Erfahrungen aus einer belagerten Stadt

Vorgestellt von Sigrid Brinkmann |
Als Reaktion auf einen Selbstmordanschlag im März 2002 riegelte die israelische Armee die Stadt Bethlehem über 40 Tage ab. Mitri Raheb hat als Pastor an der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche die Auswirkungen der Belagerung unmittelbar erlebt. In seinem Buch "Bethlehem hinter Mauern" erinnert er an jene Tage wie auch an andere alltägliche Ausnahmesituationen, die palästinensische Christen und Muslime geduldig, ohne die Hoffnung zu verlieren, überstanden haben.
Die lutherische Gemeinde Bethlehems, der Mitri Raheb seit 1988 vorsteht, zählt knapp 350 Seelen. Insgesamt hat die "Evangelisch-Lutherische Kirche in Jordanien und Palästina" nur wenige tausend Mitglieder. Sie bildet also eine verschwindend kleine Minderheit, die der muslimischen Mehrheit beweisen muss, dass Christen sich innerhalb der palästinensischen Gesellschaft nicht als Fremdkörper verstehen und schon gar nicht als "westlicher Import" gelten wollen. Deshalb auch stellt Raheb, der in den 80er Jahren mit einem Stipendium des lutherischen Weltbundes nach Marburg kam und dort promovierte, gleich zu Anfang klar:

"Ich bin ein Palästinenser. Meine Familie lebt und arbeitet schon seit Jahrhunderten in Palästina."

Das Gemeindezentrum der lutherischen Weihnachtskirche diente dem israelischen Militär während der Belagerung 2002 als Ausgangsbasis. Die damals empfundene Hilflosigkeit angesichts der mutwilligen Zerstörung von Werkstätten, des Medienzentrums und des Gästehauses der Kirche gab den Impuls. Detailliert schildert Raheb innerliche Beklemmungen, und er klagt die "Kälte des Krieges" an: den Einsatz von unbemannten Überwachungsflugzeugen und elektronischen Kameras, die Maschinengewehre automatisch steuern. Dass Muslime die Geburtskirche - diesen für die Christenheit so bedeutsamen Ort - als Fluchtpunkt gewählt hatten, führte durchaus zu Konflikten innerhalb der christlichen Gemeinde Bethlehems.

"Jemand war zornig auf die "westlichen Christen", die nicht genug dafür taten, die Belagerung zu beenden. (...) Eine andere Gruppe war wütend auf die Kämpfer, die in der Kirche Deckung gesucht hatten. Einer meinte: "Warum haben sie sich nicht in ihrer Moschee versteckt? Weshalb unsere Kirche dazu missbrauchen?" Ein paar wenige hatten eine Antwort parat: "Als Christen sollten wir stolz sein, dass sich Muslime in unserer Kirche sicherer fühlen als in ihrer Moschee!""

Ein schwer erkranktes Hamas-Mitglied überlebte die Belagerung, weil ein Priester den waffenlosen Kämpfer mit Medikamenten versorgte. Nach der Räumung der Geburtskirche wurde der Mann nach Gaza deportiert und soll mit Muslimen, die die Gastfreundschaft der Kirche missachteten, gebrochen haben.

"Wir Christen, Muslime und Juden brauchen solche Helden der Begegnung. Wir alle müssen uns von den Muhammads und Amjads ins Stammbuch schreiben lassen, wie man sich um echte Verständigung bemüht."

Mitri Rahebs Schwiegervater starb an den Folgen eines Herzinfarkts. Dem Notarztwagen war es nicht erlaubt, den Checkpoint auf dem Weg nach Jerusalem zu passieren, weil der alte Mann Jerusalem nur aus geschäftlichen Gründen betreten durfte. Selbst sein amerikanischer Pass - als Joker gezogen - nützte nichts.
Solch tragische, tödlich endende Geschichten stehen neben den hoffnungsvolleren. Raheb erzählt von arbeitslosen Bethlehemer Bürgern, die sich in den Werkstätten der lutherischen Gemeinde eine Existenz aufbauen oder an der Vollendung der Evangelischen Akademie mitwirken. Kindergarten und Grundschule können bereits besucht werden. Das Gesundheitszentrum versorgt Patienten selbst aus dem entfernteren nordwestlichen Teil des Westjordanlandes. Eine Spende des finnischen Außenministeriums ermöglichte den Abschluss der Bauarbeiten am Kulturzentrum. Mitri Rahebs Erzählungen haben nichts Missionarisches; sie überzeugen durch das Beispiel. Allein an einer Stelle - inspiriert durch die Betrachtung eines symbolhaften Bildes - versucht sich Raheb in psychologischen Erklärungen für die Herrschsucht der israelischen Machthaber.

"Als Palästinenser haben wir unser Leid in einem gewissen Maß der verheerenden Politik unserer eigenen Führungskräfte zu verdanken. (...) Wir leiden wegen unserer eigenen Schuld, aber auch wegen der Schuld vieler anderer. (...) Außerdem tragen wir die Schuld des jüdischen Volkes. Jene, die durch ihre Erfahrung der Verfolgung traumatisiert sind, entwickelten einen Hunger nach immer mehr Macht. Die Israelis hassten ihre frühen Verfolger, aber tief im Innern waren sie auch von ihnen beeindruckt und wollten ebenso mächtig sein."

Ein Ausrutscher. Der Verlag hätte Mitri Raheb durchaus konfrontieren sollen mit der Grobheit dieser Deutung, gerade weil die Berichte dieses Mannes mit doppeltem Minderheitenstatus uns etwas zu sagen haben.

Mitri Raheb: Bethlehem hinter Mauern. Geschichten der Hoffnung aus einer belagerten Stadt
Aus dem Amerikanischen von Alexander Maßmann
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005
185 Seiten
16,95 Euro