Erdsiek-Rave: Geschichte der RAF ist im Unterricht präsent

Moderation: Nana Brink · 07.09.2007
Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave hat Äußerungen von Unions-Fraktionchef Volker Kauder zur mangelnden Bedeutung des RAF-Terrors im Schulunterricht kritisiert. Nach ihrem Eindruck werde dieses Thema in den Schulen nicht totgeschwiegen, sondern sei sehr wohl Bestandteil des Geschichtsunterrichts, "gerade jetzt 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst", sagte die SPD-Politikerin im Deutschlandradio Kultur.
Nana Brink: Das Attentat auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut", die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer - 30 Jahre danach beschäftigt uns das alles. Aber was wissen Schüler darüber?

Der RAF-Terror muss Bestandteil des Unterrichts sein, das fordert jetzt der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder. Die Geschichte der Terrororganisation muss in ganz Deutschland fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen sein. Die Unkenntnis bei vielen Schülern darüber sei ein schweres Versäumnis der Bildungspolitik, sagte Kauder der Zeitung "Bild am Sonntag". Im Studio ist jetzt Ute Erdsiek-Rave, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein. Guten Frau, Frau Ministerin!

Ute Erdsiek-Rave: Guten Tag.

Brink: Stimmt es denn, dass die Geschichte des sogenannten Deutschen Herbstes und auch die Geschichte der Roten Armee Fraktion im Unterricht gar nicht vorkommt?

Erdsiek-Rave: Ich weiß nicht, woher Herr Kauder diese Kenntnis nimmt. Es gibt meines Wissens darüber keine Umfragen bei Schülern. Das kann nur ein allgemeiner Eindruck sein, und mein Eindruck ist ein anderer. Das Thema wird nicht totgeschwiegen, sondern es ist Bestandteil des Geschichtsunterrichtes, des Unterrichts in Wirtschaft/Politik, gerade jetzt, 30 Jahre nach dem Deutschen Herbst.

Und mein Eindruck ist, nach Blitzumfragen, die wir gemacht haben, aber auch Umfragen bei unserem Fortbildungsinstitut, bei der Landeszentrale für politische Bildung, dass dies ein Thema ist, was keineswegs totgeschwiegen wird, sondern was im Unterricht auch einen Platz hat.

Brink: Dann ist ja immer die Frage, wie hat das Platz im Unterricht, wie ist das bei Ihnen zum Beispiel in Schleswig-Holstein, ist es denn ein fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts, also im Rahmenlehrplan?

Erdsiek-Rave: Ja, die Lehrpläne sind ja bei uns wie in vielen anderen Ländern auch keine mehr, die bestimmte Themen kanonartig vorschreiben, sondern sie sind kompetenzorientiert. Aber zu dieser Kompetenz - Demokratie leben, verstehen - gehört eben die Kenntnis der Nachkriegsgeschichte. Und sie hat auch Platz im Unterricht deswegen.

Auch in Projekten übrigens. Es ist ja nicht so, dass der lehrplanmäßige Unterricht das Einzige ist, sondern der Besuch von Ausstellungen, das schwerpunktmäßige Beschäftigen mit Projekten hat einen hohen Stellenwert, gerade in den Gymnasien, gerade auch in den Oberstufen.

Brink: Es ist also Thema an den Oberstufen als fester Bestandteil ...

Erdsiek-Rave: Ja, auch in der Sekundarstufe, da wo Wirtschaft/Politik unterrichtet wird, gehört dies zum Themenkanon. Wenn man etwa auf die Lehrerausbildung schaut, das ist ja mein wichtiges Indiz dafür, wie werden da Themen aufgenommen, die später im Unterricht ihren Platz haben sollen, so ist das bei uns ein fester Bestandteil der Referendarausbildung in diesen Fächern, also die Geschichte der RAF, die Geschichte der 68er-Bewegung und ihre Auswirkungen.

Und es ist ein fester Bestandteil des Angebots unserer Landeszentrale für politische Bildung, wird hoch nachgefragt, was die Materialien angeht und auch Veranstaltungen angeht. Das gilt übrigens auch für die Bundeszentrale für politische Bildung.

Im Übrigen sind die dabei, nach meiner Kenntnis, jetzt Material herauszugeben zu diesem 30-Jahre-Anlass. Und ich kann mir vorstellen, dass das sehr nachgefragt wird. Es ist ja auch eine Generationenfrage bei den Lehrern. Die größte Gruppe unter unseren Lehrkräften ist die, die über 50 ist und die im Grunde noch diese Zeitzeugenschaft hat und darüber auch aus eigenem Kenntnisstand reden kann und berichten kann. Also das ist für Schüler schon interessant. Und auch die Elterngeneration betrifft es ja noch.

Brink: Wie ist denn das in anderen Ländern?

Erdsiek-Rave: In anderen Bundesländern, meinen Sie?

Brink: Genau.

Erdsiek-Rave: Das vermag ich nicht zu beurteilen, aber ich habe ja eben abgehoben auf die Bundeszentrale, die ja in allen Ländern Kooperationsangebote hat, nachgefragt wird mit ihren Materialien. Daraus schließe ich jetzt einfach mal, dass dies bundesweit genauso ein Thema ist, wie ich das für mein Bundesland beschrieben habe. Ich kann es mir gar nicht anders vorstellen.

Also die Zeitgeschichte nach 1945 muss fester Bestandteil in den Schulen sein. Also da rennt Herr Kauder wirklich offene Türen ein. Dass das vielleicht hier und da nicht so ausführlich geschieht, wie man sich das wünschen möchte, das mag sein, das kann ich aber bundesweit nicht beurteilen. Mir ist keine Umfrage, keine Erhebung darüber bekannt.

Brink: Ich könnte mir trotzdem vorstellen, dass es Unterschiede zwischen Ost und West gibt, gerade bei dem Thema, was Sie angesprochen haben. Viele Lehrer sind über 50, haben das aus eigenem Erleben noch, das sind aber meistens Lehrer im Westen, im Osten ist es ja eine ganz andere Geschichte, auch der Lehrerschaft.

Erdsiek-Rave: Das kann sein, aber umgekehrt wirft uns sozusagen die Politik aus dem Osten manchmal vor, dass etwa die Geschichte der Stasi oder überhaupt die DDR-Geschichte im Westen nicht ausreichend aufgenommen wird. Da haben wir sicherlich noch Nachholbedarf, im Osten wie im Westen, was die Nachkriegsgeschichte angeht.

Brink: Wir sprechen mit Ute Erdsiek-Rave, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein, über die Frage, ob die Geschichte der RAF im Unterricht eine Rolle spielen soll. Für Sie ist es ja dann kein Thema mehr, dass es eine Rolle spielen muss.

Erdsiek-Rave: Ja, natürlich.

Brink: Warum?

Erdsiek-Rave: Das ist so etwas wie fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses in Deutschland, was die Nachkriegsgeschichte angeht. Dazu gehören auch die Bilder, die jeder dazu im Kopf hat. Und es geht darum, ein Geschichtsbild auch zu vermitteln, was auf der einen Seite auch nicht den leisesten Anschein haben darf, die Taten, diese Verbrechen in irgendeiner Weise zu romantisieren oder nostalgisch möglicherweise sogar noch zu verklären, wie man manchmal in der Berichterstattung so den Eindruck hat. Das wird fast verklärt, diese Geschichte.

Auf der anderen Seite darf es eben auch nicht sein, dass die ganze Studentenbewegung, die ganze 68er-Bewegung sozusagen mit in Haftung genommen wird und kriminalisiert wird im Nachhinein. Also diese Ausrichtung, die wäre mir wichtig, die Einordnung dieser Geschichte. Und dazu kann ein guter sachbezogener Unterricht beitragen.

Brink: Sie haben es ja gerade selber angesprochen, es ist ja manchmal auch eine Frage der Perspektive, und viele Leute standen ja auf unterschiedlichen Seiten. Thomas Krüger, der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung hat gesagt, viele Leute haben in der Auseinandersetzung um die Zukunft der Bundesrepublik auf verschiedenen Fronten und Lagern gestanden. Diese Sache sind eigentlich nie öffentlich reflektiert und ausgetragen worden. Das heißt, man kann sich auch nicht auf eine Perspektive einigen?

Erdsiek-Rave: Ich glaube nicht, dass die breite Generation, dazu gehöre ich ja selbst auch, eine Position hat, die noch unsicher ist in Bezug auf die RAF. Streit gibt es immer wieder dann, wenn man über den Einfluss der 68er auf Pädagogik, auf Bildungspolitik, generell auf Gesellschaftspolitik redet, und darüber streitet, wer ist wofür, für welche Entwicklung möglicherweise verantwortlich.

Das ist eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, die in Deutschland sicherlich noch nicht beendet ist. Aber die Frage der Bewertung der RAF, der Verbrechen, die dort begangen worden sind, die ist ungeteilt, für mein Empfinden und nach meinem Eindruck.

Brink: Was hätten Sie denn für Vorschläge, wie man das in den Unterricht integrieren könnte, also in einen Geschichtsunterricht oder Politikunterricht? Was wären Ihre Vorschläge?

Erdsiek-Rave: Also zunächst gibt es natürlich die Möglichkeit - und das muss immer vorangehen - der Sachaufklärung, der Beschäftigung mit Dokumenten aus dieser Zeit. Da gibt es gute Zusammenfassungen, das Anschauen natürlich von Bildern, von dokumentarischem Material.

Und dann sozusagen eine Bewertung durch die Schüler vornehmen zu lassen, ihre moralische Kompetenz herauszufordern. Nicht gleich etwas vorzugeben, sondern sie selbst auch urteilen lassen, etwa wie das auch in der Republik ja geschehen ist aus Anlass der Freilassungsdiskussion. Das sind moralische Fragen, die da eine Rolle spielen, und die können zur Werteerziehung, auch zur demokratischen Erziehung sehr beitragen.

Brink: Vielen Dank, Ute Erdsiek-Rave, Bildungsministerin in Schleswig-Holstein.