Erinnerungen an Studentenbewegung und RAF

31.03.2013
In ihrem Roman "Das Verschwinden des Philip S." erzählt Ulrike Edschmid die wahre Geschichte über Philip Sauber, der 1975 getötet wurde, nachdem er selbst einen Polizisten erschossen hatte. Ein privates Trauerbuch und das verstörende Porträt einer ganzen Generation.
Eines der turbulentesten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte bildet den Hintergrund dieses Romans: die Berliner Studentenbewegung, Straßenschlachten mit der Polizei, der gewaltsame Tod von Benno Ohnesorg, das Attentat auf Rudi Dutschke. Ein Kapitel, das in Büchern und Filmen so ausführlich untersucht wurde, dass man alles zu wissen meint, über die damalige Aufbruchsstimmung, über Irrwege, Radikalisierung und Gewalt.

Ulrike Edschmid, die dabei war, erzählt eine Geschichte aus jener Zeit, wie man sie noch nie gelesen hat, obwohl sie auf bekannten Tatsachen beruht. Es ist ihre Liebesgeschichte mit Philip S., der eigentlich Werner Philip Sauber heißt und 1975 auf einem Kölner Parkplatz getötet wurde, nachdem er selbst einen Polizisten erschossen hatte. Um zu verstehen, wie es zu diesem tragischen Ende kam, ruft sie die Stationen der gemeinsamen Jahre auf. Indem sie den unaufhaltsamen Weg ihres Freundes in den bewaffneten Untergrund nachzeichnet, fängt sie zugleich bestechend scharf das Lebensgefühl ihrer Generation ein.

Als 20-Jähriger kommt der Sohn einer reichen Züricher Familie nach Berlin, um an der Filmakademie zu studieren. Ein sensibler, treuer, von hohen Ansprüchen an seine Kunst getragener Mensch, der sich liebevoll um ihr, aus einer vorigen Beziehung stammendes Kind kümmert. Während andere Filme darüber drehen, wie man Molotowcocktails herstellt, arbeitet er an einem existenzialistischen Film über einen "einsamen Wanderer".

Gemeinsam mit Ulrike Edschmid gründet er einen der ersten Kinderläden, sie wohnen in wechselnden Wohngemeinschaften, denken zunehmend politisch. Befördert durch die Turbulenzen an der Akademie – Philip S. fliegt nach einer Institutsbesetzung raus – und nach einer vierwöchigen Haft – die beiden werden vier Wochen lang angeblich grundlos festgehalten, gibt es für ihn kein Zurück mehr in das Leben davor.

Aus der Perspektive seiner Gefährtin vollzieht sich die Radikalisierung des Philip S. in kleinen Schritten. Ein zunächst unmerklicher Prozess, den die Autorin eindrucksvoll skizziert: wie er nach und nach beginnt, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Er verwischt Spuren, die an ihn erinnern könnten, Kleider, geliebte Möbelstücke, Fotos verschwinden, seine Kamera, selbst seine Sprache; er gewöhnt sich systematisch Hochdeutsch an. Bis sich ihre Wege trennen, bis er Waffen transportiert und versteckt, Banken überfällt.
Wie eine Archäologin fügt Ulrike Edschmid Erinnerungssplitter aneinander; sie beschönigt nicht, sie verklärt nicht, auch nicht ihre eigene Rolle. Wie sie ohne Pathos, ohne Gefühligkeit, mit knappen Strichen Charaktere zeichnet – einer, der sich später zu Tode hungern wird, eine Freundin, die sich das Leben nimmt – das ist psychologisch so genau, so berührend, dass es mehr von jenem Zeitgefühl einer fatalen Todessüchtigkeit einfängt als es je sonst beschrieben wurde. Das Verschwinden des Philip S. – ein privates Trauerbuch und das verstörende Porträt einer ganzen Generation.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Ulrike Edschmid: "Das Verschwinden des Philip S."
Suhrkamp, Berlin 2013
158 Seiten, 15,95 Euro