Erlebnissplitter

Jüdischsein als ein Detail unter vielen

Detail einer Skulptur auf dem Dach des Casa Mila am 29.01.2013 in Barcelona in Spanien. Die fantastisch-skurile Dachlandschaft entwarf Antonio Gaudi 1906 bis 1910 auf einem Eckhaus.
Als Mosaik inszeniert die Autorin Alba Arikha die Teenagerzeit ihrer Protagonistin im Roman. © picture alliance / ZB / Jens Kalaene
Von Pieke Biermann  · 05.06.2014
Ein Recht auf ein normales Leben - trotz Holocaust-Erfahrungen der Familie - fordert die 17-Jährige Ich-Erzählerin ein. Alba Arikha, Tochter berühmter Eltern und Patenkind von Samuel Beckett, schildert hier ihre hochemotionale Teenagerzeit in Paris.
"Süße Siebzehn"? Für Mädchen der reine Hohn. Auch bittersüß klingt viel zu mild für die Zeit des Zerrissenseins zwischen Kind und Frau, Dazugehören- und Etwas-Besonderes-Sein-Wollen. Und das wird auch noch ständig von außen aufgeladen, von Gleichaltrigen, Erwachsenen, der Gesellschaft. Ein tröstlicher Zusammenhang ist nicht zu erkennen. Nicht in dem Alter. Da zerfällt das Leben in Erlebnis- und Gefühlssplitter, ist die Welt eine einzige Attacke und schreit geradezu nach kratzbürstiger Aufsässigkeit. Und Fluchten.
In dem Alter ist Alba Arikhas Ich-Erzählerin. Und diese Phase als Mosaik zu inszenieren, ist der erste kluge Kunstgriff der Musikerin und Schriftstellerin. Ohne Hierarchie nebeneinander stehen der verbotene Eyeliner, den andere Mädchen benutzen dürfen, Minirock und Netzstrümpfe, die heimlich angezogen werden, wo die Eltern es nicht sehen, das vergebliche Verknalltsein in Jungs, die so schön sind, "dass es weh tut", und das Klavier im eigenen Zimmer, auf dem Ashkenazy gespielt haben soll und Patenonkel Samuel Beckett manchmal spielt. Die vom Vater verhöhnte Punkmusik, das Korsett wegen der Skoliose, die Pickel, die dicken Locken, die blasse Haut sind ebenso bedeutend wie "Moral und Werte" der Eltern, die Konkurrenz mit der jüngeren Schwester Noga und die Tränen der Großmutter Pepi, die alle beide immer "schöne Mädchen" nennt...
Die Wunden des Vaters
Der Roman kommt daher wie ein typisches Teenager-Tagebuch: Erlebnissplitter, die simultan aufeinander- und auf das unsichere Ich einprasseln. So hochemotional wie unsentimental notiert. Nur dass hier manche Kanten noch schärfer schneiden und gegen manche Splitter auch die Berühmtheit des Maler-Vaters und der Dichterin-Mutter und all die "big names" um sie herum nicht schützen. Und schon gar nicht schleifen sie sich mit der Zeit rund. Da ist die Mitschülerin, die nicht ihre Freundin sein will, denn "die Juden haben Christus umgebracht." Da sind die Wunden des Vaters, die Czernowitz und Überleben und Fast-Sterben für Israel heißen, die gestohlene Jugend, die seine egomane Wut erklärt, aber: "Ich bin nicht im Konzentrationslager!, brülle ich. Ich habe ein Recht auf ein normales Leben."
Der Kampf mit dem Vater hat ödipale Wucht, aber wie beiläufig umstellt die Tochter ihn mit Frauen: seiner Mutter Pepi, ihrer eigenen Mutter Anne Atik, ihrer Schwester und vielen, vielen Freundinnen und Verwandten. Für Avigdor Arikha ist Jüdischsein "eine Kultur und Identität", und irgendwann kann Alba dagegenhalten: "Für mich nicht. Jüdin zu sein ist für mich nur ein Detail. Wie grüne Augen. Oder Locken. Vielleicht ein zu mir gehörender Teil, aber er definiert mich nicht."
Die Shoah als "Erbmasse" ohne tröstendes Verfallsdatum in das schwierige "normale Leben" als Teenager einzubetten, ist der zweite Kunstgriff. Keine Spur von einem "Wörterbuch", aber viel musikalisches Gespür. Damit meistert Alba Arikha – wie auch ihre Übersetzerin – diesen ständigen Balanceakt: "Ich schwimme in Dur und Moll. Ich bade in Unmengen weißer Tasten und erschrecke eine schüchterne Achtelnote." Major/Minor – Dur/Moll – heißt auch der Originaltitel. So unpathetisch knapp, wie das ganze schmale Buch ist.

Alba Arikha: Wörterbuch einer verlorenen Welt
Berlin Verlag, Berlin 2014
256 Seiten, 19,99 EUR

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