"Erfahrung mit Occupy Wall Street" hat mich verwandelt

Mark Greif im Gespräch mit Ulrike Timm · 03.02.2012
Eher zufällig sei er beim ersten Tag von Occupy Wall Street in New York mit dabei gewesen, erzählt der US-Literaturwissenschaftler Mark Greif. Das von ihm herausgegebene Magazin "n+1", wolle so etwas wie das Feuilleton der Bewegung sein, sagt er.
Ulrike Timm: Mark Greif ist einer der prominentesten jungen Intellektuellen in den USA, Mitte 30, er lehrt als Literaturwissenschaftler an einer New Yorker Universität und gibt die sehr schnell erfolgreich gewordene Kulturzeitschrift "n+1" heraus. Es dürfte auch nicht viele geben, die wie Mark Greif Essays über Hip-Hop und Fitnesstraining schreiben, aber genauso über die Philosophen Epikur und Marcuse. Und er gehört zu denen, die gedanklich die Occupy-Wall-Street-Bewegung begleiten. Sie erinnern sich: Zwei Monate lang hielt die den Zuccotti-Park nahe der Wall Street in New York besetzt, um dann mit dem Slogan "Wir sind die 99 Prozent!" gegen die Banken, das Finanzkapital und alle damit verbundenen Missstände zu Felde zu ziehen.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich ja dieser Slogan "Wir sind die 99 Prozent!" um die Welt, denn so viele konnten das nachfühlen: die Ohnmacht gegen ein System, das spätestens mit der Finanzkrise entgleiste. Jetzt ist er bei uns im Studio zu Gast. Welcome, Mark Greif!

Mark Greif: Thank you very much!

Timm: Es war alles dabei damals im Zuccotti-Park – Politik, Spektakel, Diskussion und Trommelkurs –, dann räumte die Polizei. Wo sind diese Menschen heute?

Greif: Einige von ihnen sind immer noch in New York dort im Park, acht bis zehn Menschen wird man dort immer treffen. Sie nehmen an anderen Demonstrationen teil, sie identifizieren sich auch mit dieser Bewegung im Zuccotti-Park. Die Mehrheit aber derjenigen, die in New York wohnen und die dort zusammengekommen sind, sind jetzt zu Hause. Die fragen sich natürlich, was damit geschieht und ob solche Demonstrationen wieder stattfinden.

Timm: Haben die aufgegeben oder warten sie auf wärmeres Wetter?

Greif: Ich glaube, sie warten in der Tat, sie hoffen auch, dass Dinge wieder in Gang kommen. Das war ja auch das Besondere bei Occupy Wall Street, dass es keine Führungsgestalt gab, keine zentrale Organisation. Viele Teilnehmer kamen also auf gut Glück dann dorthin, an diesem, an jenem Tag, und warteten, ob sich genug Masse, genug Interessenten zusammenfinden würden.

Timm: Occupy Wall Street, eine Bewegung, die ja auch deshalb so viel Sympathie und so viele Nachahmer fand, weil sie letztlich aus einem ganz diffusen Grundgefühl entstand, dass es nämlich so, wie es jetzt ist, nicht sein kann, aber es wurde auch nicht konkret wie denn anders. Sie, Mark Greif, haben sich mal als Schönwetterbesucher dort bezeichnet, das Gemeinschaftstrommeln lag Ihnen wohl eher weniger. Wo sind Sie skeptisch und wo haben Sie viel Respekt vor Occupy?

Greif: Es stimmt natürlich, ich habe mich in der Tat einmal als Schönwetteraktivist bezeichnet – ich habe nicht im Park übernachtet, ich habe nicht jede Demonstration mitgenommen, die sich anbot. Dennoch hat diese Erfahrung mit Occupy Wall Street auf mich auch eine verwandelnde Wirkung ausgeübt. Ich bin ja im amerikanischen Sinn ein Liberaler, also ich glaube an die Kraft des Staates, an den Rechtsstaat, an den langsamen Wandel. Dort traf ich nun Menschen, die sich selbst als Anarchisten bezeichneten, die wirklich davon ausgingen, dass man jetzt und sofort die utopischen Ideen umsetzen müsse. Und ich habe festgestellt, vieles kriegen sie richtig hin: Sie haben in der Tat Demonstrationen inszeniert, die effizienter waren als das, woran ich gewohnt war. Das hat mir in der Tat Respekt eingeflößt.

Ich erkannte, dass diese Menschen nicht nur von irgendwelchen unbestimmten Ideen angeleitet waren, sondern dass sie tatsächlich sehr konkrete Besorgnisse hatten. Sie waren tatsächlich hoch verschuldet durch ihre Hypotheken, sie waren arbeitslos, sie hatten also durchaus sehr konkrete Forderungen.

Timm: Ein paar Schlagzeilen möchte ich mal zitieren: "weg die Macht der Banken", "Kita und Krankenkasse für alle", "vernünftigen Job für jeden", "das geht so nicht" – alles zusammen dürfte als Politik ziemlich schwierig werden. Vermuten Sie denn genug intellektuelle Kraft hinter den Aktivisten, als dass aus dem bloßen Protest wirklich Politik werden könnte?

Greif: Nun, ich glaube, die Forderungen sind sehr viel einfacher und auch konkreter, als es zunächst scheinen mag. Ich war ja dort mehr oder minder zufällig am ersten Tag dabei, ich habe bei dieser ersten Bewegung von Occupy Wall Street mitgemacht, ich habe zum ersten Mal festgestellt, dass die Gruppen sich hinsetzen und erst einmal diskutieren, was man unternehmen und fordern soll. Das war für mich die erste Erfahrung dieser Art, dass man nicht einfach irgendwelche Banner flattern lässt, sondern sich niedersetzt und sagt, was konkret wollen wir.

Und hier kamen eben in der Tat sehr konkrete Forderungen an den Tag, die sich auch benennen lassen, und die waren erstens eine Regulierung der Finanzmärkte, die war nämlich aufgrund von Fehlern der Politik unterblieben; zweitens, dass die Fragen des Geldes von dem Free Speech Act, also von der unbeschränkten Meinungsfreiheit ausgenommen werden sollten; drittens die Forderung nach Konjunkturprogrammen, also die Tatsache, dass nicht mehr die Banken gerettet werden sollten, sondern dass Steuergelder für Arbeitsplatzbeschaffung eingesetzt werden sollten; und viertens eben die Forderung nach einer Reform der Wahlkampffinanzierung, sodass Politiker, um ein Amt zu erlangen, nicht mehr so viel Geld brauchen würden, insbesondere von den Banken nicht.

Timm: Spinnen wir mal: Wenn Occupy eine globale, eine weltweite Partei gründen würde, wäre die Bewegung dann tot?

Greif: Na ja, es könnte sein, dass dadurch die Bewegung sich in etwas verwandelte, was man dann nicht mehr als die Bewegung wiedererkennen könnte. Es wäre natürlich wunderbar, aber zugleich glaube ich, es ist fast unmöglich, zumal wir ja nicht genau wissen, was nun eigentlich an der Wurzel der jetzigen Lage ist. Die Forderungen sind zwar sehr konkret, aber wie die sich dann andocken lassen an konkretes politisches Handeln, in einer Wahl ihren Niederschlag finden, das ist sehr schwer zu sehen, es fehlen einfach die Verbindungsglieder dazwischen – in jedem Fall ist es nicht ausgeschlossen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", und wir sprechen mit dem amerikanischen Publizisten Mark Greif. Derzeit erscheinen gleich mehrere Bücher von ihm auf Deutsch, Mark Greif ist außerdem der Herausgeber der Kulturzeitschrift "n plus one", "n+1", die in sehr kurzer Zeit großes Renommee erwarb als kluges linksliberales Blatt. Mark Greif, "n plus one", "n+1", was ist das überhaupt für ein Titel?

Greif: Ja, das ist schon lustig. Die ursprüngliche Idee war ja, dass wir damals als junge Menschen überall hörten, das Ende der Geschichte sei gekommen, wir seien jetzt in der Nachgeschichte. Fukuyama hatte diese Thesen vertreten, alles sei sozusagen zu einem Endzustand gelangt, es gehe jetzt um eine Art Neumischung dessen, was schon dagewesen sei. Wir glaubten dem nicht, wir waren einfach der Meinung, bei jeder Unternehmung, die bisher geschehen sei, müsste es doch noch einen Schritt weitergehen. Es sei also der Endzustand nicht erreicht, sondern es gehe immer noch ein Schrittchen weiter. Das stand dahinter.

Timm: Kann man denn eine Graswurzelbewegung wie Occupy mit einer Kulturzeitschrift begleiten?

Greif: Nun, das ist ganz lustig zu sehen. Ich würde sagen Ja und Nein. Dort im Zuccotti-Park haben wir ja zunächst einmal die eingeführten linksliberalen Medien gesehen, all diese Magazine – Kunstmagazine, Dokumentarfilmmagazine –, die haben sich dort auch sehen lassen. Wir haben mit denen Kontakt aufgenommen, wir blieben auch in Kontakt über E-Mail, und es waren sozusagen die Köche, die jetzt in der Küche auftauchten und schon wussten, was zu tun ist.

Wir hatten einen kleineren Anspruch, wir waren gut darin, Dinge zu dokumentieren, und dafür wollten wir ein Medium schaffen, eben unseren ersten Versuch, "Occupy! Gazette", eine Art Flugblattzeitung, die wir dann auch kostenlos verteilten. Und der zweite Versuch, das "Occupy Wall Street Journal", das erschien dann und wurde ebenfalls gratis verteilt. Wir hatten dann das Gefühl, wir könnten so eine Art Feuilleton für dieses "Occupy Wall Street Journal" herausbringen, eine Art Ergänzung, in der darüber nachgedacht wird, was jetzt eigentlich geschieht.

So entstand dann "n+1". Da kamen auch Leute aus den eingeführten Medien hinzu, also "Triple Canopy" zum Beispiel oder "Dissent", all diese linksliberalen bekannten Medien. Und ich stellte fest, dass es hier nicht die eigentlichen Macher, die Redakteure waren, sondern ganz häufig die Praktikanten, die gratis arbeiteten. Es waren nicht die großen Namen, die man auch im Fernsehen sieht, sondern es waren die kleinen Zuarbeiter, die hier die Sache trugen.

Und so stellten wir also fest, dass wir dieses "n+1" auch herstellen konnten – nicht durch den großen umfassenden Ansatz, sondern dadurch, dass wir eben die vielen Individuen zueinanderbrachten, die darüber nachdenken konnten, was hier eigentlich geschah und die das Ganze dann zusammenbündeln konnten.

Timm: Linksliberale machen "n+1" – hat Obama eigentlich ein Abo?

Greif: Wir sollten ihm vielleicht ein Frei-Abo zukommen lassen. Ich bin mir aber nicht sicher – ich glaube, unsere Zeitschrift wird ihn niemals so erreichen wie die eingeführten Medien, wie etwa die "New York Times", die sicher auf seinem Schreibtisch landet. Aber ich glaube doch, dass wir in unserem kleinen bescheidenen Rahmen so Platz für die neuen Ideen, für die neuen Auseinandersetzungen liefern, die nach und nach mehr Gewicht gewinnen und dann schließlich auch auf der großen Bühne aufscheinen.

Timm: Mark Greif, thanks for joining us. That was a pleasure.

Greif: Thank you so much!

Timm: Mark Greif war das im "Radiofeuilleton" von Deutschlandradio Kultur, und seine Bücher sind bei Suhrkamp erschienen, und zwar zuletzt "Occupy! Eine Dokumentation" und "Hipster", mit diesem Buch ist er gerade auf Deutschlandreise. Übersetzt hat Johannes Hampel, auch Ihnen herzlichen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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