Erinnerungskultur

Von Wolfgang Thierse |
Am 13. August jährt sich zum 45. Mal der Tag des Mauerbaus. Seit diesem Tag im Jahre 1961 war Berlin auf brutalste Weise geteilt. Ost und West waren durch 100 Kilometer Mauer getrennt. Die Gesamtlänge der innerdeutschen Grenze belief sich auf 1400 Kilometer.
Das Grenzregime wurde im Laufe der Jahre "perfektioniert", das heißt brutalisiert: Wachtürme, Selbstschussanlagen, Hundelaufanlagen, Schießbefehl. Fast 1.000 Menschen ließen an dieser Grenze ihr Leben, davon mindestens 125 an der Berliner Mauer – Opfer des kommunistischen Herrschaftssystems, das sich nur an der Macht halten konnte, indem es ein ganzes Volk einsperrte.

45. Jahrestag – das ist kein rundes Datum, also kein besonderer Anlass zur Erinnerung, zum Gedenken? Das Ereignis entfernt sich in die Geschichte, aber entschwindet es auch? Zumal wir 1989 die Mauer auf so glückliche Weise überwunden, die Teilung hinter uns gelassen haben und heute ganz mit den gesamtdeutschen Problemen der Gegenwart befasst sind.

Trotzdem bleibt die Erinnerung, zunächst und vor allem an einen tiefen biografischen Einschnitt, den der Mauerbau für die Ostdeutschen und die Berliner vor allem dargestellt hat: Sie waren - auf unterschiedliche Weise – eingesperrt, Familien zerrissen, Lebenswege gestört. Wer wird, wer kann das je vergessen! Die es erlebt haben gewiss nicht.

Über die vielen bitteren Menschenschicksale hinaus war die Mauer – nein, nicht Symbol der Spaltung wie die floskelhafte Formel lautet – sondern brutale Realität der ideologisch-politischen Teilung der Welt, sichtbarster Ausdruck der weltpolitischen Konfrontation, die man "Kalter Krieg" genannt hat, steinernes Dokument auch des Scheiterns der kommunistischen Ideologie, Inbegriff eines Systems der Unfreiheit.

Die Erinnerung daran gilt es festzuhalten und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben ebenso wie die Erinnerung an die Naziherrschaft und ihre Verbrechen, damit wir Deutschen uns der Gefährdung und also der Kostbarkeit der Freiheit für immer bewusst bleiben. Das ist eine gemeinsame kulturelle und politische Aufgabe über Parteigrenzen hinweg, das muss es bleiben ungeachtet allen Interpretationsstreits im Einzelnen. Nichts wäre unangemessener als geschichtspolitischer Kleinkrieg, der leider in den letzten Monaten zugenommenen hat. (Ich erinnere an die fatalen Reaktionen auf die Vorschläge der Sabrow-Kommission zur "Aufarbeitung der SED-Diktatur".) Nichts wäre falscher als der Versuch parteipolitischer Instrumentalisierung des Erinnerns, auch solche Versuche nehmen zu. Und nichts ist unangenehmer als die lauter werdenden Rechtfertigungen und Beschönigungen des Mauerregimes, wie wir sie von ehemaligen SED- und Stasi-Funktionären vernehmen.

Vor allem aber bleibt es gemeinsame Aufgabe, Erinnerung zu ermöglichen – durch Pflege authentischer Orte des Mauer-Geschehens, durch Dokumentation der Realität und Wirkung der Teilung. Sonst glauben uns die Jüngeren, die Nachwachsenden nicht mehr, dass und auf welch' furchtbare und absurde Weise die Stadt Berlin und Deutschland geteilt waren. Allzu viele Zeugnisse sind bereits verschwunden. Es ist deshalb gut und notwendig, dass zunächst vielfach auf Privatinitiative hin Gedenkorte der Mauer entstanden sind und dass der Berliner Senat nun ein "Gesamtkonzept zur Erinnerung an die Berliner Mauer" vorgelegt hat. Brandenburger Tor, Bernauer Straße, Checkpoint Charlie, Niederkirchnerstraße, Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße, Wachtürme am Kieler Eck und am Schlesischen Busch, Grenzübergang Dreilinden-Drewitz – um nur Berliner Beispiele zu nennen – sind authentische Orte, an denen Erinnern sinnlich-emotional werden und mehr sein kann als abstraktes, blasser werdendes Wissen. Deshalb ist deren Pflege, deren wissenschaftlich fundierter und pädagogisch intelligenter Ausbau so wichtig und eben eine gemeinsame Aufgabe von Berlin und Bund.

Wolfgang Thierse, geb. am 22. Oktober 1943 in Breslau, katholisch, verheiratet, zwei Kinder. Nach dem Abitur Lehre und Arbeit als Schriftsetzer in Weimar. Seit 1964 in Berlin Studium an der Humboldt-Universität anschließend wissenschaftlicher Assistent im Bereich Kulturtheorie/Ästhetik der Berliner Universität bis 1975, 1975 bis 1976 Mitarbeiter im Ministerium für Kultur der DDR. 1977 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, im Zentralinstitut für Literaturgeschichte.
Bis Ende 1989 parteilos. Anfang Oktober 1989 Unterschrift beim Neuen Forum. Anfang Januar 1990 Eintritt in die SPD; Juni bis September 1990 Vorsitzender der SPD/DDR; Mitglied der Volkskammer vom 18. März bis 2. Oktober 1990, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zuletzt Fraktionsvorsitzender der SPD/DDR.
Mitglied des Deutschen Bundestages seit 3. Oktober 1990. Im Oktober 1998 wurde Thierse zum Bundestagspräsidenten gewählt. Seit dem 18. Oktober 2005 ist er Vizepräsident des Bundestages.