Erfolgreiche Orchester-Republik

Moderation: Matthias Hanselmann · 30.04.2007
Das demokratische Selbstverständnis der Berliner Philharmoniker ist für den Musikjournalisten Herbert Haffner ein Grund für ihre Exzellenz. Daneben sind es die hervorragenden Musiker, die den guten Ruf des Orchesters begründen. Vor 125 Jahren gründeten Orchestermusiker die Philharmoniker in Selbstorganisation, um gegen ihren damaligen Chefdirigenten zu protestieren. Das Jubiläum am 1. Mai wird mit einem Konzert in einer Maschinenhalle begangen.
Hanselmann: Und wir sprechen mit einem Experten für das große Sinfonieorchester, Herbert Haffner, Autor des Buches "Die Berliner Philharmoniker", das gerade erschienen ist. Guten Tag, Herr Haffner.

Herbert Haffner Guten Tag.

Hanselmann: Die Berliner Philharmoniker genießen den Ruf, eines der besten Ensembles weltweit zu sein. Was macht sie dazu?

Haffner: Das ist natürlich eine gute Frage, aber vielleicht zwei Elemente: auf der einen Seite ganz hervorragende Musiker, in ihrer gesamten Tradition. Und wenn Sie heute Leute nehmen wie Emmanuel Pahud an der Flöte oder Albrecht Mayer an der Oboe, dann sind es ja nur ganz wenige Beispiele. Auf der anderen Seite, glaube ich, eine Tradition, die sie nun eben wirklich 125 Jahre lang zusammenschweißt, also diese Organisation einer Art Republik, in der jeder für alles verantwortlich ist, sowohl musikalisch als auch organisatorisch, und die sich im Grunde gehalten hat bis heute. Und soweit ich das beobachten kann, machen die Berliner Philharmoniker das auch heute noch mit Freude so.

Hanselmann: Über den heutigen Zustand reden wir gleich noch ein bisschen. Gehen wir mal in die Anfänge: Im Jahr 1882 wurden die Berliner Philharmoniker, ich sag mal als eine Art Protestorchester gegründet. Die Musiker der Kapelle von Benjamin Bilse fühlten sich so schlecht bezahlt, dass 54 von ihnen abdankten und ihr eigenes Orchester gründeten. Das hieß dann zunächst noch "Frühere Bilsesche Kapelle" und wurde dann das Berliner Philharmonische Orchester. Da war der Weltruhm noch nicht in Sicht. Können Sie uns sagen, wann das Orchester sozusagen aus der deutschen Provinzialität herausgekommen ist und Weltruhm in Sicht war?

Haffner: Ja, man muss immer sagen, der erste Chefdirigent - das wird oft sehr falsch gesehen - ist nicht Hans von Bülow, sondern ein Ludwig von Brenner, den heute kaum mehr jemand kennt. Aber mit Hans von Bülow und vor allem dann mit Arthur Nikisch hat man sozusagen aus dem allgemeinen Niveau herausgefunden. Mit Bülow, der sehr scharfer Orchester-Trainer war, und Nikisch, der ein Geiger war, eine ganz andere Persönlichkeit als Bülow und der mit einer Art Hypnose oder Magie eher ... Man hat ihn selber mal gefragt, er hat gesagt, ich kann das nicht erklären, ich komme und es klingt eben nach Nikisch. Mit ihm hat man, glaube ich, dann wirklich die allgemeine Beachtung gefunden, auch übrigens in den Medien. Eine der ersten Schallplatten, die die Berliner Philharmoniker gemacht haben, war ja "Nikischs Fünfte".

Hanselmann: Sie nennen Arthur Nikisch den Magier, Sie charakterisieren die einzelnen Chefdirigenten - der "Sparsame", der "Missionar" usw. Es kam dann die Zeit des Musikgottes, nämlich Wilhelm Furtwängler, Chefdirigent von 1922-45, also 23 Jahre lang. Welche Rolle spielte er für das Orchester?

Haffner: Ja, eine Rolle, die man eigentlich kaum überschätzen kann. Furtwängler wurde in den 20er Jahren zum wichtigsten Musiker in der ganzen Weimarer Republik, zur einflussreichsten Persönlichkeit, jemand, der versucht hat, seine - ein sehr national eingestellter Mann - der seine deutschen Werte über die Musik zu vermitteln und der eine enorme Ausstrahlungskraft hatte, ein Publikum, das man wirklich als Gemeinde bezeichnen kann, das ihm zu Füßen lag, der auch das Orchester selber wirklich wieder weiterentwickelt hat, natürlich in einem sehr typischen Furtwängler-Stil, aber der natürlich später im Dritten Reich dann große Probleme natürlich hatte.

Er hat sich in so ein merkwürdiges Dilemma manövriert. Auf der einen Seite wollte er in Deutschland bleiben, der deutschen Musik sozusagen beistehen und sie über diese Zeit hinweg retten, und auf der anderen Seite hat man ihn im Ausland bei den Emigranten oder Exilanten als natürlichen Sympathisanten der Nationalsozialisten gesehen. Aber das müsste man, glaube ich, jetzt mehr vertiefen.

Hanselmann: Nach dem Krieg kam dann das, was Sie nennen den Neuanfang mit Statthaltern - Borchert, Celibidache und wieder Furtwängler - und das zuerst noch nicht natürlich in der neuen Philharmonie, die wurde ja erst gebaut. Es gab Übergangshäuser - mein Kollege Martin Riesel hat Aufnahmen mitgebracht aus einem dieser Übergangshäuser. Welche Aufnahmen sind das?

Martin Riesel: Die Schallplattenaufnahmen wurden ja gemacht in der Christus-Kirche in Berlin-Dahlem, wo auch heute noch viele Orchesteraufnahmen ... An diesen Übergangshäusern, wo die Konzerte stattfanden, da gab es einige in der Stadt, die auch heute noch von Namen sind sozusagen, das heutige "Theater des Westens", der Admiralspalast in Ost-Berlin, der Titania-Palast in Steglitz - heute leider nur noch ein Kino - und einmal sogar der Sportpalast. Und dann eben in der neuen Philharmonie mit Herrn Haffner ein Mann, den Sie nennen den "Medienimperator". Was war denn der Medienimperator?

Haffner: Das ist Herbert von Karajan. Im Übrigen möchte ich ganz schnell zu der Jesus-Christus-Kirche etwas sagen: Die war als Aufnahmestudio ganz gut geeignet, hatte ein Problem, sie lag über der Einflugschneise zum Flughafen Tempelhof. Und das hat eben entsprechende Probleme bereitet. Und insofern war man froh, dass man später in der Philharmonie dann doch Aufnahmen machen konnte, dass man das so weit gebracht hat.

Hanselmann: Flugzeuge werden wir dann gleich aber nicht hören.

Haffner: Zurück zu Karajan. Karajan hatte das Glück, auch in eine Zeit geboren zu werden, in der die Medienlandschaft ungeheuer im Umbruch gewesen ist. Seine ersten Aufnahmen hatte er noch auf Schellack gemacht, dann gab's Langspielplatten und musste wieder auf Vinyl produzieren. Dann gab es natürlich Musikkassetten, dann gab es CDs - die er immer stolz noch präsentiert hat -, dann gab es Bildplatten, dann gab es Videos. Und jedes Mal konnte er sein riesiges, wenn auch relativ konventionelles Repertoire wieder neu einspielen und wieder neu verkaufen. Und insofern hat er nun wirklich ein - kann man nicht anders sagen - ein Medienimperium aufgebaut. Er hat ja dann seine eigene Videofirma in Monaco, die "Tele Mondial", und er ist ja damit auch ein schwerreicher Mann geworden.

Hanselmann: Es kam dann nach Herbert von Karajan "der Pultdemokrat", wie Sie ihn nennen, nämlich Claudio Abbado, und der wurde gefolgt vom amtierenden Chefdirigenten Sir Simon Rattle, den nennen Sie den Kommunikator. Seit 2002 hält er den Taktstock in der Hand. "A Passion for Music" ist das heutige Motto der Berliner Philharmoniker. Denken wir an das "Education Project", das Simon Rattle eingeführt hat. Mit diesem Projekt werden Kindern und Jugendlichen Musikinstrumente und die klassische Musik nähergebracht. Das bekannteste Projekt ist in dem Film "Rhythm is it" dokumentiert, in dem Schüler unter professioneller Anleitung den Tanz zu Strawinskys "Le Sacre du Printemps" erarbeiteten. Der Film war ja ein Kino-Hit.

Riesel: Das war ein Riesen-Kino-Hit und vor allem dadurch auch ein ganz anderer Zugang zu anderen Hörerschichten. Herbert Haffner, gab es eigentlich ähnliche Projekte in der Geschichte der Berliner Philharmoniker vorher auch schon?

Haffner: Nicht in dieser Größenordnung und auch nicht in dieser Art. Also es gab so ein Schulorchestertreffen und Ähnliches, aber was Rattle eben möglich macht, ist bedingt durch zwei Sachen eigentlich: Er hat ein ungeheuer großes Repertoire. Es reicht von Rameaus "Les Boréades" bis Bernsteins "Wonderful Town" und von Bach bis Collin Matthews oder Duke-Ellington-Arrangements. Damit kommt er natürlich sehr gut auch bei jungen Leuten an. Und es hat sich das Publikum der Berliner Philharmoniker ja auch in der Zeit ein bisschen umstrukturiert zu den jüngeren Leuten hin. Gott sei Dank hat es das.

Und das andere ist natürlich, dass die Deutsche Bank wirklich als Generalsponsor eingesprungen ist und dieses Projekt sehr, sehr opulent finanziert. Ein anderes Orchester könnte das auf diese Weise auch gar nicht auf die Beine stellen. Was da allerdings gemacht wird, ist also doch schon sehr bewundernswert. Und ich bewundere am meisten Royston Maldoom, diesen Choreografen, der diese Stücke inszeniert. Ich habe nicht den "Sacre" gesehen, also im Kino, aber nicht live, ich habe gesehen, wie er "Carmina Burana" inszeniert hat, und das war für mich eine der beeindruckendsten Ballettaufführungen, die ich überhaupt gesehen habe, glaube ich. Mit diesen ganz jungen Leuten, Kindern, die so zehn Jahre alt sind, und dazwischen ein paar ältere Herren mit weißen Bärten.

Hanselmann: Also Sir Simon Rattle, Sie hätten ihn außer Kommunikator auch noch Innovator nennen können, glaube ich?

Haffner: Innovator auch, ja, Kommunikator natürlich, weil er das Talent hat, sehr zusammenzuschmelzen alles Mögliche: das Publikum mit dem Orchester, Sponsoren mit dem Orchester. Und er nutzt sein Charisma, das er ja nun unstreitbar hat, auch dafür aus, dem Orchester in dieser Hinsicht beizustehen.

Hanselmann: 125 Jahre Orchester der Sonderklasse und Kulturbotschafter Deutschlands, 125 Jahre Berliner Philharmoniker. Vielen Dank, Herbert Haffner, Autor des Buches "Die Berliner Philharmoniker", über 300 Seiten zur Geschichte des weltberühmten Orchesters. Das Buch ist erschienen bei Schott. Danke schön, Herr Haffner.
Der Dirigent Wilhelm Furtwängler während einer Pressekonferenze in London 1948
Der Dirigent Wilhelm Furtwängler während einer Pressekonferenze in London 1948© AP
Berliner Philharmonie
Berliner Philharmonie© Berliner Philharmoniker / Schirmer
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