Erfinder des virtuellen Raums

Von Volkhard App |
Giacometti und die Künstler späterer Generationen mit ihrer Definition von Räumen – ein spannendes Thema. Die Ausstellung "Verortungen" in Wolfsburg soll den ungebrochenen Einfluss des Altmeisters auf jüngere Künstler veranschaulichen.
Markanter kann der Kontrast gar nicht sein. In der großen Halle stehen die Bronzeskulpturen Alberto Giacomettis – mal sind sie ganz klein, dann wieder meterhoch und extrem dünn. Im oberen Stock dagegen beeindrucken die "Großen Geister" von Thomas Schütte – riesige Figuren, aber alles andere als schmal: aufgeblasen, wulstig, gefertigt aus Aluminium.
Kurator und Sammlungsleiter Holger Broeker:

"Sie werden scherzhaft auch als Michelin-Männchen bezeichnet – nur eben, dass die Oberfläche durch das polierte Aluminium spiegelt. Das Volumen, das diese Arbeiten haben, löst sich deshalb auf – und zwar im Raum."

Und um den Raum geht es hier tatsächlich, nicht etwa um ein konkretes Menschenbild. Die Deutung von Giacomettis Skulpturen in Wolfsburg ist inhaltliche Voraussetzung auch für diese neue, begleitende Schau mit zeitgenössischen Stücken aus der eigenen Sammlung.
Museumsdirektor Markus Brüderlin beschreibt die Qualität des modernen Klassikers so:

"Er eröffnet uns einen riesigen Kosmos von verschiedenen Räumen, unter anderem auch den virtuellen Raum. Giacometti ist sogar der Erfinder des virtuellen Raums, was viele Leute überrascht. Das ist eine unserer Grundthesen."

Giacometti und die Künstler späterer Generationen mit ihrer Definition von Räumen – ein spannendes Thema, aber eine bestimmte Ankündigung des Museums macht denn doch stutzig: Die Ausstellung "Verortungen" solle den ungebrochenen Einfluss des Altmeisters auf jüngere Künstler veranschaulichen. Das klingt nach einem Vorbildcharakter Giacomettis, nach starken Impulsen bis in unsere Tage hinein.

Holger Broeker: "Ein kausaler Zusammenhang ist hier natürlich nicht intendiert. Es geht vielmehr darum zu zeigen, wie stark das Thema des Raumes vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den unterschiedlichen künstlerischen Ausrichtungen vorhanden ist. Und da spielt der Einfluss von Giacometti eine gewisse Rolle. Man kann ihn sehr schön sehen bei der Arbeit von Carl André, die daraus besteht, dass verschiedene gleichförmige Blöcke nach Norden ausgerichtet sind – wobei die jeweils senkrechten Elemente für den Betrachter stehen. Und wenn man diese Arbeit beispielsweise vergleicht mit dem 'Wald' von Giacometti, dann hat man schon eine erste Assoziation."

Und doch findet der Dialog mit Giacometti in dieser Ausstellung kaum statt. Was unter dem Strich bleibt, ist der Versuch, anhand sehr unterschiedlicher Werke einen Kosmos von Raumerfahrungen aufzuzeigen und den Wunsch der Künstlerinnen und Künstler, diese Raumerlebnisse auch zu vermitteln.

James Turrells allmählich changierende Farbfelder, die in den Saal leuchten, ihn förmlich aufladen, bedienen sich dabei modernster Technik – geradezu archaisch wirken dagegen die Videoarbeiten von Bruce Nauman, der sich mit dem Rücken in eine Ecke fallen läßt, nach vorne schnellt und wieder zurückfällt.

Holger Broeker: "Die Arbeiten von Bruce Nauman aus den Jahren 1968 und 69 sind ganz elementar, denn er lotet den Raum, in dem er sich täglich aufhält, nämlich sein Studio, mit dem eigenen Körper aus. Er begibt sich auf die Schnittstelle zwischen Fußboden und Wand oder in eine Ecke und macht diese räumlichen Gegebenheiten körperlich spürbar, indem er immer wieder dieselben Bewegungen ausführt."

Gleich acht Fotogroßformate von Andreas Gursky hat man stolz in einem Saal versammelt: ein globaler Rundblick von der Börse in Hongkong über politische Aufmärsche in Nordkorea bis zur Luxuswelt von Dubai.

Sook Kim wiederum lässt auf eine Hausfassade und in Dutzende von Zimmern blicken, in denen sich wahre Dramen abspielen – von der Sex- und Rauschgiftorgie bis zum Suizid. Höchst Bedrohliches in den vier Wänden.

Vielleicht der mächtigste Zugriff auf das Thema Raum stammt von Anselm Kiefer: Tausende schwarzer Sonnenblumenkerne hat er auf einen pastosen weißen Untergrund gestreut. Diese Kerne deuten Stengel und Blüten an, lassen auf der Fläche aber auch das Universum aufscheinen – mit Galaxien und Sternbildern, die auf kleinen Schildern sogar benannt sind.

Holger Broeker: "Das Faszinierende dieser Arbeit ist eben, dass die Sonnenblumenkerne als Matrix dienen: zum einen für die Erfahrung des Mikrokosmos - das Samenkorn, aus dem heraus alles entsteht - und gleichzeitig wird mit den Kernen das Bild des Weltraums entworfen, des größten Raums, den wir uns überhaupt vorstellen können."

Von Imi Knoebel bis zu Jeff Wall: Es ist ein stilistisches Vielerlei in den oberen Räumen. Fast schon schwieriger, als diese Auswahl zu treffen, dürfte es gewesen sein, klar zu bestimmen, welche Werke der eigenen Sammlung nichts mit dem Thema Raum und Raumerfahrung zu tun haben.

Und doch sieht man die Werke der hauseigenen Kollektion unter diesem wenn auch sehr allgemeinen Oberbegriff noch einmal anders, etwas schärfer. Und auch den Giacometti, wenn man aus den Räumen der oberen Etage wieder hinuntergeht zu den elementaren Skulpturen, den winzigen und den großen, ganz dünnen. Sie bleiben im Museum derzeit die Hauptattraktion, aber die Werke der prominenten Zeitgenossen sind doch mehr als bloß eine Zugabe.
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