Erinnerungen an den Bürgerkrieg

Der Zerfall des Staates Jugoslawien und seine Folgen stehen im Mittelpunkt des Sammelbandes "Der andere nebenan". In den Texten der 21 Autoren aus Bosnien/Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien geht es um Trauer, Schuld, die Zerstörung von Familien und Lebenszusammenhängen.
Der Südosten Europas, der hier zur Debatte steht, ist die Szenerie des mörderischen, absurden Bürgerkriegs im letzten Jahrzehnt: Es ist die Region, in der sich der Staat Jugoslawien in einem Nationalitätenwahn wie aus dem 19. Jahrhundert in seine einzelnen Bestandteile auflöste. Richard Swartz war 30 Jahre lang Osteuropakorrespondent für die wichtigste schwedische Tageszeitung und hat nun 21 Schriftsteller gebeten, ihre Erfahrungen mit diesem Bürgerkrieg zu Papier zu bringen. Die Staaten heißen mittlerweile Bosnien/Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien. Swartz hat zusätzlich noch Schriftsteller aus Albanien und Bulgarien hinzugebeten, weil sie demselben Raum angehören, dem Raum des krisenerprobten und eruptiven Balkan. Das Buch erscheint gleichzeitig in all diesen Ländern – eine durchaus bemerkenswerte Tatsache. Denn für die einzelnen Nationalismen ist in diesen Texten wenig Verwertbares zu finden. Es geht um Trauer, um Schuld, um die Zerrissenheit der einzelnen Biografien, um die Zerstörung von Familien und Lebenszusammenhängen.

Die serbokroatische Sprache gibt es offiziell nicht mehr, übersetzt wird jetzt aus Sprachen, die nach den einzelnen Nationalitäten benannt sind und die doch in eine einzige unverkennbare zusammenfließen. Aber einige der Texte in diesem Band sind auch im Original gar nicht mehr in dieser Sprache geschrieben: der 1964 in Sarajewo geborene Aleksandar Hemon schreibt seit 1995 auf Englisch und lebt in Chicago, Charles Simic ist bereits 1953 als 15-Jähriger in die USA ausgewandert und als amerikanischer Lyriker berühmt geworden, er stellt in diesem Band deshalb eine Ausnahme dar. Sein Text ist einer der besten und kommt an dem Bürgerkrieg der neunziger Jahre ebenfalls nicht vorbei. Dimitré Dinev ist 1968 in Bulgarien geboren und schreibt jetzt auf Deutsch, genauso wie Sasa Stanisic, der 1978 in Bosnien geboren wurde. Laszlo Vegels Text schließlich wurde aus dem Ungarischen übersetzt: Er lebt als Angehöriger der ungarischen Minderheit in der serbischen Vojvodina.

Dieser Wechsel in Sprachen und Identitäten, die näheren Umstände, die dieses Völkergemisch auf dem Balkan mit sich bringt, ist denn auch immer wieder das zentrale Thema. Die Texte sind im Genre recht verschieden: es gibt klassische Erzählungen, häufiger aber Essayistisches und Tagebuchartiges, meist wird die persönliche Geschichte mitreflektiert. Es gibt schwächere Stücke, die das Leid bloß abbilden und Effekte ausstellen, daneben aber parabelförmige Texte und historisch ausgreifende Geschichten, die das Geschehen differenziert zeigen. Wenn die Ausweglosigkeit nicht als pures Schicksal erscheint, sondern in ihrer Genese analysiert wird, sind die Texte am stärksten: bei Drago Jancar etwa oder Miljenko Jergovic. Insgesamt ist die Anthologie von Richard Swartz auf jeden Fall eine wichtige zeitgenössische Bestandsaufnahme, ohne vorschnelle Schuldzuweisungen nur an eine Seite. Sie eröffnet vielleicht einen neuen literarischen Raum, in dem ein Ausweg erkennbar wird.

Rezensiert von Helmut Böttiger


Richard Swartz (Hg.): Der andere nebenan. Eine Anthologie aus dem Südosten Europas.
S. Fischer Verlag, 341 Seiten, 28 €