen guten Tag an Sie beide.

Peter Wensierski: Guten Tag!

Andrea Stoll: Guten Tag, Frau Timm.

Timm: Herr Wensierski, Sie haben ganz viele frühere Heimkinder gesprochen, die solch kirchliche Heime überlebt haben. Zehn Stunden in der Wäscherei statt Schulbesuch, Prügel für Vergehen, die man gar nicht verstand. Lauter übereinstimmende Geschichten, die Sie gehört haben?

Wensierski: Ja, ich bin kreuz und quer durchs ganze Land gefahren, und die Geschichten stimmten immer überein. Es waren Geschichten von Folterstrafen, von Erniedrigung, von Demütigung, von Kindern, denen eigentlich damals hätte geholfen werden sollen, die aber für ihr Leben lang geschädigt wurden durch das, was sie da in den Heimen erlebt haben. Ich wusste selber am Anfang nicht das ganze Ausmaß, also das es 800.000, möglicherweise auch über eine Million Kinder waren, die in den 50er-, 60er- und bis in die 70er-Jahre in den Erziehungsheimen waren, das konnte ich gar nicht ahnen. Ich hab dann gezählt: 1960 gab es über 3.000 Heime. Und die Hälfte davon katholisch und nur 20 Prozent staatlich, die anderen evangelisch. Und es gab – ich hab lange auch gesucht – es gab kaum ein Heim, ich hab gar keins gefunden, das irgendwie anders war, das nicht so gemein zu den Kindern gewesen ist, wie es mir die Betroffenen geschildert haben.

Timm: Beten, hart körperlich arbeiten und verprügelt werden – so war der Tagesablauf?

Wensierski: Ja. Und sie kamen unschuldig hinein. Also es waren oft einfach nur Kinder von alleinerziehenden Müttern oder es waren Kinder, wo die Mutter einen neuen Mann geheiratet hatte, der das Kind vom anderen nicht wollte. Es ging damals sehr leicht. Die Kinder wurden ja auch zerrieben. Es war eine Zeit, der Film spielt ja 1964, in der die Kinder anders leben wollten als ihre Eltern. Sich die Haare lang wachsen ließen oder andere Musik hörten. Das war ein Kampf ja schon auch der Eltern und der Gesellschaft, die noch irgendwo in der Nazizeit lebten und an Zucht und Ordnung festhalten wollten gegen das, was eben an Modernisierung hineinkam in die Gesellschaft und was die Jugendlichen wollten.

Timm: Andrea Stoll hat das Drehbuch zum Film geschrieben. Wie kam es dazu, daraus einen Spielfilm zu machen?

Stoll: Na ja, ich bin auf dieses Thema gestoßen, noch bevor ich Peter Wensierskis Buch las, bin ich auf zwei Notizen gestoßen in der "Süddeutschen" und in der "FAZ", da hatte Peter Wensierski sein Buch schon geschrieben. Ich kannte es noch nicht, und ich muss sagen, ein bisschen bekannt war mir, dass solche Missstände in katholischen Erziehungsheimen geherrscht haben. Dass aber die evangelische Seite genauso schlimm sich schuldig gemacht hat, und dass die Zustände dort in keinster Weise besser besser waren, das war für mich der persönliche Ausgangspunkt zu sagen, da will ich aber jetzt mal Genaueres wissen.

Timm: Der Film hat eine ganz eigene Intensität. Man kann zeitweilig kaum hinschauen, und Sie müssen ja in einem Spielfilm zwangsläufig verdichten. Sie haben es gemacht, Sie haben sich auf zwei Jugendliche konzentriert, auf Luisa und Paul. Die beiden stehen stellvertretend, oder gab es die beiden wirklich, Frau Stoll?

Stoll: Nein, es gab sie nicht wirklich im Sinne, dass es diese Menschen gegeben hätte und man hier ein Schicksal eins zu eins erzählt. Das war auch in der Tat die große Herausforderung. Denn mit Peter Wensierskis Buch "Schläge im Namen des Herrn", aber auch mit allen weiteren Recherchen hatte ich natürlich eine so ungeheure Fülle an Schicksalen und auch an Erzählmöglichkeiten zur Hand, dass man dann schon sehr genau überlegen musste, was nehme ich aus dieser Fülle, um trotzdem ganz wahrhaftig und realistisch zu erzählen und trotzdem das auch so zu verdichten, dass es als Spielfilm funktioniert. Und für mich waren doch entscheidende Kriterien die, was sind exemplarische Erfahrungen, was sind exemplarische Erfahrungen, mit denen sich viele ehemalige Heimkinder identifizieren können?

Und ein entscheidender Punkt dabei ist das, was Peter Wensierski vorhin angesprochen hat: Man ist unschuldig ins Heim gekommen. Das Zweite, was ich sehr wichtig fand, war der völlige Entzug von Bildung. Also dass in einer Zeit, in der ja nun wirklich schon Schulpflicht und alles bestand, dass da den Kindern von jetzt auf gleich die Möglichkeit genommen wurde, die weiterführende Schule zu besuchen, dass nicht geschaut wurde, welche Persönlichkeit, welche Begabung steht dahinter, sondern in der Tat, aus Schicksalen Nummern gemacht wurden – die Kinder bekamen Nummern, die wurden nicht mehr mit ihrem Namen angeredet. Also das heißt, die Entindividualisierung, die Brechung des Willens und die Zerstörung der Persönlichkeit, dass hier ein System dahinter stand, was wirklich mit Brachialgewalt Lebensläufe zerstört hat. Und das wollten wir zeigen …

Wensierski: Nach dem Spielfilm kommt ja auch – vielleicht darf ich da mal kurz einhaken – eine Dokumentation. Die zeigt ehemalige Heimkinder, sie kommen dort zu Wort, und es wird gezeigt, dass das, was im Film vorkommt, dass sich der Junge einen Dietrich macht und damit ein Funke Hoffnung aufkeimt, den Jungen gab es wirklich im Kalmenhof bei Wiesbaden. Ein Junge, der einen Dietrich gefunden hat und damit überall reinkam und rauskam. Der auch immer in die Duschen der Mädchen musste, wenn dort die Erzieher geprügelt hatten und es galt, Blut wegzuwischen. Das hat es wirklich gegeben.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das Radiofeuilleton im Gespräch mit Peter Wensierski. Auf seinen Recherchen beruht Andrea Stolls Spielfilm "Schläge im Namen des Herrn", der heute Abend im ZDF zu sehen ist. Als Rahmenhandlung haben Sie den Runden Tisch gewählt, der vor drei Jahren eingerichtet wurde, um überhaupt erst mal eine Aussprache, eine Zuhörmöglichkeit zu schaffen. "Um Worte waren die noch nie verlegen", sagt Matthias Habich alias Paul, der, anders als die alt gewordene Luisa, die Senta Berger spielt, erst mal nicht reden will und auch nicht reden kann. Die beiden Protagonisten sind dann auch die Pole, wie man mit dem Erlebten im weiteren Leben fertig oder eigentlich eben auch nicht fertig wird, Herr Wensierski?

Wensierski: Eigentlich werden beide nicht fertig, das wird deutlich. Auch Senta Berger als Schauspielerin sagt im Film, dass sie immer wieder nachts aufwacht, schweißgebadet, immer wieder die Bilder vor Augen hat von damals. Und Matthias Habich, der einen, ja, in sich gekehrten, verschlossenen, traumatisierten 60-Jährigen spielt – genau diese Leute gibt es auch, die nichts mehr davon wissen wollen. Die auch nicht glauben, dass der Rest der Menschheit versteht, was sie erlebt haben. Diese Folter teilweise. Und der Film zeigt, was geschehen ist, welches dunkle Kapitel wir haben in der Erziehung in Deutschland von Kindern.

Und ich denke, jeder, der mit Kindern heute zu tun hat, sollte sich das anschauen, wie lange bestimmte Dinge, die bei Kindern geschehen, im Leben eine Rolle spielen und auch wirklich Teile der Persönlichkeit vernichten können. Das wird durch die Schauspieler, glaube ich, ganz gut rübergebracht. Und deshalb zeigt der Film ja auch die 15-, 16-Jährigen damals, 1964, wie sie als Jugendliche das erlebt haben, als sie ins Heim eingesperrt wird, die Luisa in dem Film eben nur, weil die Mutter krank geworden ist und sie keinen Vater hatte und das Vormundschaftsgericht gesagt hat: Ab ins Heim.

Timm: Frau Stoll, die Luisa hat es zumindest verarbeitet am Ende, ein wenig.

Stoll: Ja, mir war wichtig bei der Auswahl des Stoffes und bei der Entwicklung der Figuren, dass es tatsächlich Menschen gibt, und das weiß auch die Traumaforschung, denen Reden ein Stück weit helfen kann. Es kann nicht heilen, aber es kann helfen, überhaupt weiter leben zu können. Es gibt aber auch Menschen, für die ist das Schweigen der bessere Weg. Die kommen besser durchs Leben, wenn sie die Dinge nicht aussprechen. Und diesen Kampf, wie gehe ich mit dem um, was mich so bedrückt, das ist auch der Kampf zwischen unserem Paar, Luisa und Paul, und das ist auch exemplarisch für die Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben.

Timm: Herr Wensierski, was haben denn die ehemaligen Heimkinder, die heute so alt sind wie Luisa und Paul im Film, was haben die denn zu dem Film gesagt?

Wensierski: Die, die ihn bisher schon gesehen haben, waren sehr berührt und sehr bewegt. Und es flossen auch Tränen, und sie haben sich auch wiedererkannt. Aber sie haben auch gesagt, das ist ein Film, und das, was wir in der Realität erlebt haben, das war oft noch viel härter. Da gibt es auch Dinge, die kann man einem Publikum kaum zumuten, die diese Kinder erlebt haben. Und dennoch, denke ich, ist es wichtig, dass vor einem Millionenpublikum noch mal das gezeigt wird, was passiert, wenn alle wegschauen. Der Film heißt ja nicht umsonst "Und alle haben geschwiegen".

Es ist auch eine Aufgabe, denke ich, für die Journalisten und für die Öffentlichkeit, eben hinzuschauen, auch heute überall hinzuschauen, auch da, wo Institutionen vielleicht verschlossener sind. Seien es die Altersheime, seien es Jugenderziehungsheime, seien es andere Institutionen. Es geschehen sonst Dinge hinter den Mauern, die letzten Endes für die Gesellschaft und für die Menschen ganz schlimm sind und Leben zerstören können.

Timm: Es gibt heute eine eher symbolische kleine Entschädigung für die Opfer, 300 Euro für jeden Monat Zwangsarbeit, aber gerade in den letzten Tagen kamen Meldungen, wonach jenseits des ziemlich publikumswirksamen Runden Tisches von 2010 nicht viel geschehen sei. Insbesondere von Kirchenseite aus sei nicht viel geschehen. Was hören Sie denn von Ihren Gesprächspartnern, wie erleben denn die Opfer dieser Heimerziehung die Reaktion der Kirchen heute?

Wensierski: Es sind einige wenige zufrieden und viel zu viele unzufrieden, und zwar zu Recht unzufrieden, weil das Geschehene nicht wiedergutgemacht werden kann. Auch nicht durch Geld, und die Summen, die jetzt zur Verfügung stehen, vielleicht 3.000, vielleicht 5.000 Euro pro Person, sind da, ja, eine kleine Linderung, eine kleine Geste, aber nicht wirklich eine Wiedergutmachung für das, was in der Jugend zerstört wurde.

Viele hatten wirklich keine Chance mehr im Leben. Durch mangelnde Bildung, durch dieses Zerstören des Selbstbewusstseins, ja, durch das Zerstören der Person auf die Füße zu kommen, und haben wirklich – sind ihrer Chancen im Leben wirklich beraubt worden. Ich habe nicht umsonst geschrieben, das ist das größte Unrecht im Rechtsstaat, in der Bundesrepublik, das an Kindern und Jugendlichen nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat. Zumindest, sagen sie, dass die Öffentlichkeit jetzt hergestellt worden ist, dass es so einen Film gibt, dass so prominente Schauspieler Heimkinder spielen, Heimkinder, die also bis vor Kurzem ja gar nicht, also bis ich die Recherchen angefangen hatte für das Buch, gar nicht existierten in der Gesellschaft, gar nicht wahrgenommen wurden, das finden sie schon einen großen Fortschritt. Aber das Geschehene kann damit nicht rückgängig gemacht werden.

Timm: Peter Wensierski schrieb das Buch "Schläge im Namen des Herrn", Andrea Stoll hat das Drehbuch zum Film "Und alle haben geschwiegen" geschrieben, der heute Abend ab 20 Uhr 15 im ZDF zu sehen ist. Matthias Habich und Senta Berger sind als Schauspieler dabei. Herr Wensierski und Frau Stoll, vielen Dank fürs Gespräch!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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