Erinnerungen eines Luftgeistes

06.03.2008
Das letzte Buch des französischen Schriftstellers und Diplomaten Jean Giraudoux ist eine Spurensuche in eigener Sache. In der ungewöhnlichen Form von Aphorismen und Anekdoten, Landschaftseindrücken und Stimmungen erinnert er sich vor allem an seine Kindheit und die Zeit seiner Berühmtheit von den 20ern bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Nach dem Krieg war er auch bei uns ein vielgelesener, vielgespielter Autor: Jean Giraudoux (1882-1944). Man schätzte die spielerische Leichtigkeit, die Anmut, den Wellmade-play-Charakter seiner Stücke wie "Die Irre von Chaillot" oder "Der trojanische Krieg findet nicht statt". Sein Roman "Siegfried und das Limousin" spiegelte die Germanophilie dieses doch in vielem so typischen Franzosen wider. Heute ist er so gründlich vergessen wie seine einst ebenfalls für ihre Eleganz geschätzten Kollegen Marcel Aymé oder Jean Anouilh und wird allenfalls von Historikern noch herangezogen, die sich für die deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit interessieren. Dabei kann der Dichter, der wie so viele französische Autoren, wie Chateaubriand und Claudel und Paul Morand, im Hauptberuf Diplomat war, nicht nur als ein interessanter go-between zwischen Literatur und Politik gelten, der während der "drole de guerre" 1939/1940 sogar als Propagandaminister fungierte. Er darf auch als vorzüglicher Stilist, als origineller Kopf und als ungemein phantasievoller Schriftsteller angesehen werden, der sich bei allen offiziellen, ja offiziösen Aufgaben, denen er sich unterzog, doch stets eine Vorliebe für skurrile Typen und schräge Vögel bewahrte.

Davon, von dieser Doppelbödigkeit, lebt auch dieser Text, der in Frankreich lange nach seinem Tode 1975 erschien und jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt. Es handelt sich um das letzte von Giraudoux vollendete Manuskript, das nicht von ungefähr geprägt ist von der Rückschau, von der Spurensuche in eigener Sache. Nur hat der Autor eben keine materialreich ausgepolsterte Lebensgeschichte geschrieben, sondern einen sprunghaften, heterogenen Text, der Anekdote und Aphorismus, also kurze und kürzeste Form, verbindet mit Erzählung, Denkbild, Essay und Porträt. Das ist eine höchst ungewöhnliche Art, sein Leben aufzuarbeiten. Und ungewöhnlich ist auch der zeitliche Ausschnitt, den Giraudoux einer genaueren Betrachtung unterzieht. Er konzentriert sich dabei nämlich vornehmlich auf zwei Epochen: die seiner frühen Kindheit in der Zeit um 1890 sowie seiner Phase der Berühmtheit als einer der Stützen der literarischen wie politischen Gesellschaft vom Anfang der zwanziger Jahre bis hinein in den Zweiten Weltkrieg.

Lesefrüchte und Landschaftseindrücke, Stimmungen heiterer wie düsterer Art spielen dabei eine wesentlich größere Rolle als die üblichen biografischen Fakten, als da wären Schule und Ausbildung, beruflicher Werdegang und literarische Erfolge, Freundschaften, Liebschaften und Familie. Giraudoux erscheint in diesen impressionistischen, wie mit einem feinen Crayon gezeichneten Schilderungen als ein Luftgeist, ein Ariel, der mehr im Imaginären lebt als in der kruden Wirklichkeit. Kleine Fluchten eines von der "schweren Zeit" Gebeutelten liegen hier vor, dazu angetan, einen Autor ins allgemeine Bewusstsein zurückzuholen, der dem post-ideologischen Zeitalter, in das wir unterdessen getreten sind, mehr liegen müsste als den Jahrzehnten, die jetzt hinter uns liegen.

Rezensiert von Tilman Krause

Jean Giraudoux: Doppelmemoiren
Übersetzt von Joachim Kalka
Berenberg-Verlag 2008,
112 Seiten, 19 Euro