Erinnerungen eines Schriftstellers

Rezensiert von Jörg Magenau · 23.09.2005
Martin Walser veröffentlicht seine Tagebücher aus den Jahren 1951 bis 1962 komplett und ohne fiktiven Schutz wie der Figur des Meßmer in vorangegangenen Büchern. Und doch darf man nicht sicher sein, dass es sich bei jedem Ich, das zu sprechen beginnt, tatsächlich um Walsers Stimme handelt.
Mit "Meßmers Gedanken" und "Meßmers Reisen" hat Martin Walser 1985 und 2003 zwei Skizzenbücher vorgelegt, die aus aphoristischen Sentenzen, Beobachtungen und kleinen Szenen bestanden. Beide waren Destillate aus seinen Notizbüchern, die er seit 1951 führt und die eine Keimzelle seines literarischen Lebenswerkes sind. Den Einblick in diesen Nahbereich des Schreibens konnte und wollte er nur mit der fiktionalen Ummäntelung durch die Figur Meßmer erlauben - einem schreibenden Alter Ego. Jetzt veröffentlicht er seine Tagebücher aus den Jahren 1951 bis 1962 komplett und ohne diesen fiktionalen Schutz - geschützt allein durch den zeitlichen Abstand. Und doch darf man nicht sicher sein, dass es sich bei jedem Ich, das da zu sprechen beginnt, tatsächlich um Walsers Stimme handelt. In diesen Tagebüchern finden vor allem seine literarischen Figuren zur Sprache - und er selbst als ihr Autor.

Goethe schrieb seine Lebensgeschichte unter dem Titel "Dichtung und Wahrheit" und gab damit zu verstehen, dass sie weder das eine, noch das andere sei. Martin Walser nennt seine Tagebücher etwas neutraler "Leben und Schreiben". Bei beiden Titeln handelt es sich eher um Begriffspaare als um Gegensätze. "Dichtung" und "Wahrheit" sind ebenso wenig voneinander zu trennen wie "Leben" und "Schreiben". Es wäre sinnlos, in Walsers Tagebüchern nach einem Rohstoff "Leben" zu suchen, gewissermaßen als biographischen Klartext zu seinen Romanen. Das Schreiben ist nicht hintergehbar, weil ein Schriftstellerleben vor allem aus Schreiben besteht. Ja mehr noch: Schreibend schafft er, was sein "Leben" sein soll. Was bliebe davon, wenn man das Schreiben wieder abzöge?

Dabei ist Walser ein Autor, der in seinen Romanen ganz unmittelbar auf seine eigene Erfahrungswelt zurückgreift und dazu herauszufordern scheint, das darin Verborgene aufzuspüren und bloß zu legen. Sein Schreiben bezeichnet er als "Entblößungs-Verbergungs-Spiel". "Ich kann nur verbergen", sagt er. "Es muss raus, aber als Verborgenes. Verbergen heißt ja nicht verschweigen." In seinen Tagebüchern lässt sich beobachten, wie dieses Spiel schon lange vor der Veröffentlichung einsetzt: wie Erlebtes als literarischer Stoff lebendig wird. In den 50er Jahren, während eines längeren Krankenhausaufenthaltes oder während einer Reise als Stipendiat zu Henry Kissingers International Summer School in Harvard liest sich das noch wie eine Materialsammlung.

Walser zeigt, dass er ein präziser Beobachter und Menschenforscher ist. In der Beschreibung einer Silvesterparty in Berlin beim Schriftsteller Wolf Dietrich Schnurre klingen bereits die Gesellschaftsschilderungen aus den Romanen "Ehen in Philippsburg" oder "Halbzeit" an. Im Lauf der Jahre werden die Aufzeichnungen immer ausschließlicher zu einem literarischen Laboratorium, wo Pläne skizziert und vorangetrieben werden. Da kann man ihm beim Entstehen der Romane und von Theaterstücken wie "Eiche und Angora" zuschauen. Andere Werke, die bis heute ungeschrieben blieben, werden so deutlich, dass man sich wünscht, sie eines Tages noch lesen zu können. Und in der Tat sind die Tagebücher für Walser selbst eine Art Rohstoff- und Materialsammlung, aus der er fortwährend schöpft.

Vom äußeren Dasein bleibt dagegen nicht viel mehr übrig als ein Gerüst aus Daten, Städtenamen und Terminen, die auf eine rastlose Reisetätigkeit und Erwerbszwänge schließen lassen. Wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse finden keinen Niederschlag. Zum Mauerbau im August 1961 etwa gibt es keine Hinweise, obwohl Walser Ende August nach Berlin reiste, um dort mit Willy Brandt zusammenzutreffen, den er im Wahlkampf unterstützte. Aber auch dazu kein Wort in den Tagebüchern, nur der nackte Hinweis: "30.8. bis 5.9. Travemünde, Berlin".

Immer wieder kommt Walser auf das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit zu sprechen. Die Lüge hat es ihm angetan. "Ich bin zu sehr den Bewegungen und Gesten, dem dicht unter der Haut liegenden Feld, auf dem sich Lüge in Wahrheit und Wahrheit in Lüge verwandelt, ausgeliefert", notiert er im August 1958. Im Grimmschen Wörterbuch entdeckt er wenig später, dass als eigentliche Bedeutung für das althochdeutsche liogan, lügen, "verhüllen, verbergen" angenommen wird. Walser weiß, dass aus dieser Unschärfe Literatur entsteht. "Die Lüge ist der Schatten der Wahrheit", schreibt er. Also verbirgt er sich auch in seinen Tagebüchern mehr, als sich darin zu entblößen. Aber gerade dadurch gibt sich der Schriftsteller Martin Walser zu erkennen.


Martin Walser: Leben und Schreiben. Tagebücher 1951-1962. Rowohlt, Reinbek. 667 S., 22,90 Euro.