Erfinderin von zwei Welten

Die gemeinsame Flucht misslingt, die Familie wird auseinander gerissen: Saba bleibt mit ihrem Vater im Iran zurück, ihre Zwillingsschwester Mahtab lebt fortan mit der Mutter in den USA. Ständig fragt sich Saba, wie ihr Leben im fernen Amerika verlaufen wäre – und baut sich ihre eigene Fantasiewelt auf.
Iran, im Sommer 1981: Die elfjährige Saba Hafezi befindet sich mit ihrer Mutter und dem Vater am Flughafen in Teheran. Von dort will die Mutter mit Saba und deren geliebter Zwillingsschwester Mahtab nach Amerika fliehen. Doch Saba wundert sich, denn Mahtab ist schon auf der Fahrt zum Flughaben nicht im Auto gewesen. Als sie Mahtab plötzlich an der Hand einer fremden Frau in ein anderes Flugzeug einsteigen sieht, rennt Saba los – und verirrt sich im Getümmel. Erst Stunden später kann ihr Vater sie finden – zu zweit fahren sie nach Hause in das abgelegene Dorf im Norden des Irans zurück, wohin sich die Familie nach der Islamischen Revolution zurückgezogen hat. Weder ihre Mutter noch ihre Zwillingsschwester wird Saba wiedersehen. Bald ist Saba überzeugt: Die Mutter ist mit Mahtab nach Amerika geflogen und hat sie im Iran zurück gelassen.

Fortan träumt Saba von Mahtab – und von dem Leben, das Mahtab an ihrer Stelle in Amerika führt. Wie die meisten Iraner ist auch Saba besessen von Amerika und dem Westen. Sie hört Musik von Otis Redding, U2 und Michael Jackson; sie verschlingt Salman Rushdies „Satanische Verse“ und schaut wieder und wieder „Club der toten Dichter“, „Lovestory“ oder amerikanische Fernsehserien – alles heimlich natürlich. Denn Sabas Familie hat ein weiteres Geheimnis: Die Familie gehört zur Minderheit der Christen. Zum Schutz der Familie gibt der Vater seit Ausbruch der Revolution vor, ein Muslim zu sein, damit man im Dorf keine unangenehmen Fragen stellt. Saba wiederum erzählt ihren engsten Freunden Reza und Ponneh von Mahtabs Briefen, von Mahtabs ersten Dates bis hin zu ihrer Heirat mit einem Amerikaner namens James.

Die Autorin erfindet sich „ihren“ Iran mithilfe von Saba
Fast die Hälfte des Romans spielt in einem Amerika, das Sabas Fantasie entspringt – oder erzählt sie doch die Wahrheit? Lange belässt Nayeri das im Ungewissen, auch wenn man ahnt, dass Sabas Geschichten ihr Weg sind, zu kompensieren, dass ihr Leben fortan voller Verluste und Fehlentscheidungen ist: Der Junge, den Saba liebt, liebt eine andere; sie heiratet einen alten reichen Mann, in der Hoffnung, als wohlhabende Witwe schneller nach Amerika zu gelangen. Erst am Ende des Romans – der aus den unterschiedlichen Stimmen der Frauen im Dorf erzählt und dabei bedächtig wie das Dorfleben, sprich ohne große Höhepunkte, voran schreitet – enthüllt Nayeri, was wirklich geschehen ist.

Dieses bedächtige Erzählen hat Anmut – aber auch Längen. Manche Szenen wiederum brennen sich ins Gedächtnis: Wie ein Sittenwächter Sabas Freundin verprügelt oder wie Saba auf Geheiß ihres Ehemannes unter Zwang entjungfert wird. Vor allem aber begreift man irgendwann: Nicht nur Saba erfindet sich mit Hilfe von Mahtab ein Fantasie-Amerika. Auch Dina Nayeri – die während der Islamischen Revolution zur Welt kam und den Iran schon als Zehnjährige verlassen hat – erfindet sich mit Hilfe von Saba ihren Iran. Im Roman bleibt dieser Iran daher oft merkwürdig diffus. Das macht den Roman „Ein Teelöffel Meer und Land und Meer“ zu einer ambivalenten Lektüre.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Dina Nayeri: Ein Teelöffel Land und Meer
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Mare Verlag, Hamburg 2013
528 Seiten, 22 Euro
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