Erler plädiert für internationale Sozialpolitik
Gernot Erler hält das Sozialstaatsmodell basierend auf nationaler Politik für überholt. Wenn allerdings die 27 Länder der EU mit 500 Millionen Einwohnern sich auf soziale Rahmenbedingungen verständigen würden, dann könnte das Bestand haben "auch unter den brutalen Bedingungen der Globalisierung", sagte der SPD-Politiker und Staatsminister im Auswärtigen Amt vor Beginn des Bundesparteitages der Sozialdemokraten in Hamburg.
Birgit Kolkmann: Kein Blick zurück im Zorn nach den Streitigkeiten der letzten Wochen, sondern gemeinsam nach vorn - linker und rechter Flügel in der SPD, Seit an Seit vor dem heute beginnenden Parteitag in Hamburg. Sechs SPD-Bundestagsabgeordnete, drei von der Parlamentarischen Linken, drei vom rechten Seeheimer Kreis, haben gestern in der "Süddeutschen Zeitung" eine Art Reform-Manifest veröffentlicht. Man könnte es auch Appell nennen. Ein Aufruf, gemeinsam die in der Agenda 2010 begonnenen Reformen weiterzuentwickeln. Das große Ziel, Zitat, "die SPD muss die große Idee der Nachhaltigkeit zur Leitlinie der deutschen und europäischen Politik machen, wirtschaftliche Innovationen, soziale Gerechtigkeit und Umweltverträglichkeit sollen dabei miteinander verbunden werden". So die zentrale Aussage der sechs Autoren, die für die beiden großen Strömungen in der SPD stehen.
Ich begrüße zum Interview einen von Ihnen, Gernot Erler, den Staatsminister im Auswärtigen Amt, lange im Sprecherkreis der parlamentarischen Linken, jetzt hier am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Schönen guten Morgen, Herr Erler!
Gernot Erler: Guten Morgen, Frau Kolkmann!
Kolkmann: Herr Erler, beschwören Sie da einen Geist der Sozialdemokratie, der schon fast der großen Verzagtheit gewichen war?
Erler: Auf jeden Fall versuchen wir mal, diese aktuelle Auseinandersetzung über Bezugsdauer von Arbeitslosengeld einzugliedern in eine Betrachtung der Reformpolitik, so ein bisschen aus der Vogelperspektive einzubauen in einen geschichtlichen Ablauf. Und da kommen wir eben noch mal drauf zu sprechen, dass der Ausgangspunkt im Grunde genommen dieses Reformversagen der 90er Jahre ist, natürlich bezogen auf die näher liegenden Aufgaben der deutschen Einheit, die im Grunde genommen abgelenkt haben von einem europäischen Reformprozess, der damals parallel zur Entwicklung in Deutschland stattfand, und auch getragen von der damaligen konservativen Verantwortung der CDU/CSU, die eben nicht besonders reformfreudig war, um zu zeigen, was eigentlich der Stellenwert dieses ganzen Agenda-Prozesses ist.
Kolkmann: Sie haben also in die Geschichte geblickt in Ihrem Manifest. Kohl machte demnach im Prinzip alles falsch, bis Gerhard Schröder, der große Modernisierer, kam.
Erler: Das ist etwas vereinfacht, aber das ist ja keine ganz ungängige Betrachtungsweise, dass dort ein Stau von Reformnotwendigkeit entstanden war und dass der im Grunde genommen erst durch das mutige Anpacken von Gerhard Schröder beendet wurde.
Kolkmann: Nun könnte man aber den Eindruck gewinnen, dass immer dann, wenn es innovativ zuging oder zugeht in der deutschen Politik, die SPD mitmischt. Stimmt das?
Erler: Wir haben das jetzt nicht auf die ganze Nachkriegszeit bezogen, aber ich meine, diese spezifische Situation war schon in den 90er Jahren entstanden. Es ist ja einfach wichtig, dass man das mal dort einordnet, dass das nicht irgendeine Gemeinheit ist, diese Agenda 2010, sondern dass das wirklich eine Notwendigkeit war, erzwungen auch von den Prozessen der Globalisierung, die uns natürlich auch deutlich gemacht haben, dass eine Art Nische für etwas besonders Hübsches, Nettes in der Sozialpolitik in Deutschland nicht mehr besteht, dass man sich den Herausforderungen einfach stellen muss, dass man darüber nachdenken muss, wie denn eigentlich Reformpolitik, wie soziale Sicherheit organisiert werden kann unter den Bedingungen der härteren Konkurrenz, die ja weltweit stattfindet in der Globalisierung, und dass das eben automatisch nicht nur durch Wachstumsprozesse mehr gelöst werden kann.
Kolkmann: Sie wollen ja offenbar ein bisschen weg vom alltagspolitischen Kleinklein hin zu ganz grundsätzlichen Dingen, zum großen Wurf, also moderne Politik, nachhaltig, innovativ, sozialökologisch soll sie sein. Und Sie berufen sich da auch auf Willy Brandt. Ist das ein Geist, den Sie rufen, der doch sehr aus der Vergangenheit kommt - und auf den sich gerne auch andere berufen, zum Beispiel Oskar Lafontaine?
Erler: Nicht alles ist ja aus der Vergangenheit unbrauchbar für die Gegenwart. Und ich meine, das wichtige Erbe von Willy Brandt ist nun gerade die Verbindung von nationalen Interessen und dem Internationalismus. Er hat an diese lange Tradition der SPD angeknüpft, und das ist auch heute noch wichtig. Denn wir sehen natürlich, dass wir auch heute Herausforderungen globaler Art ausgesetzt sind, zum Beispiel denen, die aus der Klimapolitik kommen, die aus der internationalen Umweltpolitik kommen, weshalb es gar nicht anders geht, als dass man auch eine ökologische Modernisierung in unserem Land, in Europa macht. Wenn man ein Sozialstaatsmodell macht, und das ist auch wieder etwas, was im Sinne des Erbes von Willy Brandt steht, dann ist das eben auf nationaler Ebene nicht mehr möglich. Aber 27 Länder mit 500 Millionen Menschen, also die EU, wenn man sich dort verständigt auf eine soziale Rahmenbedingung, dann könnte die Bestand haben auch unter den brutalen Bedingungen der Globalisierung.
Kolkmann: Sind Sie und auch Kurt Beck, der ja keine Aufstockung von Hartz IV weiter möchte, auch keine Ausweitung des Schonvermögens, der Meinung, dass mit dem Neun-Punkte-Programm, dass ja nun auf dem Parteitag verabschiedet werden soll, dann genug passiert ist, um der SPD so ein Gefühl von sozialer Wärme zu geben?
Erler: Also genug passiert nie durch irgendeinen einzelnen Akt, weil das ein Prozess ist. Das ist gerade der Sinn dieses Textes, dessen Wirkung, wie Sie anfangs beschrieben haben, ja vor allen Dingen dadurch kommt, dass er von verschiedenen Strömungen innerhalb der SPD getragen wird. Das heißt, alles, was wir machen, ist immer ein Durchgangsstadium, aber es ist eben doch eine gemeinsame Position, dass es nicht um ein Zurück geht, nicht zurück zu einem Status quo ante, der angenehm war, der keine großen Forderungen stellte, der also irgendwie dieses Rad dieser Reformpolitik zurückdreht, sondern genau das Gegenteil ist die Botschaft, dass man das einordnen muss in einen historischen Prozess, und dass man eigentlich die SPD, und das ist eine gemeinsame Motivation, dann an die Spitze von dem, was notwenig ist in der künftigen Reformpolitik, stellen muss eben als das, was wir als die linke Gestaltungspartei nennen.
Kolkmann: Sie nennen ja die Agenda in Ihrem Manifest einen schmerzlichen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer sozialökologischen Marktwirtschaft.
Erler: Genau.
Kolkmann: Zentraler Satz. Wann winkt uns denn dann das Paradies?
Erler: Das Paradies, was ja sehr häufig mit Erinnerungen verbunden ist, das entsteht jedenfalls nicht dadurch, dass man sich selber belügt, indem man eben so tut, als ob das so möglich ist wiederherzustellen. Sondern vernünftige Politik, Wege zum Paradies, die entstehen eben bloß auch durch schmerzliche Prozesse, auch durch Erkenntnisse, dass bestimmte Dinge nicht mehr gehen und dass man sich an den neuen Herausforderungen anpassen muss, zum Beispiel auch, dass man mehr Geld ausgibt für zukunftsweisende Investitionen, also für Innovation, für Forschung und Entwicklung. Wir verlangen, dass das mindestens vier Prozent des Bruttosozialprodukts erreichen muss. Da sind wir noch ein ganzes Stück weit von entfernt.
Kolkmann: Aber die Große Koalition ist ja schon ein Stückchen auf diesem Weg vorangeschritten. Liegt da möglicherweise das Paradies, in dem Gemeinsamen?
Erler: Also wissen Sie, mit so einem Begriff, Große Koalition, würde ich nie das Paradies verbinden, sondern eher sagen, das kann eine Brücke sein, und eine Brücke ist am anderen Ufer immer auch zu Ende.
Kolkmann: Gernot Erler war das, Staatsminister im Auswärtigen Amt, lange auch im Sprecherkreis der Parlamentarischen Linken und einer der Autoren des Manifestes, das gestern erschienen ist, vor dem Parteitag der SPD heute in Hamburg.
Ich begrüße zum Interview einen von Ihnen, Gernot Erler, den Staatsminister im Auswärtigen Amt, lange im Sprecherkreis der parlamentarischen Linken, jetzt hier am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Schönen guten Morgen, Herr Erler!
Gernot Erler: Guten Morgen, Frau Kolkmann!
Kolkmann: Herr Erler, beschwören Sie da einen Geist der Sozialdemokratie, der schon fast der großen Verzagtheit gewichen war?
Erler: Auf jeden Fall versuchen wir mal, diese aktuelle Auseinandersetzung über Bezugsdauer von Arbeitslosengeld einzugliedern in eine Betrachtung der Reformpolitik, so ein bisschen aus der Vogelperspektive einzubauen in einen geschichtlichen Ablauf. Und da kommen wir eben noch mal drauf zu sprechen, dass der Ausgangspunkt im Grunde genommen dieses Reformversagen der 90er Jahre ist, natürlich bezogen auf die näher liegenden Aufgaben der deutschen Einheit, die im Grunde genommen abgelenkt haben von einem europäischen Reformprozess, der damals parallel zur Entwicklung in Deutschland stattfand, und auch getragen von der damaligen konservativen Verantwortung der CDU/CSU, die eben nicht besonders reformfreudig war, um zu zeigen, was eigentlich der Stellenwert dieses ganzen Agenda-Prozesses ist.
Kolkmann: Sie haben also in die Geschichte geblickt in Ihrem Manifest. Kohl machte demnach im Prinzip alles falsch, bis Gerhard Schröder, der große Modernisierer, kam.
Erler: Das ist etwas vereinfacht, aber das ist ja keine ganz ungängige Betrachtungsweise, dass dort ein Stau von Reformnotwendigkeit entstanden war und dass der im Grunde genommen erst durch das mutige Anpacken von Gerhard Schröder beendet wurde.
Kolkmann: Nun könnte man aber den Eindruck gewinnen, dass immer dann, wenn es innovativ zuging oder zugeht in der deutschen Politik, die SPD mitmischt. Stimmt das?
Erler: Wir haben das jetzt nicht auf die ganze Nachkriegszeit bezogen, aber ich meine, diese spezifische Situation war schon in den 90er Jahren entstanden. Es ist ja einfach wichtig, dass man das mal dort einordnet, dass das nicht irgendeine Gemeinheit ist, diese Agenda 2010, sondern dass das wirklich eine Notwendigkeit war, erzwungen auch von den Prozessen der Globalisierung, die uns natürlich auch deutlich gemacht haben, dass eine Art Nische für etwas besonders Hübsches, Nettes in der Sozialpolitik in Deutschland nicht mehr besteht, dass man sich den Herausforderungen einfach stellen muss, dass man darüber nachdenken muss, wie denn eigentlich Reformpolitik, wie soziale Sicherheit organisiert werden kann unter den Bedingungen der härteren Konkurrenz, die ja weltweit stattfindet in der Globalisierung, und dass das eben automatisch nicht nur durch Wachstumsprozesse mehr gelöst werden kann.
Kolkmann: Sie wollen ja offenbar ein bisschen weg vom alltagspolitischen Kleinklein hin zu ganz grundsätzlichen Dingen, zum großen Wurf, also moderne Politik, nachhaltig, innovativ, sozialökologisch soll sie sein. Und Sie berufen sich da auch auf Willy Brandt. Ist das ein Geist, den Sie rufen, der doch sehr aus der Vergangenheit kommt - und auf den sich gerne auch andere berufen, zum Beispiel Oskar Lafontaine?
Erler: Nicht alles ist ja aus der Vergangenheit unbrauchbar für die Gegenwart. Und ich meine, das wichtige Erbe von Willy Brandt ist nun gerade die Verbindung von nationalen Interessen und dem Internationalismus. Er hat an diese lange Tradition der SPD angeknüpft, und das ist auch heute noch wichtig. Denn wir sehen natürlich, dass wir auch heute Herausforderungen globaler Art ausgesetzt sind, zum Beispiel denen, die aus der Klimapolitik kommen, die aus der internationalen Umweltpolitik kommen, weshalb es gar nicht anders geht, als dass man auch eine ökologische Modernisierung in unserem Land, in Europa macht. Wenn man ein Sozialstaatsmodell macht, und das ist auch wieder etwas, was im Sinne des Erbes von Willy Brandt steht, dann ist das eben auf nationaler Ebene nicht mehr möglich. Aber 27 Länder mit 500 Millionen Menschen, also die EU, wenn man sich dort verständigt auf eine soziale Rahmenbedingung, dann könnte die Bestand haben auch unter den brutalen Bedingungen der Globalisierung.
Kolkmann: Sind Sie und auch Kurt Beck, der ja keine Aufstockung von Hartz IV weiter möchte, auch keine Ausweitung des Schonvermögens, der Meinung, dass mit dem Neun-Punkte-Programm, dass ja nun auf dem Parteitag verabschiedet werden soll, dann genug passiert ist, um der SPD so ein Gefühl von sozialer Wärme zu geben?
Erler: Also genug passiert nie durch irgendeinen einzelnen Akt, weil das ein Prozess ist. Das ist gerade der Sinn dieses Textes, dessen Wirkung, wie Sie anfangs beschrieben haben, ja vor allen Dingen dadurch kommt, dass er von verschiedenen Strömungen innerhalb der SPD getragen wird. Das heißt, alles, was wir machen, ist immer ein Durchgangsstadium, aber es ist eben doch eine gemeinsame Position, dass es nicht um ein Zurück geht, nicht zurück zu einem Status quo ante, der angenehm war, der keine großen Forderungen stellte, der also irgendwie dieses Rad dieser Reformpolitik zurückdreht, sondern genau das Gegenteil ist die Botschaft, dass man das einordnen muss in einen historischen Prozess, und dass man eigentlich die SPD, und das ist eine gemeinsame Motivation, dann an die Spitze von dem, was notwenig ist in der künftigen Reformpolitik, stellen muss eben als das, was wir als die linke Gestaltungspartei nennen.
Kolkmann: Sie nennen ja die Agenda in Ihrem Manifest einen schmerzlichen Zwischenschritt auf dem Weg zu einer sozialökologischen Marktwirtschaft.
Erler: Genau.
Kolkmann: Zentraler Satz. Wann winkt uns denn dann das Paradies?
Erler: Das Paradies, was ja sehr häufig mit Erinnerungen verbunden ist, das entsteht jedenfalls nicht dadurch, dass man sich selber belügt, indem man eben so tut, als ob das so möglich ist wiederherzustellen. Sondern vernünftige Politik, Wege zum Paradies, die entstehen eben bloß auch durch schmerzliche Prozesse, auch durch Erkenntnisse, dass bestimmte Dinge nicht mehr gehen und dass man sich an den neuen Herausforderungen anpassen muss, zum Beispiel auch, dass man mehr Geld ausgibt für zukunftsweisende Investitionen, also für Innovation, für Forschung und Entwicklung. Wir verlangen, dass das mindestens vier Prozent des Bruttosozialprodukts erreichen muss. Da sind wir noch ein ganzes Stück weit von entfernt.
Kolkmann: Aber die Große Koalition ist ja schon ein Stückchen auf diesem Weg vorangeschritten. Liegt da möglicherweise das Paradies, in dem Gemeinsamen?
Erler: Also wissen Sie, mit so einem Begriff, Große Koalition, würde ich nie das Paradies verbinden, sondern eher sagen, das kann eine Brücke sein, und eine Brücke ist am anderen Ufer immer auch zu Ende.
Kolkmann: Gernot Erler war das, Staatsminister im Auswärtigen Amt, lange auch im Sprecherkreis der Parlamentarischen Linken und einer der Autoren des Manifestes, das gestern erschienen ist, vor dem Parteitag der SPD heute in Hamburg.