Erfahrungen können vererbt werden

Bernd Kegel im Gespräch mit Joachim Scholl |
Die Vorstellung, dass es einen einfachen Zusammenhang zwischen Genen und Krankheit gibt, "ist so nicht mehr aufrechtzuerhalten", sagt der Sachbuchautor Bernd Kegel. Chemische Begleiter der DNA könnten Aktivitäten der Gene steuern und seien "eine Art Software, die den Genen sagen, wann, wo, in welchem Ausmaß und ob sie überhaupt aktiv werden sollen. Dieser Programmcode bleibt ein Leben lang in hohem Maße sensibel gegenüber Einflüssen der Umwelt."
Joachim Scholl: Über die Allmacht der Gene hat uns die moderne Wissenschaft vielfach belehrt. Keine Wissenschaft wurde so intensiv öffentlich diskutiert in den letzten Jahren wie die Genetik. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms war eine Weltsensation, man sprach vom Buch des Lebens, das nun offen vor uns liege.

Ist damit nun alles geklärt? Von wegen, sagt die sogenannte Epigenetik. Dieser Forschungszweig hat in den letzten Jahren für viele Diskussionen in der Wissenschaft gesorgt - eher unbemerkt von der großen Öffentlichkeit - mit spektakulären Erkenntnissen, die jetzt der Biologe Bernhard Kegel in einem Buch zusammengetragen hat: "Epigenetik: Wie Erfahrungen vererbt werden können". Das ist eine der Pointen, die uns Bernd Kegel erläutern soll. Der Berliner Autor ist mit spannenden Wissenschaftsromanen bekannt geworden, zuletzt erschien der Roman "Der Rote". Er hat sich aber auch als Sachbuchautor längst einen Namen gemacht. Ich begrüße ihn jetzt im Studio, guten Tag, Herr Kegel!

Bernhard Kegel: Guten Tag!

Scholl: Was Genetiker machen, Herr Kegel, haben wir in den letzten Jahren fast wöchentlich auf der ersten Seite der Zeitungen erfahren, eine Sensation jagte die nächste. Was Forscher tun, die sich mit Epigenetik beschäftigen, ist weit weniger bekannt. Helfen Sie uns: Was macht ein Epigenetiker?

Kegel: Also ein Labor eines Epigenetiker wird sich auf den ersten Blick kaum von dem eines Genetikers unterscheiden, aber das Interesse der Epigenetik richtet sich nicht in erster Linie auf die DNA selbst, auf die Sequenz der DNA selbst, so wie wir das in den letzten Jahren oft gelesen haben, sondern auf chemische Begleiter dieser DNA. Ich habe das "chemische Anmerkung des DNA-Textes" genannt. Diese Verbindungen können die Aktivität von Genen verändern, sie können sie an- und abschalten, ja, sie können sogar ganze Chromosomen an- und abschalten.

Das Genom ist also sozusagen bei der Bewältigung dessen, was es zu tun hat, nämlich der Steuerung der Lebensprozesse und der Vererbung, nicht allein, und die Bedeutung dieser zusätzlichen epigenetischen Ebene, die ist in den Jahren zuvor dramatisch unterschätzt worden und kommt heute immer mehr in den Mittelpunkt.

Scholl: Dass nämlich Erfahrungen vererbt werden können über diese verschiedenen Anmerkungen, da passieren Dinge in der Zelle, die man sich vorher nicht vorstellen konnte oder eben im Chromosom. Das hat die Genetik bislang eigentlich ausgeschlossen. Wie ist man so einem solchen Vorgang überhaupt auf die Spur gekommen?

Kegel: Also die heißesten Hinweise gab es aus dem Tier- und Pflanzenreich, aber die haben es natürlich schwer, in unserer Medienwelt großes Interesse zu finden. Einen besonders spektakulären Fall hat man in Schweden aufgespürt, in Nordschweden, einem kleinen Dorf namens Överkalix. Solche Untersuchungen an Menschen sind praktisch sehr schwer oder nahezu unmöglich. Und hier war ein Glücksfall gegeben, dass man nämlich mit historischen Datensätzen arbeiten konnte und untersuchen konnte einen Zusammenhang der Ernährung der Eltern- oder Großelterngeneration und der Lebenserwartung der Enkel. Und tatsächlich zeigte sich hier, dass da ein enger Zusammenhang besteht, der - wie Sie es eben andeuteten - normalerweise eigentlich nicht bestehen dürfte. Nämlich die Ernährung der Großeltern hatte großen Einfluss auf die Lebenserwartung der Enkel und auch daran, woran diese Enkel starben.

Scholl: Was spielt sich denn also nun in einer Zelle an epigenetischen Vorgängen ab, die einen solchen Prozess dann in Gang leiten, eröffnen - wie muss man das verstehen?

Kegel: Das sind kleine chemische Verbindungen, winzige chemische Verbindungen, die sich direkt an die DNA heften oder an Proteine, um die die DNA gewickelt ist. Die DNA liegt nicht nackt im Zellkern vor, sondern sie ist wie um Wagenräder, die aus Eiweißmolekülen bestehen, gewickelt. Zusammen, also diese Gruppen, die direkt an die DNA geheftet werden oder an diese Proteine, bilden eine Art Programm, eine Art Software, die den Genen sagen, wann, wo, in welchem Ausmaß und ob sie überhaupt aktiv werden sollen. Und nur mithilfe dieser Informationen wird aus dem Genom überhaupt erst ein Organismus.

Dieser Programmcode - nennen wir ihn mal so -, der entsteht schon sehr früh in der Entwicklung beim Embryo, und er bleibt ein Leben lang in hohem Maße sensibel gegenüber Einflüssen der Umwelt. Das ist natürlich das dramatisch Neue.

Scholl: Erfahrungen können vererbt werden, das hat die Epigenetik nachgewiesen. Der Biologe und Autor Bernhard Kegel ist hier im Deutschlandradio Kultur zu Gast. Herr Kegel, Sie sprechen im Zusammenhang mit diesen neuen Erkenntnissen von einer neuen molekularbiologischen Weltordnung, das Gen sei - wörtlich, also ihr Ausdruck - "ein Auslaufmodell". Ist die Allmacht der Gene gebrochen, das Gen entmachtet?

Kegel: Wenn man zum Vergleich nimmt den Genzentrismus oder den Gendeterminismus, den wir vor ein paar Jahren hatten, dann auf jeden Fall. Also dieser einfache Zusammenhang zwischen Genen und Merkmal oder Krankheit, der ist so nicht mehr aufrechtzuerhalten. Schon wegen der geringen Zahl der Gene nicht, die wird ja immer geringer. Ich musste während der Arbeit an dem Buch die Zahl der menschlichen Gene zweimal nach unten korrigieren. Wir sind jetzt mittlerweile bei 19.000 angelangt. Und spätestens, als man diese Zahl kannte, war eigentlich klar, dass diese alten Vorstellungen nicht gelten können.

Es ist viel komplizierter. Gene sind auch viel komplexer aufgebaut, als man das früher dachte. Die Möglichkeiten der Wechselwirkungen sind ungleich komplexer, als man sich das vorgestellt hat. Viele prominente Wissenschaftler sagen, dass die interessanteste Zeit der Genetik jetzt erst kommt, sie steht erst bevor.

Scholl: Nun fragt sich der Laie, wie bei der Genetik natürlich, was bringt uns das denn praktisch? Also Sigmund Freud etwa hat vor über 100 Jahren die Hoffnung geäußert, dass die medizinische Wissenschaft eines Tages mal herausfinden könnte, über welche psychischen und sozialen Erfahrungen eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten vermittelt sei. Das ist ja auch immer die große, moderne Hoffnung, dass wir praktisch in den Einblick in die Genetik sozusagen mal den Krebs heilen. Wird diese Hoffnung von der Epigenetik jetzt oder schon bald erfüllt? Was meinen Sie?

Kegel: Also bei "schon bald" würde ich eher ein Fragezeichen setzen, aber natürlich, das Besondere an diesen epigenetischen Programmierungen des Genoms ist, dass sie reversibel sind. Sie können sich relativ leicht etablieren, sie können aber auch relativ leicht wieder verschwinden. Und das belebt natürlich sofort die Fantasie der Forscher, die sagen, wenn durch solche epigenetischen Programmierungen irgendetwas falsch läuft, zum Beispiel in Richtung Krebs - Krebs wird sicherlich in hohem Maße durch epigenetische Vorgänge verursacht -, dann können wir die ja auch wieder rückgängig machen.

Es gibt erste Medikamente, die in dieser Richtung wirken, die wirken allerdings genomweit, das heißt, sie haben sehr dramatische Nebenwirkungen und sind eigentlich nur bei schwerstkrebskranken Menschen anwendbar. Die Wissenschaftler träumen aber sozusagen von epigenetischen Präzisionsmedikamenten, die nur ganz bestimmte Gene dann tangieren und dort solche Fehlentwicklungen rückgängig machen. Ob es solche Medikamente je geben wird - ich bin eher skeptisch und bleibe zurückhaltend.

Scholl: Als die großen genetischen Durchbrüche stattfinden, Herr Kegel, hat es in der Öffentlichkeit gerauscht wie selten nicht mehr. Also wöchentlich gab's Schlagzeilen, wenn irgendwo in den USA wieder eine Petrischale gegluggert hat. Die ersten epigenetischen Schlagzeilen - nenn ich sie jetzt mal so - gab's 2006. Da hat zum Beispiel die britische "Sunday Times" getitelt: "Warum Opa unsere Babys krank macht". Das war diese Forschung damals von der ...

Kegel: finnischen …

Scholl: ... aus Schweden. Seither ist es aber doch einigermaßen still. Und wenn man diesen großen Medienhype jetzt vergleicht mit der Genetik oder Craig Venter und die Entschlüsselung des Genoms, ist es doch eigentlich verwunderlich, weil es doch massive wissenschaftliche Fortschritte und Erkenntnisse sind. Woran liegt das?

Kegel: Na, vielleicht kommt das ja jetzt noch mit etwas Verspätung. Aber es war sicher eindeutig so, dass diese Sequenzierung, also das, was im Rahmen des humanen Genomprojektes ablief und bei vielen anderen Organismen ja auch, dass das die Forschungslandschaft und auch das öffentliche Bild total dominiert hat. Da waren verschiedene Protagonisten dran beteiligt, nicht zuletzt die Wissenschaftler selbst, die eine milliardenteure Forschung öffentlich rechtfertigen mussten und immer wieder vor die Öffentlichkeit getreten sind. Andere Forschungsrichtungen fielen dabei unter den Tisch.

Die Verhältnisse, die dann zutage traten, war auch viel zu kompliziert für so eine einfache Verbreitung über die Massenmedien. Und da hielt man dann offenbar lieber den Mund, bevor man etwas Falsches sagte. Und vielleicht als letzter Aspekt: Leider sind die Fortschritte beim Menschen - was uns natürlich besonders interessiert - geht es nur sehr langsam voran. Also die aufregendsten Erkenntnisse kommen eigentlich aus dem Tier- und Pflanzenreich, die ich in meinem Buch natürlich dann auch darstellen kann, aber was den Menschen angeht, kommen wir eigentlich kaum voran. Wir können nur Analogieschlüsse ziehen von dem, was wir von Pflanzen und Tieren lernen.

Scholl: Zum Schluss eine Frage an den Romancier Bernhard Kegel - ich meine, dieses Buch ist dick, 367 Seiten, eine wirklich große Forschungsleistung auch, diese ganzen Sachen zusammenzutragen und verständlich für den Laien aufzubereiten: Reizt dieses Thema auch den Belletristen Kegel?

Kegel: Ein bisschen. Also ich kann ja jetzt das Gleiche nicht noch mal in Romanform machen, aber das Thema ist ja so im Fluss, und wir müssen davon ausgehen, jeder Monat kann neue Erkenntnisse bringen - ich kann mir schon vorstellen, dass das eine oder andere mal wieder auftauchen wird.

Scholl: "Epigenetik: Wie Erfahrungen vererbt werden können", so heißt das Buch von Bernhard Kegel, seit gestern ist es auf dem Markt, erschienen im DuMont-Verlag. 367 Seiten stark zum Preis von 19,95 Euro. Bernherd Kegel, ich danke Ihnen für Ihren Besuch und das Gespräch!

Kegel: Vielen Dank!