Erhalt der Biodiversität

Ein Drittel der Erde soll unter Naturschutz gestellt werden

07:46 Minuten
Eine Elefantenherde läuft über ein Feld in China.
Auf der Suche nach einem neuen Zuhause: Die berühmt gewordene Elefantenherde im Juni in der Nähe der Stadt Kunming, wo die UN-Konferenz 2022 stattfinden soll. © imago images/Xinhua
Von Nicolas Morgenroth · 07.09.2021
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Um das weltweite Artensterben zu stoppen, plant die UN einen „Global Deal for Nature“. Menschenrechtler, die für indigene Bevölkerungen kämpfen, schauen mit Sorge auf das Vorhaben und sprechen von kolonialer Landnahme.
In China sind sie Stars. Eine Herde von 15 Elefanten hat aus Mangel an Lebensraum ihr Naturreservat an der Grenze zu Myanmar verlassen und zieht monatelang durch Südwestchina. Durch Dörfer und Felder halten die Elefanten über 500 Kilometer lang direkt auf die Millionenstadt Kunming zu.
"Wissenschaftler sagen, dass wir uns mitten im sechsten großen Artensterben in der Geschichte unseres Planeten befinden. Bei den ersten fünf waren Menschen nicht dabei. Das Sechste geht auf unsere Rechnung."


Es scheint fast wie ein Protestmarsch der Elefantenherde. Denn Kunming ist auch die Stadt, in der nächstes Jahr die Vertragsstaatenkonferenz der Biodiversitätskonvention stattfindet. Die Konvention ist ein internationales Abkommen zum Erhalt der biologischen Vielfalt, dem nur zwei Staaten nicht angehören – die USA und der Vatikan.
In Kunming wollen sich die 196 Vertragspartner auf einen Rahmen für den internationalen Naturschutz in den nächsten zehn Jahren einigen. Diese Jahre werden entscheidend dafür sein, ob das sechste große Artensterben aufgehalten werden kann, sagt Eric Dinerstein. Dinerstein ist Naturschutzbiologe, seitdem es die Fachrichtung überhaupt gibt. Er hat einen Plan.
"Der Global Deal for Nature entstand in einem Gespräch, das ich mit dem Geschäftsführer einer Naturschutzorganisation hatte, der gerade vom Pariser Klimagipfel zurückkam. Er kam ins Schwärmen. Und er sagte zu mir: Eric, warum gibt es so ein Abkommen nicht auch für die Biodiversität? Ein Abkommen für die Natur?"

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Der Rems-Murr-Kreis in Baden-Württemberg präsentiert sich als nachhaltiges Naherholungsgebiet mit zahlreichen Naturschätzen im schwäbisch-fränkischen Wald. Das Zertifikat ist ein Qualitätsversprechen und soll vor allem auch dem Naturschutz dienen.

Laubwald mit blühendem Bärlauch in Baden-Württemberg.
© imago / blickwinkel
Eric Dinerstein ist überzeugt. 2017 schlägt er zusammen mit anderen Biologinnen einen Global Deal for Nature vor. Die zentrale Idee: Möglichst bald die Hälfte der Erde unter Naturschutz stellen. One half for nature. Der Global Deal soll der Natur genug Raum geben, um das Artensterben aufzuhalten. Und möglichst viel Kohlenstoff aus der Atmosphäre ziehen. Der Vorschlag hat Wirkung. Das Sekretariat der Biodiversitätskonvention hat für die Verhandlungen in Kunming einen Entwurf veröffentlicht.
Dort steht: Bis 2030 sollen zumindest 30 Prozent der Erde effektiv geschützt sein. "Thirty by thirty" lautet der Slogan zu dem Ziel. Es scheint, als wollte die Menschheit der Natur wirklich wieder mehr Raum geben. Doch Fiore Longo sieht diese Vorschläge kritisch. Sie ist für die Menschenrechtsorganisation Survival International nach Indien gereist, um Tigerreservate zu besuchen. Oder besser: Die Menschen, die dort leben.
"Ich erinnere mich, dass ich nicht viel über die Problematik wusste. Mir war klar, dass Indigene überall auf der Welt alle Arten von Missbrauch erleiden. Aber ich hätte nie gedacht, dass Naturschutz ein Teil davon ist. Und in jedem Tigerreservat, das ich besuchte, war die Geschichte genau die gleiche. Wir haben hier seit Generationen gelebt und jetzt vertreiben sie uns für den Schutz der Tiger. Und dann wurde ich in den Kongo geschickt und es war genau das Gleiche. Nach und nach haben wir verstanden, dass diese Art von Missbrauch systematisch ist."

Was hat Naturschutz mit der Kolonialzeit zu tun?

Die Geschichte des Naturschutzes ist eng verbunden mit der Kolonialzeit und der Vertreibung lokaler Bevölkerungen. Der weltweit erste Nationalpark im Yosemite Tal in den USA war vor seiner Errichtung keine menschenleere Wildnis. Weiße Kolonialisten hatten die dort lebenden Miwok gewaltsam vertrieben. Und Recherchen der Nachrichtenseite Buzzfeed von 2019 zeigen, dass Park-Ranger in Nationalparks in Subsahara-Afrika zahlreiche Menschenrechtsverletzungen an indigenen Bevölkerungen begangen haben – finanziert von westlichen Geldgebern. Fiore Longo befürchtet, dass "thirty by thirty" zu noch mehr Gewalt führen würde.
"Wir haben Angst, wenn sie zum Beispiel die 30 Prozent umsetzen, dass sie das genauso machen wie bisher. Schutzgebiete schaffen, in denen Menschen nicht leben dürfen und vertrieben werden und die Gebiete militarisieren. Um dann zu sagen, dass das geschützte Natur sei. Schutzgebiete sollten nicht das Mittel sein, um die Natur zu schützen. Wenn wir die Natur schützen wollen, müssen wir die Rechte der indigenen Völker anerkennen. Sie sind bei Weitem die besten Naturschützer."

Das Hauptziel: ein Landrecht für lokale Gemeinschaften

Indigene Völker bewohnen über ein Viertel der Landfläche der Erde. Es sind diese Regionen, wo sich ein Großteil der noch verbliebenen Biodiversität befindet. Zahlreiche Studien belegen das, zuletzt 2018 unter der Leitung von Umweltwissenschaftler Stephen Garnett. Fiore Longo will den Naturschutz dekolonisieren. Für sie heißt das: Das Hauptziel der Biodiversitätskonvention muss die Sicherung der Landrechte indigener und lokaler Gemeinschaften sein. Der Biologe Eric Dinerstein will mit dem Global Deal for Nature sogar die Hälfte der Erde unter Naturschutz stellen. Dabei soll die lokale Bevölkerung eine zentrale Rolle einnehmen:
"Ein großer Teil des Gebiets ist Land, das entweder von indigenen Völkern bewohnt ist, von ihnen beansprucht wird oder auf das sie Anrecht haben. Daraus folgt das Wichtigste, was wir für den Naturschutz tun können: Indigene Gemeinschaften finanzieren und dazu befähigen, Verantwortung für das Land zu übernehmen."

"Nichts in diesem Entwurf ist verbindlich"

Die Menschenrechtlerin und der Naturschutzbiologe sind sich einig: Ohne die indigene und ländliche Bevölkerung abseits industrieller Lebensweisen geht es nicht. Doch der Teufel steckt im Detail der diplomatischen Vertragstexte. Im aktuellen Rahmenentwurf der Konvention heißt es, dass die Partizipation indigener Gemeinschaften und ihre Rechte über relevante Ressourcen gesichert sein sollen. Doch das reicht Fiore Longo nicht.
"Nichts in diesem Entwurf ist verbindlich. Sie sagen nicht: Wir erkennen die Deklaration der Rechte indigener Völker oder die ILO-Konvention 169 an. Sie nutzen diese abgeschwächte Sprache. Aber die Wortwahl ist wichtig. Worte ermöglichen es uns, uns etwas vorzustellen, und sie ermöglichen es uns, Maßnahmen zu ergreifen."
Fiore Longo kritisiert, dass der Begriff Partizipation juristisch zu weit ausgelegt werden kann. Stattdessen sollte das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, kurz ILO, in der Rahmenvereinbarung explizit anerkannt werden. Es ist bisher das einzige rechtsverbindliche Abkommen zum Schutz indigener Völker, wurde aber von nur wenigen Staaten ratifiziert.
Noch läuft der Vorbereitungsprozess für die neue Rahmenvereinbarung der Biodiversitätskonvention. Auch Vertreterinnen indigener Organisationen sind dort beteiligt. Doch in Kunming werden letztendlich die Staatsregierungen entscheiden, wie der Naturschutz in den nächsten zehn Jahren aussehen wird.
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