Erinnerung an Pogrome 1938

Schweigen über die "Massenfeigheit"

07:58 Minuten
Die Synagoge Okel Jaakov in in München nach der Pogromnacht am 9. November 1938.
Wie in München die Synagoge Okel Jaakov wurden in der Reichspogromnacht tausende jüdische Einrichtungen zerstört oder beschädigt. © Heinrich Hoffmann/picture-alliance / akg-images
Götz Aly im Gespräch mit Julius Stucke  · 09.11.2019
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Zum Mauerfall-Gedenken bestimmen persönliche Erinnerungen das Bild. Der Historiker Götz Aly erinnert daran, dass es nie Fragen danach gab, wie Deutsche die Pogrome 1938 miterlebten. Das sei ein nationales Tabu, denn beteiligt waren sehr viele.
Das Gedenken an den Mauerfall vor 30 Jahren überschattet heute die Erinnerung an die Pogrome gegen Juden am 9. November 1938. Wenn etwas 81 Jahre zurückliege, scheine es weniger wichtig als wenn es 30 Jahre her sei und einen immer noch beschäftige, zeigt sich der Historiker und Publizist Götz Aly verständnisvoll. Aber es gebe einen erstaunlichen Unterschied in der Art des Gedenkens.
Der Historiker und Politikwissenschaftler Götz Aly
Der Historiker und Politikwissenschaftler Götz Aly© Deutschlandradio / Leila Knüppel
"Heute werden Leute dauernd gefragt, wie erinnern Sie sich an den 9. November 1989", sagt Aly. "Aber weder in Österreich, noch in der DDR, noch in der Bundesrepublik ist jemals jemand zu den Zehn-Jahres-Gedenkstunden gefragt worden: Was hast Du am 9. November 1938 getan und wie erinnerst Du Dich daran?" Es habe niemals eine Sendung oder Befragung gegeben. "Das ist ein nationales Tabu", so Aly. In den meisten Fällen sei es heute zu spät, denn viele ältere Menschen seien damals Kinder gewesen, sofern sie sich noch erinnerten.

Viele Deutsche waren beteiligt

"Das andere ist, dass wir es uns heute zu leicht machen", sagt Aly. Überall in allen Rundfunk- und Fernsehsendungen oder in den Zeitungen, sei völlig standardisiert nur von "den Nationalsozialisten" die Rede, die das 1938 getan hätten. Dabei habe allein die NSDAP neun Millionen Mitglieder gehabt und Hitler hätte 1938 auf dem Höhepunkt seiner Macht gestanden. Er habe einen öffentlichen Zuspruch geerntet, wie keine andere deutsche Regierung im 20. Jahrhundert jemals wieder.
"Diesen Fragen weichen wir immer noch aus", kritisierte Aly und sprach von einer "Massenfeigheit" dieser Jahre, durch die viele weggeschaut hätten. Jede Familie, die seit vier Jahrzehnten in Deutschland lebe, habe schließlich einige Nationalsozialisten in ihren Reihen gehabt. "Das müssen wir uns klarmachen, die Massenhaftigkeit dieses Verbrechens."
(gem)

Götz Aly ist Zeithistoriker, Politikwissenschaftler und Publizist. Bekannt wurde er vor allem durch seine Forschung und Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus und über Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts. In seinem Buch "Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück" (S. Fischer Verlag, 2008) setzte sich der 1947 geborene Aly kritisch mit der eigenen Generation auseinander. Während seines Studiums in West-Berlin war Aly selbst in der Studentenbewegung aktiv.

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