Erinnerungen eines politischen Querdenkers

17.11.2011
Der ungarisch-jüdische Schriftsteller György Konrád hat den Nationalsozialismus überlebt und wurde nach dem Krieg als Dissident in seinem Heimatland bekannt. Nun hat er ein Buch über das Alter und den Abschied vorgelegt.
Ein alter Mann sitzt allein im Garten. Er weiß sich beobachtet. Doch er hat sich "schön langsam" aus dem Verkehr gezogen. Sie werden ihn abholen, das weiß er, und er wird sich am Treppengeländer festklammern. Solange, sagt er sich, wartet er auf den Sinn seines Lebens und tastet seinen Nachlass ab, dabei zwischen Wirklichkeit und Fiktion hin und hergleitend. Er sieht sich als Kettenglied, als Postbote oder auch als Pendel, das diesem Buch den Titel gab: ein "Hin und Her, das Sich-Zulachen".

György Konrád, vor 1989 der wohl bekannteste Dissident Ungarns, nach 1989 Präsident des Welt-P.E.N. und der Berliner Akademie der Künste und auf ungeheuer vielen Podien über alles und jedes sprechend, hat ein Buch des Alters und des Abschieds vorgelegt.

Anfangs ruft "Das Pendel" mit vielen, oft etwas wirr aufeinanderfolgenden Bildern Motive des Altersrückblicks auf: der heitere Abstand zum Getriebe, der Zweifel am Ich, welches nur eine "Form der Konjugation" sei, das Grauen vor den abgelegten Erinnerungsgegenständen wie Fotos, Ausweisen, Adressenlisten, die Freude an den kleinen Dingen des Alltags und an der Freiheit von allen Verpflichtungen.

Konturen gewinnt das Buch erst allmählich, wenn sich Konrád an die wichtigsten Ereignisse in seinem Leben erinnert: an die Judendeportationen 1944, die der Elfjährige als einziges Kind seines Dorfes überlebte, an die ungarische Revolution 1956 und die für ihn turbulenten Jahre nach 1989. Das auch mit körperlicher Gewalt erzwungene Abseits des Publikations- und Berufsverbots in den 1970er- und 1980er-Jahren, in denen der Jugendschutzinspektor, Stadtsoziologe und Schriftsteller zum Spaziergänger und Weltreisenden wurde, kommt dagegen nur am Rande vor.

Von diesen Lebensstationen hat Konrád allerdings schon in seinen autobiografischen Romanen "Glück", "Sonnenfinsternis auf dem Berg" und "Das Buch Kalligaro" ausführlich, dazu präziser und überzeugender erzählt. Die Erinnerungen in "Das Pendel" wirken dagegen oft verwaschen, sind eingebettet in Anflüge von Larmoyanz und Selbstzufriedenheit.

Die wenigen Seiten zu Konráds Aufenthalten in Berlin vor und nach 1989 etwa könnten größtenteils einer - mäßigen - städtischen Imagebroschüre entnommen sein, und nicht allzu seltene, aufgeblasene Sätze wie "Ein anständiger Osteuropäer hat einige beobachtungswürdige Zusammenbrüche erlebt" hätten vom Übersetzer Hans-Henning Paetzke und dem Lektorat korrigiert werden sollen. Schließlich entschied nicht Anstand über die Teilhabe an historischen Erlebnissen.

Berührend am "Pendel" sind die Passagen über Ehefrau und Familie. Hier gehen dem dreimal Verheirateten die Zeiten fröhlich durcheinander: Mal spielt er mit dem Sohn und der Tochter, mal mit den Enkelkindern. Es ist ein Impressionismus der kleinen Freuden, zu denen auch das Gläschen in der Kneipe, der Blick in den Himmel und der Gang durch die Stadt gehört. Hier glaubt man György Konrád, dass er, dem Auschwitz vorbestimmt schien, der den Sozialismus und die anstrengende Tätigkeit eines klassischen Intellektuellen überstand, ein glücklicher Mann geworden ist.

Besprochen von Jörg Plath

György Konrád: Das Pendel
Essaytagebuch, aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
244 Seiten, 21,90 Euro