Erforscher interessanter Subjektivitäten

02.12.2010
In seinem neuesten Buch versetzt Malcolm Gladwell den Leser in ungewohnte Perspektiven. Er setzt verschiedene Aspekte, Blickwinkel und Epochen miteinander in Beziehung und lässt den Leser so zu verblüffenden Einsichten kommen.
Warum ist zu viel Information schädlich? Wer ist schuld an der Pleite des amerikanischen Energiekonzerns Enron? Warum gibt es so viele Senfsorten, aber nur ein erfolgreiches Ketchup? Am Anfang von Malcolm Gladwells furiosen Essays steht oft eine Frage, die daraufhin originell und kenntnisreich beantwortet wird. Jetzt hat der amerikanische Journalist und Autor die besten Stücke aus seiner mehr als vierzehnjährigen Tätigkeit für den "New Yorker" in einem neuen Buch zusammengestellt: "Was der Hund sah: und andere Abenteuer aus der Welt, in der wir leben".

Gladwell beginnt mit einem Kindheitserlebnis. Damals beobachtete er seinen Vater, der Mathematiker war und Blatt um Blatt mit unverständlichen Zahlenreihen füllte – wie konnte jemand, den er liebte, so etwas vollkommen Unverständliches tun? Dieses "Problem des Anderen" und die ihm zugrunde liegende Neugier durchziehen das ganze Buch, auch die titelgebende Geschichte über den Hundeflüsterer Cesar Millan.

Denn interessanter als zu verstehen, wie es Millan gelingt, einen unwilligen Hund zu beruhigen, ist der Versuch zu verstehen, warum der Hund ungehorsam ist. Wie fühlt es sich an, ein Hund zu sein? Oder ein Pilot vor dem Absturz, ein Profiler bei der Polizei oder der Erfinder des besten Grillofens der Welt? Gladwell ist unermüdlicher Erforscher interessanter Subjektivitäten – so sind viele seiner Geschichten ebenso einfühlsame wie unterhaltsame Porträts.

Wie das von Nassim Taleb, dem mürrischen Börsenhändler, der als einer der ganz wenigen auf den unwahrscheinlichen Zusammenbruch der Finanzmärkte setzte - und recht behielt. Doch nicht nur mit Einzelschicksalen, sondern auch mit ganz bestimmten Fragestellungen setzt sich der Autor auseinander. In einem Essay untersucht er die "Kunst des Versagens", in einem anderen das Verhältnis von "Genies und Spätzündern". Ein weiterer Text beschäftigt sich mit den Kriterien, nach denen Bewerber eingestellt werden, ein anderer mit den Schwierigkeiten, hoch aufgelöste Fotografien richtig zu deuten – ob in der Krebs-Früherkennung oder beim Auswerten von kriegsrelevanten Luftaufnahmen.

Gladwells Themen sind außerordentlich vielfältig, jede Geschichte steht für sich. In allen Texten jedoch zeigt sich sein spezielles Talent, verschiedene Aspekte, Perspektiven und Epochen miteinander in Beziehung zu setzen und so zu verblüffenden Einsichten zu gelangen. Dabei streift er mit eleganter Leichtigkeit große philosophische Fragen: Wie wollen wir leben? Was können wir wissen? Worauf baut unser Urteil?

Das Besondere an Gladwells amüsanten und vielschichtigen Essays besteht aber darin, dass nicht er diese Fragen stellt. Sie entstehen im Kopf des Lesers, der unmerklich angesteckt wird von Gladwells rastlosem Wissensdurst, seiner Skepsis gegenüber einfachen Antworten und seinem einfühlsamen Umgang mit den Menschen, deren Leben und Schicksale er so gut zu beschreiben versteht. Die Wirklichkeit wird zu etwas, das sich zu hinterfragen lohnt, und die anderen Menschen zu Welten, die man erforschen sollte.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Malcolm Gladwell, Was der Hund sah: und andere Abenteuer aus der Welt, in der wir leben
Übersetzt von Jürgen Neubauer
Campus Verlag, Hardcover, August 2010
368 Seiten, 22 Euro