Ermächtigung des Publikums

12.06.2012
Skandale gibt es, seit es Massenmedien gibt. Korruption, Missstände, Intrigen und Affären aufzudecken und die öffentliche Empörung zu orchestrieren, das war einmal das Privileg der Vierten Gewalt. In Zeiten von WikiLeaks, Guttenplag und Shitstorms ist das anders. Wir erleben einen neuen Typus Skandal. Die beiden Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und Hanne Detel haben ihn treffend den "entfesselten Skandal” getauft und ihm eine aufschlussreiche Studie gewidmet.
Folgten im Zeitalter der Massenmedien Skandale einer klar strukturierten Erregungskurve, mit den Journalisten als Taktgebern, so machen die Massen heute, bewaffnet mit Handy und Internetanschluss, ihre Medien selbst. Und ihre Skandale. Das Publikum empört sich nun nicht mehr bloß am Kneipentisch über die Verfehlungen der Mächtigen, sondern wird selbst aktiv: Jeder kann heute Blogkommentare schreiben, Facebook-Gruppen bilden oder nach Plagiaten in einer Doktorarbeit recherchieren - und wird so selbst zum Akteur im Skandalgeschehen.

Diese Demokratisierung hat, so die Autoren, gravierende Folgen für die Dynamik von Skandalen. Das heutige mediale Geschehen ist von rasender Geschwindigkeit und deutlich erhöhter Transparenz geprägt. Was dazu führt, dass die klassischen Taktiken des Skandalmanagments – Abstreiten, Verschleiern, Diskreditieren, Aussitzen – nicht mehr greifen, wenn nicht gar den Skandal verschlimmern. So war das Dementi des unter Plagiatsverdacht stehenden Verteidigungsministers zu Guttenberg, zwar Fehler begangen aber keineswegs abgeschrieben zu haben, schon zum Zeitpunkt seiner Äußerung obsolet, wurde es doch zeitgleich durch immer neue Funde der Plagiatsjäger in aller Öffentlichkeit demontiert.

Doch die Ermächtigung des Publikums hat auch ihre Schattenseiten. Entfesselung des Skandals heißt auch, dass nicht mehr nur die Reichen und Mächtigen am Pranger stehen. In Zeiten der Überallmedien wird alles und jeder skandalisierbar - und sei es der simple Wutausbruch eines chinesischen Mannes in einem Bus. Heimlich gefilmt von einem Mitreisenden wurde der an sich belanglose Vorfall zum millionenfach gesehenen und hämisch kommentierten Aufreger, zu einer weiteren Episode in den endlosen Skandalchroniken des Netzes.

Die Autoren rekonstruieren mit Liebe zum Detail die Verläufe solch entfesselter Skandale. Das Spektrum reicht von der Erstveröffentlichung der Lewinsky-Affäre durch den Blogger Matt Drudge über die Folterfotos von Abu Ghraib bis zu privaten Fehden, die in die Netzöffentlichkeit getragen werden. Bei aller Unterschiedlichkeit der Beispiele zeigt sich als gemeinsames Merkmal die Erfahrung eines radikalen Kontrollverlustes bei den Betroffenen. Das eigene Image ist in keinster Weise mehr zu steuern, wenn die Daten über einen jederzeit kopiert, weiterverbreitet, auf ewig gespeichert und in immer neue Zusammenhänge gestellt werden können. So formulieren Detel und Pörksen am Ende einen einigermaßen resignativen kategorischen Imperativ für das digitale Zeitalter: "Handle stets so, dass Dir die öffentlichen Effekte Deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.”

Besprochen von Philipp Albers

Bernhard Pörksen, Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter
Herbert von Halem Verlag, Köln 2012
248, Seiten, 28 Abbildungen., 2 Tabellen, 19,80 Euro
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